Die Frage nach dem, was mit uns nach dem Tod geschieht, beschäftigt die Menschheit seit jeher. Alexander Batthyány nähert sich dieser Frage aus einer ungewöhnlichen Perspektive: Er forscht über die sogenannte terminale Geistesklarheit, ein Phänomen, bei dem Menschen am Ende ihres Lebens, insbesondere solche mit schwerwiegenden Hirnschädigungen, plötzlich wieder klare Momente erleben.
Was ist terminale Geistesklarheit?
Die terminale Geistesklarheit, auch terminale Luzidität genannt, bezeichnet das unerwartete Wiedererlangen kognitiver Fähigkeiten und des Bewusstseins bei Menschen, die ansonsten unter schweren neurologischen Erkrankungen leiden. Dies betrifft insbesondere Patienten mit Demenz, Alzheimer, Hirntumoren, Schädel-Hirn-Traumata oder kognitiven Beeinträchtigungen nach Schlaganfällen. In diesen Momenten scheinen die Betroffenen für kurze Zeit wieder ganz präsent, erinnern sich an ihre Biografie, erkennen Angehörige und können klar kommunizieren.
Demenz und der Verlust des Ichs
Demenzielle Erkrankungen, wie die Alzheimer-Krankheit, führen zu einem fortschreitenden Verlust von Erinnerungen, Fähigkeiten und der Persönlichkeit. Betroffene verlieren zunehmend ihr Ich-Bewusstsein und vergessen ihre Lebensgeschichte. Dies ist nicht nur für die Patienten selbst, sondern auch für ihre Angehörigen sehr belastend. Oftmals werden sie von der erkrankten Person nicht mehr erkannt, oder die Patienten reagieren aggressiv, weil sie Situationen oder Handlungen nicht mehr verstehen.
Unerwartete Klarheit am Lebensende
Umso überraschender ist es, wenn diese Menschen kurz vor ihrem Tod Momente der Klarheit erleben. Es scheint, als ob sich ihr Gehirn regeneriert hätte und sie für Stunden oder Minuten wieder völlig hergestellt sind. Dieses Phänomen wird als terminale Geistesklarheit bezeichnet.
Forschung zur terminalen Geistesklarheit
Die terminale Geistesklarheit ist ein Phänomen, das lange Zeit wenig wissenschaftliche Beachtung fand. Einer der Pioniere auf diesem Gebiet ist Professor Alexander Batthyány, ein österreichischer Philosoph, Kognitionswissenschaftler und Psychotherapieforscher. Er lehrt unter anderem an der Universität Wien und leitet das Viktor Frankl Institut.
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Alexander Batthyány und "Das Licht der letzten Tage"
Batthyány hat sich seit über 15 Jahren der Erforschung der Psychologie des Sterbe-Erlebens verschrieben, insbesondere der terminalen Geistesklarheit. Im Oktober 2024 veröffentlichte er sein Buch „Das Licht der letzten Tage“, in dem er seine Forschungsergebnisse und zahlreiche Fallstudien aus der Nahtodforschung präsentiert.
Der persönliche Anstoß
Batthyánys Interesse an der terminalen Geistesklarheit wurde durch ein persönliches Erlebnis geweckt. Anfang der 1990er-Jahre, als er Student an der Universität Wien war, litt seine in Genf lebende Großmutter an Demenz. Sie sprach kaum noch und konnte auch einfache Fragen nicht beantworten. Kurz vor ihrem Tod telefonierte Batthyány jedoch noch einmal mit ihr. Zu seinem Erstaunen sprach sie klar und war orientiert. Sie erinnerten sich gemeinsam an schöne Erlebnisse in Batthyánys Kindertagen und bedankten sich füreinander. Dieses Gespräch sollte ihr letztes sein.
Internationale Studien und Fallberichte
Batthyány führte die erste groß angelegte internationale Studie zur terminalen Geistesklarheit durch. Inzwischen liegen ihm und seinem Team über 400 Berichte vor. Diese Berichte stammen von Pflegekräften, Hospizmitarbeitern und Angehörigen, die Zeugen solcher Momente der Klarheit wurden. Die Fallgeschichten stammen von Demenzkranken, aber auch von Patienten mit Hirntumoren, Schädel-Hirn-Traumata und kognitiven Beeinträchtigungen nach Schlaganfällen.
Häufigkeit und Zeitpunkt
Schätzungen zufolge erleben etwa 43 Prozent der Menschen, die eine terminale Geistesklarheit erfahren, diese innerhalb von 24 Stunden vor ihrem Tod, und 84 Prozent innerhalb einer Woche. Eine Studie ergab jedoch, dass auch an fortgeschrittener Demenz Erkrankte schon sechs Monate vor ihrem Tod ein kurzes Aufflackern ihres alten Ichs zeigen können.
Erklärungsansätze und offene Fragen
Die Ursachen für die terminale Geistesklarheit sind bislang ungeklärt. Es gibt verschiedene Erklärungsansätze, die jedoch alle spekulativ sind.
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Wissenschaftliche Erklärungen
Einige Wissenschaftler vermuten, dass es sich um eine Art Spontanheilung des Gehirns handelt. Andere Theorien gehen davon aus, dass die terminale Geistesklarheit durch eine plötzliche Freisetzung von Neurotransmittern oder anderen Substanzen im Gehirn verursacht wird.
Transzendente Erklärungen
Andere Erklärungen gehen über die rein wissenschaftliche Betrachtung hinaus. Einige Forscher sehen in der terminalen Geistesklarheit einen Hinweis darauf, dass das Bewusstsein nicht vollständig an das Gehirn gebunden ist. Sie argumentieren, dass diese Momente der Klarheit eine Möglichkeit für den Sterbenden sein könnten, Abschied zu nehmen, einen Abschluss zu finden und wieder Kontakt zu Familie und Freunden aufzunehmen.
Die Rolle der Angehörigen
Die Anwesenheit von geliebten Menschen oder das Hören von Musik können ebenfalls eine Rolle bei der Auslösung von Momenten der Klarheit spielen. Für Angehörige sind diese Episoden oft mit großer Freude verbunden.
Ethische Aspekte
Die Erforschung der terminalen Geistesklarheit ist auch mit ethischen Fragen verbunden. Einige Forscher scheuen sich, diese Momente der Klarheit näher zu untersuchen, da sie die letzten klaren Momente des Sterbenden nicht stören wollen.
Bedeutung für die Angehörigen
Die plötzliche Klarheit in einer fortgeschrittenen Demenz-Erkrankung kann für Angehörige sowohl tröstlich als auch verstörend sein. Es kann ihnen die Möglichkeit geben, sich von ihrem geliebten Menschen zu verabschieden und letzte Worte auszutauschen. Gleichzeitig kann es jedoch auch schmerzhaft sein, den Verlust der Person, die sie kannten, noch einmal bewusst zu erleben.
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Die Seele und das Bewusstsein
Die terminale Geistesklarheit wirft grundlegende Fragen nach der Natur des Bewusstseins und der Existenz einer Seele auf. Gibt es ein Selbst jenseits der neurobiologischen Aktivität des Gehirns? Was geschieht mit dem Bewusstsein, wenn das Gehirn aufhört zu funktionieren? Diese Fragen sind bis heute nicht beantwortet.
Paradigmenwechsel in der Wissenschaft
Einige Wissenschaftler plädieren für einen Paradigmenwechsel in der Forschung. Sie argumentieren, dass eine rein materialistische Sichtweise der Welt der Komplexität des menschlichen Bewusstseins nicht gerecht wird. Sie fordern eine offene Diskussion über die Möglichkeit, dass das Bewusstsein endlos ist und dass es eine Seele gibt, die auch nach dem Tod des Körpers weiter existiert.
Fazit
Die terminale Geistesklarheit ist ein faszinierendes und rätselhaftes Phänomen, das uns an die Grenzen unseres Wissens erinnert. Es wirft grundlegende Fragen nach der Natur des Bewusstseins, der Seele und dem Leben nach dem Tod auf. Die Forschung auf diesem Gebiet steht noch am Anfang, aber sie hat das Potenzial, unser Verständnis von Leben und Sterben grundlegend zu verändern.
Ein Lichtblick am Ende des Lebens
Die terminale Geistesklarheit kann für Sterbende und ihre Angehörigen ein Lichtblick am Ende des Lebens sein. Sie ermöglicht es, Abschied zu nehmen, Versöhnung zu finden und noch einmal die Verbundenheit mit geliebten Menschen zu spüren. Auch wenn die Ursachen und Mechanismen dieses Phänomens noch nicht vollständig verstanden sind, so ist es doch ein Beweis dafür, dass es im Angesicht des Todes noch Raum für Überraschungen und unerwartete Momente der Klarheit geben kann.
Die Würde des Sterbenden
Die Erforschung der terminalen Geistesklarheit trägt auch dazu bei, die Würde des Sterbenden zu betonen. Sie erinnert uns daran, dass auch Menschen mit schweren neurologischen Erkrankungen bis zum Schluss ein Bewusstsein und eine Persönlichkeit haben, die es zu respektieren gilt.
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