Unser traditionelles Verständnis von Intelligenz, das oft an das Vorhandensein eines Gehirns gebunden ist, wird zunehmend in Frage gestellt. Professor Hans-Günther Döbereiner von der Universität Bremen plädiert dafür, den Intelligenzbegriff auf ein breiteres Spektrum von Lebewesen auszudehnen, einschließlich Tiere, Pflanzen und Pilze. Seine Forschung an Schleimpilzen wirft die Frage auf, ob Lebewesen auch ohne Gehirn und Nervenzellen denken und lernen können.
Die Neubewertung von Intelligenz
Döbereiner argumentiert, dass Intelligenz als die Fähigkeit definiert werden sollte, komplexe Probleme zu lösen. Diese Definition erweitert den Rahmen dessen, was wir traditionell als Intelligenz betrachten, und schließt Organismen ein, die über keine Gehirne oder komplexen Nervensysteme verfügen.
Schleimpilze: Intelligente Problemlöser ohne Gehirn
Ein faszinierendes Beispiel für Intelligenz ohne Gehirn sind Schleimpilze wie Physarum polycephalum. Diese Einzeller, die sich vor etwa 2 Milliarden Jahren von den gemeinsamen Vorfahren von Pilzen, Pflanzen und Tieren abspalteten, sind in der Lage, komplexe Probleme zu lösen und erstaunliche Verhaltensweisen zu zeigen.
- Erinnerungsvermögen: Experimente haben gezeigt, dass Schleimpilze in der Lage sind, sich an Ereignisse zu erinnern. Beispielsweise lernten Schleimpilze, nach einer Reihe von Lichtblitzen, sich auch ohne Lichtreiz zur erwarteten Zeit zusammenzuziehen.
- Effiziente Wegfindung: Physarum kann den kürzesten Weg in einem Labyrinth finden und Transportnetze entwerfen, die realen Bahnnetzen ähneln.
- Wissensübertragung: Verschmelzen zwei Schleimpilze, kann einer dem anderen Gelerntes beibringen.
Diese Fähigkeiten demonstrieren, dass Lernen und Problemlösung nicht unbedingt ein Gehirn oder ein Nervensystem erfordern. Stattdessen nutzen Schleimpilze ihre pulsierenden Adernetzwerke und zellulären Mechanismen, um Informationen zu verarbeiten und Entscheidungen zu treffen.
Tiere ohne Gehirn: Eine vielfältige Liste
Während Schleimpilze faszinierende Beispiele für Intelligenz ohne Gehirn liefern, gibt es auch zahlreiche Tiere, die ohne dieses Organ überleben und sogar komplexe Verhaltensweisen zeigen.
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Nesseltiere: Einfache Nervensysteme, erstaunliche Fähigkeiten
Nesseltiere, zu denen Quallen, Korallen, Seeanemonen und Seemoos gehören, sind eine Gruppe von im Wasser lebenden Tieren, die kein Gehirn besitzen. Stattdessen verfügen sie über ein einfaches Nervennetz, das es ihnen ermöglicht, auf Reize zu reagieren und grundlegende Verhaltensweisen auszuführen.
- Quallen: Diese gallertartigen Kreaturen bestehen zu 99 % aus Wasser und haben alle Aussterbeprozesse überlebt. Obwohl sie kein Gehirn haben, können Quallen lernen und sich an ihre Umgebung anpassen. Studien haben gezeigt, dass Quallen Veränderungen der Lichtintensität wahrnehmen und ihr Schwimmen anpassen können, um Hindernissen auszuweichen.
- Korallen: Diese koloniebildenden Tiere bestehen aus winzigen Polypen und spielen eine wichtige Rolle im Ökosystem. Obwohl sie kein Gehirn haben, können Korallen Nahrung aus dem Wasser filtern und auf Umweltveränderungen reagieren.
- Seeanemonen: Diese sessilen Tiere sehen aus wie Blumen, sind aber tatsächlich Raubtiere. Obwohl sie nur wenige Nervenzellen besitzen, können Seeanemonen lernen und sich an ihre Umgebung gewöhnen. Forschungen haben gezeigt, dass sie ihr Verhalten auf der Grundlage früherer Erfahrungen anpassen und zwischen Klonen und fremden Eindringlingen unterscheiden können.
- Seemoos: Obwohl Moos an Land zu den Pflanzen gehört, besteht Seemoos aus einer Vielzahl von Polypenstöcken und gehört deshalb zu den Nesseltieren.
Weitere Tiere ohne Gehirn
Neben Nesseltieren gibt es noch weitere Tiere, die ohne Gehirn überleben:
- Seesterne: Diese faszinierenden Kreaturen haben kein Gehirn, aber ein Nervensystem und einen Nervenknotenpunkt, der wie eine Art Gehirn in Teilen funktioniert. Sie können sich fortbewegen, Beute fangen und sogar Gliedmaßen regenerieren.
- Chirurgenfisch: Dieses wurmartige Tier hat kein Gehirn, Gesicht oder Skelett, aber ein Nervensystem, das aus einem Rückenmark besteht.
- Meeresschwämme: Diese einfachen Tiere haben keine Gewebe, Organe oder Nervensysteme. Stattdessen filtern sie Wasser durch ihre porösen Körper und leben auf zellulärer Ebene.
- Würmer: Obwohl sie kein Gehirn haben, verfügen Würmer über Ganglien, die Nervenimpulse empfangen und verarbeiten können.
Die Evolution des Gehirns
Die Evolution des Gehirns ist ein langer und komplexer Prozess, der vor über 1,9 Milliarden Jahren mit den ersten chemischen und elektrischen Nachrichten in mehrzelligen Organismen begann. Die ersten Nervensysteme waren Nervennetzwerke ohne zentrale Steuerung, wie sie noch heute bei Nesseltieren zu finden sind. Vor etwa 500 Millionen Jahren entwickelten die ersten Wirbeltiere Grundversionen des Verbindungsmusters, das viele Arten heute haben. Mit dem Auftauchen der vierbeinigen Wirbeltiere wurde das Gehirn komplexer und erhöhte seine Fähigkeit, Informationen über die Umwelt zu verarbeiten und sich an Erfahrungen zu erinnern und daraus zu lernen. Bei den Säugetieren entwickelte sich das Gehirn noch weiter in Größe und Komplexität, mit der Entstehung des Neocortex, der für komplexe Aufgaben wie abstraktes Denken und Planen verantwortlich ist.
Überleben ohne Gehirn: Anpassung und Lernen
Obwohl Tiere ohne Gehirn nicht über die gleichen kognitiven Fähigkeiten wie Tiere mit Gehirn verfügen, sind sie dennoch in der Lage, aus vergangenen Erfahrungen zu lernen und sich an ihre Umgebung anzupassen. Sie nutzen verschiedene Mechanismen, um Informationen zu verarbeiten und Entscheidungen zu treffen, darunter:
- Nervennetze: Diese einfachen Nervensysteme ermöglichen es Tieren, Reize zu erkennen und darauf zu reagieren.
- Nervenknotenpunkte: Diese lokalen Ansammlungen von Nervenzellen können grundlegende Informationen verarbeiten.
- Zelluläre Mechanismen: Schleimpilze nutzen zelluläre Mechanismen, um Informationen zu speichern und Entscheidungen zu treffen.
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