Viele Tiere besitzen kein zentrales Nervensystem (ZNS). Diese Organismen nutzen andere Mechanismen zur Reizverarbeitung und Verhaltenssteuerung. Das Verständnis dieser Mechanismen eröffnet Einblicke in die Evolution von Nervensystemen und die Vielfalt kognitiver Fähigkeiten im Tierreich.
Grundlagen des Nervensystems
Das Nervensystem ist ein komplexes Netzwerk aus Nervenzellen (Neuronen), die miteinander verbunden sind und sich gegenseitig beeinflussen. Es dient der Erzeugung und Weiterleitung elektrischer Erregung als Reaktion auf chemische, mechanische oder elektrische Reize. Das Nervensystem ermöglicht die Wahrnehmung von Reizen, die Informationsverarbeitung und -speicherung sowie die Steuerung von Verhaltensweisen und inneren Organen.
Bei bilateral symmetrischen Tieren besteht das Nervensystem aus einem peripheren Nervensystem (PNS) und einem zentralen Nervensystem (ZNS). Das ZNS umfasst das Gehirn und einen oder zwei Markstränge, die als Hauptleitungen für die Übertragung elektrischer Impulse dienen. Das PNS leitet Informationen vom ZNS zu den Endorganen und umgekehrt von den Sinnesorganen zum ZNS.
Tiere ohne zentrales Nervensystem
Einige Tiergruppen, insbesondere wirbellose Tiere, weisen kein zentrales Nervensystem auf. Dazu gehören unter anderem:
- Nesseltiere (Cnidaria): Nesseltiere wie Quallen und Polypen besitzen ein diffuses Nervennetz, das sich über den gesamten Körper erstreckt. Es gibt keine zentrale Verarbeitungsstelle, wodurch nur eine geringe oder keine zentrale Steuerung des Organismus möglich ist. Bei Quallen findet sich eine Konzentration von Nervenzellen in Form von Ringen im Schirmrand, die Informationen zur Koordination des Körpers übertragen.
- Stachelhäuter (Echinodermata): Seesterne besitzen einen zentralen Nervenring um die Mundscheibe, von dem radiäre Nervenstränge in die Arme ziehen. Auch hier liegt kein zentrales Nervensystem im eigentlichen Sinne vor.
- Einzeller: Obwohl sie keine Nervenzellen oder Nervensysteme besitzen, können Einzeller Reize erkennen und Informationen verarbeiten. Das Darmbakterium E. coli trägt in seiner Außenhülle Chemorezeptoren, die nahrhafte von giftigen Substanzen unterscheiden können. Andere Einzeller wie Halobacterium salinarum orientieren sich mit Hilfe lichtempfindlicher Pigmente.
- Schleimpilze: Schleimpilze sind Einzeller, die sich zu vielkernigen Riesenzellen zusammenschließen können. Sie zeigen erstaunliche Fähigkeiten zur Problemlösung, wie das Finden des kürzesten Weges in einem Labyrinth. Diese Fähigkeiten beruhen auf komplexen zellulären Mechanismen anstelle eines Nervensystems.
- Schwämme (Porifera): Schwämme sind einfache, sessile Tiere ohne Nervensystem, Muskeln oder Organe. Sie filtern Wasser, um Nahrung zu erhalten, und koordinieren ihre Aktivitäten durch zelluläre Signalwege.
Lernfähigkeit ohne Gehirn: Das Beispiel der Würfelquallen
Ein bemerkenswertes Beispiel für Lernfähigkeit ohne zentrales Nervensystem sind Mangroven-Würfelquallen (Tripedalia cystophora). Diese kleinen Quallen leben in Mangrovensümpfen und navigieren in trübem Wasser zwischen den Wurzeln der Mangrovenbäume.
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Forschungen haben gezeigt, dass Würfelquallen lernen können, Hindernissen auszuweichen. In Experimenten wurden die Quallen in einen Tank mit grauen und weißen Farbstreifen gesetzt, die Pflanzenwurzeln imitierten. Anfangs stießen die Quallen häufig mit den grauen Streifen zusammen. Nach kurzer Zeit lernten sie jedoch, einen größeren Abstand zu den Streifen einzuhalten und Kollisionen zu vermeiden.
Um den Mechanismus hinter dieser Lernfähigkeit zu verstehen, isolierten die Forscher die Sinnesorgane der Quallen, die Rhopalien. Diese keulenförmigen Ausstülpungen enthalten Lichtsensoren und Organe zur Wahrnehmung der Schwerkraft. Die Rhopalien sind durch Nerven verbunden und erzeugen elektrische Signale, die die Fortbewegung des Tieres steuern.
Die Experimente zeigten, dass die Rhopalien auf graue Farbstreifen reagierten, die sich bewegten, als ob das Tier darauf zuschwimmen würde. Wenn die Streifen einen hellen Grauton hatten, reagierten die Rhopalien nicht. Verabreichte das Forschungsteam aber zusätzlich elektrische Impulse, wie sie beim Aufprall einer Qualle auf ein Hemmnis entstehen, änderte sich das. Die Sinneskolben produzierten dann Signale, die zu einer Ausweichbewegung des Tiers führen.
Diese Ergebnisse deuten darauf hin, dass Würfelquallen in der Lage sind, aus Erfahrungen zu lernen und ihr Verhalten anzupassen, obwohl sie kein zentrales Gehirn besitzen. Die Rhopalien fungieren als dezentrale Verarbeitungseinheiten, die Informationen sammeln und Entscheidungen treffen.
Schmerzempfinden bei Tieren ohne zentrales Nervensystem
Die Frage, ob Tiere ohne zentrales Nervensystem Schmerzen empfinden können, ist komplex und umstritten. Traditionell wurde angenommen, dass ein Gehirn für die Schmerzwahrnehmung notwendig ist. Neuere Forschungen deuten jedoch darauf hin, dass auch Tiere mit einfachen Nervensystemen oder ohne Nervensysteme in der Lage sein könnten, Schmerz oder Unbehagen zu empfinden.
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Einige Argumente für ein Schmerzempfinden bei wirbellosen Tieren sind:
- Vorhandensein von Nozizeptoren: Nozizeptoren sind Schmerzrezeptoren, die in verschiedenen Geweben des Körpers vorkommen. Sie wurden bei Ringelwürmern, Weichtieren und Fadenwürmern nachgewiesen.
- Verhaltensreaktionen auf schädliche Reize: Tiere zeigen Abwehr- und Schutzreaktionen auf Schädigungen, wie Zuckungen, Hinken, Reiben oder Fluchtversuche.
- Reaktion auf Schmerzmittel: Die Reaktion auf schädliche Reize kann sich nach Gabe von Schmerzmitteln verringern.
Es ist jedoch wichtig zu beachten, dass diese Reaktionen nicht unbedingt ein Bewusstsein für Schmerz implizieren. Es ist möglich, dass es sich lediglich um Reflexe oder physiologische Reaktionen handelt.
Die Forschung zum Schmerzempfinden bei wirbellosen Tieren ist noch nicht abgeschlossen. Es ist jedoch wichtig, die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, dass diese Tiere in der Lage sind, Schmerz oder Unbehagen zu empfinden, und entsprechend zu handeln.
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