Tilman Jens' Buch "Demenz: Abschied von meinem Vater" ist ein Werk, das polarisiert. Es ist die Chronik eines Sohnes, der sich von seinem dementen Vater, dem bekannten Schriftsteller und Rhetoriker Walter Jens, verabschiedet. Das Buch schildert den schmerzhaften Prozess, wie Walter Jens' Gedächtnis schwindet, seine Sprache versiegt und er zu einem hilflosen Menschen wird. Tilman Jens scheut sich nicht, die Grausamkeit der Krankheit und den quälenden Weg ins Dämmern zu beschreiben.
Die Krankheit als schonungslose Realität
Tilman Jens' Buch ist eine Chronik des Abschieds von seinem Vater, Walter Jens. Walter Jens, einst Schriftsteller, Philosoph und Rhetoriker und eine der klügsten Köpfe Deutschlands, leidet seit einigen Jahren an Altersdemenz. Sein Geist ist umnachtet, sein Gedächtnis taub, seine Sprache versiegt, seine Blicke sind hohl und verloren. Tilman Jens' Buch ist die Chronik eines Abschieds des Sohnes vom geliebten und bewunderten Vater. Schmerzhaft konkret erzählt er von der Entdeckung eines ganz anderen, hilflosen Menschen, von der Grausamkeit der Krankheit, von einem quälenden langen Weg in die letzte Stufe des Dämmerns. Tilman Jens beschreibt in seinem Buch schonungslos den Alltag mit seinem dementen Vater. Er erzählt von nächtlichen Irrfahrten, von der Notwendigkeit, ihn zu windeln, und von Ausbrüchen von Wut und Verzweiflung. Er scheut sich nicht, intime Details preiszugeben, wie das Babyfon unter dem Bett seines Vaters, das jede Regung ins Schlafzimmer der Mutter überträgt, oder die blauen Flecken, die seine Mutter von den Schlägen des Vaters davonträgt.
Kritik und Kontroversen
Das Buch löste heftige Kontroversen und zum Teil hasserfüllte Kritiken aus. Einige Rezensenten warfen Tilman Jens "ehrlose Entblößung seines wehrlosen Vaters" vor. Iris Radisch empfindet das Buch als empörend und kritisiert die Tatsache, dass Jens jr. seine voyeuristischen Überlegungen von der Bild-Zeitung vorabdrucken ließ. Andere sahen darin einen Akt der Pietätlosigkeit und einen Versuch des Sohnes, sich auf Kosten seines berühmten Vaters zu profilieren. Alex Rühle kritisiert, dass es, zusätzlich zum schon in der Zeitungsartikelfassung absurden Versuch, den Gedächtnisverlust mit der von Jens stets abgestrittenen NSDAP-Mitgliedschaft zu verbinden, vor allem "Kitschpfützen" und "Kolportage" gebe.
Die NSDAP-Mitgliedschaft als Auslöser der Demenz?
Ein besonders umstrittener Punkt ist Tilman Jens' These, dass die Demenz seines Vaters eine Folge der Verdrängung seiner NSDAP-Mitgliedschaft sei. Walter Jens hatte diese Mitgliedschaft jahrzehntelang verschwiegen und erst 2003 wurde sie öffentlich bekannt. Tilman Jens vermutet, dass die Scham über diese Vergangenheit und die Angst vor Entdeckung die Krankheit seines Vaters ausgelöst haben könnten. Diese These wird von vielen Seiten als "abwegig" und "fern von jeder medizinischen Vernunft" kritisiert. Der Demenz-Spezialist Siegfried Weyerer vom Zentralinstitut für Seelische Gesundheit in Mannheim sagt, Jens' These von der Demenz als Folge von Verdrängung sei weder medizinisch haltbar noch wissenschaftlich zu begründen. Iris Radisch findet Jens' Kernthese, dass nämlich die Demenz des Vaters aus Scham über die jahrzehntelange Verheimlichung seiner NSDAP-Mitgliedschaft quasi als ”historisch-politischer” Reflex entstanden sei, so ”abwegig” und entfernt von jeder medizinischen Vernuft, dass sie die Idee fast schon ”literarisch” nennen möchte. Tilman Jens selbst betont, dass er nicht von einem "Auslöser" sprechen würde, sondern von einem möglichen Zusammenhang. Er verweist darauf, dass sein Vater sich nach dem Bekanntwerden der NSDAP-Mitgliedschaft stark verändert habe und dass es einen Zusammenhang zwischen Stress, Depressionen und Demenz gebe.
Sterbehilfe: Ein schwieriges Thema
Ein weiteres zentrales Thema des Buches ist die Frage der Sterbehilfe. Walter Jens hatte sich zu Lebzeiten mehrfach für das Recht auf einen selbstbestimmten Tod ausgesprochen. In einem alten Video aus dem Jahr 2001 spricht er mit seinem Sohn über die Möglichkeit der Euthanasie und betont, dass er nicht "gestorben werden", sondern selbstbestimmt sterben wolle. Tilman Jens schildert die Zerrissenheit seiner Familie angesichts der fortschreitenden Demenz seines Vaters. Sie fragten sich, ob es nicht im Sinne von Walter Jens wäre, seinem Leben ein Ende zu setzen. Doch in lichten Momenten äußert Walter Jens auch seine Freude am Leben. Tilman Jens beschreibt eine Szene, in der sein Vater kurz nach der Forderung, durch aktive Sterbehilfe von seiner Krankheit erlöst zu werden, den Satz sagt: "Aber schön ist es doch." Diese Ambivalenz macht die Entscheidung für oder gegen Sterbehilfe unmöglich.
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Ein persönlicher Abschied
Trotz aller Kontroversen ist "Demenz: Abschied von meinem Vater" vor allem ein sehr persönliches Buch. Tilman Jens beschreibt seine Kindheit und Jugend im Schatten seines berühmten Vaters. Er erzählt von den schwierigen Seiten von Walter Jens, seinem Arbeitszwang, seiner Sparsamkeit und seiner Dominanz in der Familie. Gleichzeitig betont er aber auch die prägende Rolle seines Vaters für sein Leben. Er beschreibt ihn als den "Mann seines Lebens", der ihn in seiner Liebe zur Sprache und zum Streit beeinflusst hat. Am Ende des Buches steht die Erkenntnis, dass der Vater, den er kannte, nicht mehr existiert. Doch Tilman Jens findet auch positive Aspekte in der neuen Situation. Er erlebt einen "kreatürlichen Vater", der ihm auf eine neue Art und Weise nahe ist. Er beobachtet, wie sein Vater sich an einfachen Dingen wie dem Füttern von Kaninchen erfreut und wie er durch eine neue Pflegerin einen neuen Lebensinhalt findet.
Das Tabu Demenz brechen
Tilman Jens' Buch ist ein wichtiger Beitrag zur Enttabuisierung des Themas Demenz. Er zeigt schonungslos die Realität der Krankheit und die Herausforderungen, vor die sie Betroffene und Angehörige stellt. Er fordert einen offeneren Umgang mit Demenz und plädiert für eine bessere Versorgung von Demenzkranken. Er beschreibt, wie sich das Leben seines Vaters durch die neue Pflegerin von Grund auf ändert und fordert, dass diese Art der Privatpflege in Deutschland zum Standard wird.
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