Tramadol bei Polyneuropathie: Wirkung, Nebenwirkungen und Behandlungsansätze

Polyneuropathie ist eine Erkrankung, die durch Schädigung peripherer Nerven gekennzeichnet ist und zu einer Vielzahl von Symptomen wie Schmerzen, Taubheit, Kribbeln und Muskelschwäche führen kann. Die Behandlung von Polyneuropathie umfasst sowohl kausale als auch symptomatische Ansätze. Während die kausale Therapie darauf abzielt, die zugrunde liegende Ursache der Polyneuropathie zu behandeln, konzentriert sich die symptomatische Therapie auf die Linderung der Beschwerden.

Symptomatische Therapie neuropathischer Schmerzen bei Polyneuropathie

Etwa die Hälfte aller Polyneuropathien geht mit Schmerzen einher, die als neuropathische Schmerzen bezeichnet werden. Diese Schmerzen entstehen direkt durch eine Schädigung des somatosensorischen Systems. Nach einer Nervenschädigung kommt es zu Veränderungen in den betroffenen und umliegenden Nervenzellen, was zu einer erhöhten Erregbarkeit der primären Afferenzen (periphere Sensibilisierung) und einer verstärkten Erregbarkeit der multirezeptiven Neurone im Rückenmark (zentrale Sensibilisierung) führt.

Verschiedene medikamentöse Ansätze stehen zur Verfügung, um neuropathische Schmerzen zu lindern, die auf die zugrunde liegenden pathophysiologischen Mechanismen abzielen. Es ist jedoch wichtig zu beachten, dass mit den derzeit verfügbaren Medikamenten in der Regel keine vollständige Schmerzfreiheit erreicht werden kann. Die oralen Medikamente sollten langsam aufdosiert und je nach Nebenwirkungen individuell titriert werden. Patienten sollten darüber aufgeklärt werden, dass die analgetische Wirkung zeitverzögert eintritt.

Die wichtigsten Substanzen zur Behandlung neuropathischer Schmerzen bei Polyneuropathie sind in der aktuellen S2-Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN) aufgeführt. Die Leitlinie empfiehlt die Antikonvulsiva Gabapentin und Pregabalin sowie trizyklische Antidepressiva (TCA) und Duloxetin als Mittel der ersten Wahl.

Medikamentöse Therapieoptionen

Antikonvulsiva: Gabapentin und Pregabalin

Gabapentin und Pregabalin werden gemäß der aktuellen S2-Leitlinie der DGN als Mittel der ersten Wahl zur Behandlung chronischer neuropathischer Schmerzen eingesetzt, unabhängig von der Ätiologie. Eine Metaanalyse der Neuropathic Pain Special Interest Group (NeuPSIG) unterstützt ebenfalls den Einsatz von Gabapentin und Pregabalin. Die "Number Needed to Treat" (NNT) beträgt 6,3-8,3 für Gabapentin und 7,7 für Pregabalin.

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Häufige Nebenwirkungen unter der Therapie sind vor allem zentralnervöse Effekte wie Schwindel, Schläfrigkeit, Konzentrations- und Gleichgewichtsstörungen, die nicht selten zum Therapieabbruch führen.

Natriumkanalblocker: Carbamazepin, Oxcarbazepin, Lamotrigin und Topiramat

Carbamazepin, Oxcarbazepin, Lamotrigin und Topiramat blockieren Natriumkanäle peripherer Nozizeptorafferenzen. Aufgrund der geringen Evidenz und häufiger Nebenwirkungen werden Carbamazepin und Oxcarbazepin laut Leitlinie nicht zur Behandlung von schmerzhaften Polyneuropathien empfohlen. Bei Versagen von Gabapentin und Pregabalin kann im Einzelfall ein Off-label-Versuch erfolgen, vor allem bei einschießenden Schmerzattacken.

Das Nebenwirkungsprofil von Carbamazepin und Oxcarbazepin ist ungünstig und umfasst kognitive Störungen, Benommenheit, Müdigkeit, Schwindel, Ataxie und gastrointestinale Störungen, aber auch Hyponatriämie, Blutbildveränderungen, Leberschädigung oder allergische Hautreaktionen. Topiramat und Lamotrigin sollten im Allgemeinen nicht zur Therapie neuropathischer Schmerzen eingesetzt werden. Lamotrigin kann im Einzelfall (bei Human-immunodeficiency-virus[HIV]-Neuropathie) erwogen werden, sollte jedoch wegen Nebenwirkungen (allergische Hautreaktionen) vorsichtig aufdosiert werden. Lacosamid wirkt ebenfalls über Blockade von Natriumkanälen. In der aktuellen Leitlinie wird der generelle Einsatz bei unzureichender Datenlage nicht empfohlen.

Selektive Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer (SSNRI): Duloxetin und Venlafaxin

Die selektiven Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer Duloxetin und Venlafaxin führen über eine Inhibition der Wiederaufnahme von Noradrenalin und Serotonin zu einer Verstärkung der endogenen deszendierenden Schmerzhemmung. Laut Leitlinie sollten TCA als Mittel der ersten Wahl eingesetzt werden. Insbesondere bei begleitenden Schlafstörungen kann sich Amitriptylin aufgrund seines sedierenden Effekts günstig auswirken. Bei der DPN ist Amitriptylin einem Placebo deutlich überlegen (NNT 5,1).

Aufgrund der nichtselektiven Bindung sind Nebenwirkungen häufig. Bei möglichen kardialen Komplikationen wird vor Therapiebeginn die Ableitung eines Elektrokardiogramms ab dem 65. Lebensjahr empfohlen. Duloxetin ist in Deutschland als Mittel der ersten Wahl für die Behandlung der schmerzhaften DPN zugelassen. Die NNT für eine mindestens 50 %ige Schmerzreduktion liegt bei 5,8 für 60 mg/Tag bzw. 5,7 für 120 mg. Für eine Dosis unter 60 mg/Tag konnte kein wirksamer Effekt gezeigt werden. Venlafaxin hat in Deutschland keine Zulassung für die Behandlung neuropathischer Schmerzen, es kann jedoch in Einzelfällen „off label“ eingesetzt werden. In einem Review mit 13 Studien, darunter 8 zur Polyneuropathie, konnte eine signifikante Schmerzreduktion ab einer Dosis von 150 mg gezeigt werden. Zu Therapiebeginn treten häufig Übelkeit und Erbrechen auf, diese sind jedoch im Verlauf oft reversibel. Aufgrund potenzieller Blutdrucksteigerung werden regelmäßige Kontrollen empfohlen.

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Topische Therapie: Capsaicinpflaster und Lidocainpflaster

Ein Vorteil der Topika ist die geringe systemische Nebenwirkungsrate und somit gute Verträglichkeit, sodass der Einsatz vor allem für ältere Patienten empfohlen wird. Nach Nervenschädigung kommt es unter anderem zu einer Transient-receptor-potential-vanilloid-1(TRPV1)-Überexpression auf intakten Nervenfasern. Vom Capsaicinpflaster wird Capsaicin in die Haut freigesetzt und bindet selektiv TRPV1-Rezeptoren auf nozizeptiven Endigungen. Dies resultiert initial in einer Übererregbarkeit der Nervenfasern mit Brennen, Hyperalgesie, Allodynie und Rötung durch Freisetzung vasoaktiver Substanzen.

Allgemein werden Capsaicinpflaster hinsichtlich ihres schmerzlindernden Effekts in verschiedenen Übersichtsarbeiten als vergleichbar zu anderen Therapieansätzen bewertet. Die S2-Leitlinie empfiehlt das Hochdosispflaster als zweite Wahl zur Therapie neuropathischer Schmerzen, bei lokalisierten Schmerzen auch als Primärtherapie. Generell sollte die Therapie so früh wie möglich im Krankheitsverlauf begonnen werden. Unter der Therapie können lokale Hautreaktionen wie Rötung, Brennen und Juckreiz auftreten.

Lidocainpflaster wirken als Lokalanästhetika über Blockade spannungsabhängiger Natriumkanäle auf Nozizeptorafferenzen. Zudem bildet das Pflaster eine mechanische Barriere gegenüber äußeren Reizen mit Schutz vor Allodynie und Hyperalgesie. Laut Leitlinie können Lidocainpflaster in der Therapie lokalisierter neuropathischer Schmerzen als zweite Wahl eingesetzt werden (bei postherpetischer Neuralgie gegebenenfalls als erste Wahl), bei allen anderen Neuropathien „off label“. In mehreren offenen klinischen Studien konnte eine positive Wirkung von Lidocainpflastern bei DPN gezeigt werden, sodass der Einsatz grundsätzlich empfohlen wird. Da nur etwa 3 % des Lidocains systemisch absorbiert werden, sind systemische Nebenwirkungen selten.

Botulinumtoxin (BTX)

Der schmerzlindernde Effekt intrakutaner Botulinumtoxin(BTX)-Injektionen entsteht durch verminderte Freisetzung proinflammatorischer Substanzen, Deaktivierung von Natriumkanälen und verminderten axonalen Transport mit Verhinderung einer peripheren und zentralen Sensibilisierung. In einer Metaanalyse zweier Studien zur Behandlung der DPN wurde eine signifikante Schmerzreduktion gezeigt. Insgesamt wurde aufgrund der unzureichenden Datenlage eine Level-B-Empfehlung für BTX bei DPN ausgesprochen.

Opioide: Tramadol und Tapentadol

Opioide wirken als Agonisten an µ‑Opioidrezeptoren im zentralen Nervensystem. Einige Opioide wirken zusätzlich auf die endogene Schmerzmodulation. Je nach Wirksamkeit werden niederpotente und hochpotente Opioide unterschieden, wobei jeweils die Morphinäquivalenzdosis angegeben wird. Neben zentralnervösen Nebenwirkungen (Schwindel, Müdigkeit, Konzentrationsstörungen) und Obstipation, kann es im Verlauf auch zu einer Toleranzentwicklung kommen.

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Der Einsatz von Opioiden mit dualem Wirkmechanismus liefert einen zusätzlichen analgetischen Nutzen. Das niederpotente Tramadol hemmt neben seiner Wirkung am µ‑Rezeptor die Serotonin- und Noradrenalin-Wiederaufnahme. Tapentadol wirkt zusätzlich über eine Noradrenalinwiederaufnahmehemmung. In einer Analyse zweier placebokontrollierter Studien zur Behandlung der DPN konnte durch den Einsatz von Tapentadol eine signifikante Schmerzlinderung erzielt werden. In der NeuPSIG-Leitlinie werden niederpotente Opioide als zweite Wahl und hochpotente Opioide als dritte Wahl empfohlen.

Tramadol im Detail

Tramadol ist ein zentral wirksames, so genanntes „atypisches“ Opioid-Analgetikum, das bei mäßig starken bis starken Schmerzen eingesetzt wird. Es wirkt agonistisch an verschiedenen Opioidrezeptoren mit höchster Affinität zum µ-Rezeptor. Darüber hinaus hemmt es die neuronale Wiederaufnahme von Noradrenalin und Serotonin und verstärkt die Freisetzung von Serotonin. Im Tierexperiment ist Tramadol sowohl antinozizeptiv als auch „antidepressiv“ wirksam, vermutlich über die Modulation der 5-HT1A-Rezeptor-Aktivität.

Die maximale Plasmakonzentration wird 1,2 Stunden nach oraler Einnahme erreicht. Die Eliminationshalbwertszeit beträgt 6 Stunden, kann aber bei Patienten über 75 Jahren auf etwa 8 Stunden verlängert sein. Neben anderen Metaboliten ist vor allem das O-Desmethyltramadol pharmakologisch aktiv. Seine Halbwertszeit beträgt 7,9 Stunden. Tramadol und sein aktiver Metabolit werden über die Cytochrom-P450-Isoenzyme CYP3A4 und CYP2D6 metabolisiert und fast vollständig renal ausgeschieden.

Anwendung und Dosierung von Tramadol bei Polyneuropathie

Tramadol gehört zu den schwächeren Opioiden und wird manchmal bei starken neuropathischen Schmerzen im Rahmen einer Polyneuropathie eingesetzt, wenn andere Medikamente wie Antidepressiva oder Antiepileptika nicht ausreichen. Es kann Schmerzen lindern, bessert jedoch nicht das Kribbeln oder Taubheitsgefühle.

Tramadol wird als Tropfen, Kapseln, Retardtabletten oder Injektion verabreicht. Bei Polyneuropathien erfolgt die Einnahme meist in Tablettenform. Die Behandlung beginnt mit einer niedrigen Dosis von 50 mg ein- bis zweimal täglich. Je nach Bedarf kann die Dosis gesteigert werden, üblich sind 100 bis 200 mg pro Tag, aufgeteilt in 2-3 Einzeldosen. Eine maximale Tagesdosis von 400 mg sollte nicht überschritten werden.

Besonderheiten von Tramadol

Tramadol wirkt sowohl über die Bindung an Opioidrezeptoren als auch über eine Beeinflussung von Botenstoffen im Nervensystem (Serotonin und Noradrenalin). Dadurch kann es bei Nervenschmerzen etwas besser wirken als klassische Opioide. Allerdings besteht das Risiko für Abhängigkeit bei längerfristiger Einnahme.

Wichtige Wechselwirkungen von Tramadol

Tramadol darf nicht zusammen mit bestimmten Antidepressiva (SSRI, SNRI, MAO-Hemmer) eingenommen werden, da es sonst zu einem gefährlichen Serotoninsyndrom kommen kann. Auch Beruhigungs- und Schlafmittel sowie Alkohol verstärken die dämpfende Wirkung.

Ein Fallbericht beschreibt eine 83-jährige Patientin, die unter einer Kombinationsbehandlung von Duloxetin und Tramadol eine dysarthrische Sprechstörung entwickelt hat. Weitere Symptome eines Serotonin-Syndroms lagen nicht vor. Die jeweiligen Monotherapien waren gut vertragen worden.

Kontraindikationen von Tramadol

Nicht eingesetzt werden darf Tramadol bei schweren Atemwegserkrankungen, Epilepsie mit unzureichender Anfallskontrolle oder bekannter Überempfindlichkeit gegen den Wirkstoff.

Nebenwirkungen von Tramadol

Zu den typischen Nebenwirkungen gehören Müdigkeit, Schwindel, Benommenheit, Gewichtszunahme, Ödeme und verschwommenes Sehen.

Warnzeichen bei der Einnahme von Tramadol

Bitte kontaktieren Sie Ihren Arzt, wenn Sie unter Tramadol anhaltende Übelkeit, Schwindel, Verwirrtheit, Krampfanfälle oder ungewöhnliche Stimmungsschwankungen bemerken.

Zusammenfassung zu Tramadol

Tramadol kann bei starken neuropathischen Schmerzen eine wirksame Option sein, wenn andere Medikamente nicht ausreichen. Aufgrund möglicher Nebenwirkungen und Abhängigkeitsrisiken sollte es jedoch nur kurzfristig und unter enger ärztlicher Kontrolle eingesetzt werden.

Weitere Therapieansätze

Neue Therapeutika

Aufgrund der unzureichenden Schmerzlinderung und häufiger Nebenwirkungen unter den derzeit verfügbaren Medikamenten werden in aktuellen Studien neue Therapeutika zur Behandlung neuropathischer Schmerzen untersucht. Cannabinoide wirken als Agonisten am Cannabinoidrezeptor Typ 1 (CB1). Die Hauptkomponenten sind Tetrahydrocannabinol und Cannabidiol. Ein neuer vielversprechender Ansatz zur Therapie ist das „gene silencing“ mutierter Gene. Kürzlich wurden mit Inotersen und Patisiran zwei Medikamente zur Behandlung der hereditären Transthyretin-Amyloidose mit Polyneuropathie zugelassen, die über ein genetisches Knock-down des betroffenen Proteins Transthyretin wirken.

Physiotherapie und Ergotherapie

Da Polyneuropathien häufig mit einer sensiblen Ataxie und motorischen Ausfällen einhergehen, sollte die medikamentöse Therapie um physiotherapeutische Maßnahmen ergänzt werden. Ziele sind unter anderem die Verbesserung von Stand, Gang und Gleichgewicht sowie ein gezieltes Training der Muskelkraft. Zur Verbesserung der Feinmotorik können ergotherapeutische Maßnahmen eingesetzt werden.

Behandlung autonomer Funktionsstörungen

Neben sensiblen und motorischen Symptomen können auch autonome Funktionsstörungen, wie eine orthostatische Hypotonie oder gastrointestinale Störungen, auftreten, die eine gezielte Therapie erfordern.

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