Übererregtes Nervensystem: Symptome, Ursachen und Behandlung

Das menschliche Nervensystem ist ein komplexes Netzwerk, das lebenswichtige Körperfunktionen steuert. Ein übererregtes Nervensystem, auch bekannt als Hyperarousal, kann zu einer Vielzahl von belastenden Symptomen führen. Dieser Artikel beleuchtet die Symptome, Ursachen und Behandlungsmöglichkeiten eines übererregten Nervensystems.

Was ist ein übererregtes Nervensystem?

Ein übererregtes Nervensystem, auch Hyperarousal genannt, beschreibt einen Zustand anhaltender innerer Anspannung und Alarmbereitschaft. Betroffene fühlen sich, als ob ihr Körper ständig in Alarmbereitschaft ist, selbst in sicheren Situationen. Das autonome Nervensystem befindet sich in einem dauerhaften Stressmodus, auch wenn keine reale Gefahr besteht.

Das vegetative Nervensystem

Das vegetative Nervensystem, auch autonomes Nervensystem genannt, reguliert lebenswichtige Körperfunktionen, die nicht bewusst steuerbar sind. Dazu gehören Herzfrequenz, Blutdruck, Atmung, Verdauung, Stoffwechsel, Körpertemperatur und sexuelle Reaktionen. Es besteht aus zwei Hauptkomponenten:

  • Sympathikus: Aktiviert den Körper in Stresssituationen und steigert die körperliche Leistungsfähigkeit (Kampf- oder Fluchtreaktion).
  • Parasympathikus: Wirkt in Entspannungsphasen, senkt den Blutdruck, kurbelt den Stoffwechsel an, fördert die Verdauung und unterstützt die Regeneration des Körpers.

Ein Ungleichgewicht zwischen Sympathikus und Parasympathikus kann zu einer vegetativen Dystonie führen, einer Störung des vegetativen Nervensystems.

Symptome eines übererregten Nervensystems

Ein übererregtes Nervensystem kann sich vielfältig äußern. Zu den häufigsten Symptomen gehören:

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  • Herzbeschwerden: Herzstechen, Herzklopfen oder Herzrasen
  • Schwindel: Ohnmacht beim Aufstehen
  • Schweißausbrüche: Übermäßiges oder mangelndes Schwitzen
  • Sexuelle Funktionsstörungen: Beim Mann
  • Blasenprobleme: Probleme beim Entleeren der Blase
  • Verdauungsbeschwerden: Verstopfung, Durchfall, Magenlähmung
  • Schluckbeschwerden
  • Innere Unruhe
  • Atembeschwerden
  • Stimmungsschwankungen
  • Reizbarkeit
  • Schlafstörungen

Die Vielfalt an unspezifischen Symptomen erschwert oft die Diagnose eines übererregten Nervensystems. Die Diagnose ergibt sich in der Regel durch Ausschluss anderer Erkrankungen. Bei anhaltenden Symptomen sollte ein Arzt konsultiert werden, um ernsthafte Erkrankungen auszuschließen.

Ursachen eines übererregten Nervensystems

Für eine vegetative Dystonie gibt es oft keine konkrete Ursache. Es können sowohl körperliche als auch psychische Faktoren eine Rolle spielen, oft in Kombination.

Körperliche Ursachen

  • Diabetes mellitus (Typ 2): Kann das autonome Nervensystem schädigen.
  • Neurologische Erkrankungen: Parkinson, Erkrankungen des peripheren Nervensystems.
  • Seltenere Ursachen: Verletzungen des Rückenmarks, Medikamente, Virusinfektionen.

Psychische Ursachen

  • Stress, Sorgen, Überforderung: Psychologische und soziale Faktoren können sich auf das vegetative Nervensystem auswirken.
  • Ängste: Beschwerden können weitere Ängste auslösen und die Symptome verschlimmern.
  • Traumata: Ein Trauma hinterlässt nicht nur seelische Spuren, sondern prägt auch den Körper. Hyperarousal ist ein zentrales Symptom der Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS).

Diagnose eines übererregten Nervensystems

Die Diagnose eines übererregten Nervensystems erfolgt in mehreren Schritten:

  1. Anamnese: Der Arzt erfragt die Krankengeschichte, Vorerkrankungen, Medikamenteneinnahme, seit wann die Beschwerden bestehen, in welchen Situationen sie auftreten und ob es noch andere belastende Symptome gibt. Auch die jeweilige Lebenssituation sowie der Alkohol- und Drogenkonsum des Patienten liefern in der Regel wichtige Hinweise.
  2. Körperliche Untersuchung: Eine körperliche Untersuchung gibt bereits Aufschluss über manche Symptome. Bei einem Patienten mit häufigen Magen-Darm-Problemen tastet der Arzt beispielsweise die Bauchdecke ab. Bestehen Beschwerden in der Herzgegend, horcht er die Herztöne mit einem Stethoskop ab.
  3. Puls- und Blutdruckmessung: Eine Puls- und Blutdruckmessung ist besonders bei Kreislaufbeschwerden aufschlussreich. Schwankungen im Tagesverlauf lassen sich gegebenenfalls vom Patienten selbst mit einem manuellen Blutdruckmessgerät prüfen.
  4. Blutuntersuchung: Mit einer Blutuntersuchung lässt sich zum Beispiel überprüfen, ob Entzündungsprozesse im Körper stattfinden, ob verschiedene Nährstoffmängel vorliegen oder ob ein Überschuss beziehungsweise Mangel an bestimmten Hormonen besteht. So lassen sich mögliche körperliche Ursachen wie eine Schilddrüsenfehlfunktion oder ein Eisenmangel ausschließen.
  5. Spezielle Untersuchungen: Wenn eine körperliche Erkrankung noch nicht auszuschließen ist und die Symptome über längere Zeit bestehen, folgen je nach Symptomatik spezielle Untersuchungen. Beispiele sind eine Elektrokardiografie (EKG), eine Stuhl- oder Urinuntersuchung sowie bildgebende Verfahren wie Ultraschall- und Röntgenuntersuchung. Der Arzt versucht dabei aber in der Regel, unnötige und eventuell belastende Untersuchungen zu vermeiden.

Da es keinen spezifischen Test auf vegetative Dystonie gibt, stellen Mediziner die Diagnose in der Regel dann, wenn keine körperlichen Ursachen zu finden sind.

Behandlung eines übererregten Nervensystems

Die Behandlung eines übererregten Nervensystems erfordert eine individuelle Herangehensweise, die sich an der Ursache und der Lebenssituation des Patienten orientiert.

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Behandlung körperlicher Ursachen

Wenn eine körperliche Ursache vorliegt, wird diese behandelt. Beispielsweise zielt die Behandlung von Typ-2-Diabetes-Patienten auf eine optimale Blutzuckereinstellung ab, während Parkinson-Patienten andere Medikamente benötigen.

Psychotherapeutische Maßnahmen

Wenn keine organische Ursache vorliegt, zählen psycho- und physiotherapeutische Maßnahmen zu den möglichen Behandlungsmethoden.

  • Psychotherapie: Eine Psychotherapie kann helfen, die Ursachen und Gefühle hinter den Symptomen aufzuarbeiten. Belastende Empfindungen wie Stress, Sorgen oder Trauer können so verarbeitet werden. Besonders hilfreich ist es, die Gründe und Gefühle aufzuarbeiten, die hinter den Symptomen stehen. Sind belastende Empfindungen wie Stress, Sorgen oder Trauer aus der Welt zu schaffen oder anders zu verarbeiten, bessern sich auf Dauer meist auch die körperlichen Beschwerden. Einige Psychotherapeuten sind auf somatoforme Störungen beziehungsweise vegetative Dystonie spezialisiert. Mit dieser Unterstützung lernen viele Betroffene, ihre Beschwerden besser einzuordnen und mit ihnen im Alltag umzugehen - dies geschieht zum Beispiel im Rahmen einer kognitiven Verhaltenstherapie.
  • EMDR (Eye Movement Desensitization and Reprocessing): Kann dazu beitragen, belastende Erinnerungen neu zu verarbeiten und emotionale Anspannung zu reduzieren.
  • Kognitive Verhaltenstherapie (CBT): Hilft dabei, automatische Gedanken und Reaktionsmuster zu erkennen, die das Nervensystem in Alarmbereitschaft halten.
  • Achtsamkeitsbasierte Methoden: Techniken wie Meditation, Atemübungen oder progressive Muskelentspannung fördern die Selbstregulation des Nervensystems.

Medikamentöse Behandlung

In schweren Fällen können Medikamente helfen, das übererregte Nervensystem zu stabilisieren und Symptome wie Schlafstörungen, innere Unruhe und Reizbarkeit zu lindern. Wichtige Zielstrukturen sind Serotonin, Noradrenalin und GABA. SSRI oder SNRI stabilisieren die Stimmung und verbessern die Schlafqualität, indem sie das autonome Nervensystem beruhigen. Sedierende Medikamente wie niedrig dosierte trizyklische Antidepressiva oder GABA-verstärkende Wirkstoffe können ebenfalls eingesetzt werden.

Trotz ihrer unterstützenden Wirkung sollten Medikamente immer nur begleitend zur Psychotherapie eingesetzt werden. Langfristige Verbesserungen werden meist durch eine Kombination aus psychotherapeutischen Maßnahmen, gezieltem Stressmanagement und gegebenenfalls einer temporären pharmakologischen Unterstützung erreicht.

Entspannungsmethoden

Verschiedene Entspannungsmethoden können helfen, die Balance zwischen Körper und Psyche wiederherzustellen.

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  • Yoga, Meditation, Achtsamkeitsübungen: Können das Stresslevel senken und das Nervensystem beruhigen.
  • Regelmäßige Bewegung: Ausdauertraining oder Krafttraining fördern den Stressabbau.

Weitere Maßnahmen

  • Ausgewogene Ernährung: Vitaminmangel, insbesondere ein Mangel an Vitamin B12, kann die Funktion des Nervensystems beeinträchtigen. Eine ausgewogene Ernährung mit viel Obst, Gemüse, Vollkornprodukten und gesunden Fetten kann die Gesundheit des autonomen Nervensystems unterstützen. Um möglichen Beschwerden vorzubeugen, empfiehlt es sich außerdem, auf Alkohol und Koffein zu verzichten.
  • Ausreichend Schlaf: Ein gesunder Schlaf ist unerlässlich für die Stressbewältigung und Regeneration des Nervensystems. Dazu sollte die Schlafumgebung eine Temperatur von etwa 18 Grad haben und sich gut abdunkeln lassen. Ebenso wichtig ist ein ruhiges Schlafumfeld. Fernseher oder mobile Geräte wie Smartphones sollten abends ausgeschaltet werden, um Ablenkung und laute Geräusche zu vermeiden. Deftiges Essen, Alkohol und Stress am Abend können die Schlafqualität erheblich beeinträchtigen. Besser sind daher leicht verdauliche Speisen und warme Getränke wie Tee am Abend. Ebenso unterstützen regelmäßige Zubettgehzeiten und Aufstehzeiten, regelmäßige Bewegung und eine ergonomische Matratze einen gesunden Schlaf und stärken damit auch indirekt das vegetative Nervensystem.

Übungen zur Beruhigung des Nervensystems

Es gibt verschiedene Übungen, die im Alltag helfen können, das Nervensystem zu beruhigen:

  1. Längere Ausatmung: Länger ausatmen als einatmen, um den Parasympathikus zu aktivieren.
  2. Ausatmen in einen Strohhalm: Beim Ausatmen vorstellen, in einen Strohhalm zu pusten.
  3. Vokalübung: Langsam durch die Nase einatmen und beim Ausatmen Vokale (a, e, i, o, u) tönen.
  4. Erdungsübung: Die Aufmerksamkeit auf die Füße richten und spüren, wie sie auf dem Boden stehen.
  5. 5-4-3-2-1 Übung: Fünf Dinge sehen, vier Dinge fühlen, drei Dinge hören, zwei Dinge riechen, ein Ding schmecken.
  6. Nah- und Fernsichtwechsel: Blick zwischen einem nahen und einem fernen Punkt wechseln.
  7. Zungenentspannung: Die Zunge entspannen und leicht an die oberen Zähne legen.

Regelmäßige Anwendung dieser Übungen kann helfen, den Grundpegel an Stress zu senken und das Nervensystem zu stabilisieren.

Prognose

Wie die vegetative Dystonie verläuft, hängt von verschiedenen Umständen ab. In der Regel ist die Prognose gut. Eine vegetative Dystonie schränkt die Lebenserwartung nicht ein. In 50 bis 75 Prozent der Fälle verlaufen somatoforme Störungen leicht und die Symptome bessern sich mit der Zeit wieder.

Bei Patienten mit einer sehr ängstlichen und negativen Sicht auf ihre Beschwerden, bei starkem Vermeidungsverhalten und parallelen psychischen Erkrankungen (wie etwa Depressionen oder Angststörungen) ist die Prognose schlechter. Dies gilt auch für starke psychosoziale Belastungen, die sich nicht auflösen lassen.

Es besteht immer die Möglichkeit, dass die vegetative Dystonie sich von selbst zurückentwickelt.

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