Demenz ist ein Thema, das ältere Menschen bewegt, weil sie selbst betroffen sein könnten, und jüngere, weil sie sich um betagte Eltern und Großeltern sorgen. Gesellschaftlich ist es wegen der demografischen Entwicklung ohnehin relevant. Udo Baer, ein Diplom-Pädagoge, Kreativer Leibtherapeut, Mitbegründer der Zukunftswerkstatt therapie kreativ, wissenschaftlicher Leiter des Instituts für soziale Innovationen (ISI), Vorsitzender der Stiftung Würde und Mitinhaber des Pädagogischen Instituts Berlin, widmet sich diesem Thema auf eine Weise, die sowohl informativ als auch zutiefst menschlich ist. Seine Arbeit und sein Buch "Innenwelten der Demenz" bieten einen neuen Blickwinkel auf das Erleben von Menschen mit Demenz, der über die rein kognitiven Aspekte hinausgeht.
Udo Baers Ansatz: Mehr als nur kognitive Beeinträchtigung
Udo Baer geht es um einen anderen Zugang zur Demenz, als er in seinem Buch "Innenwelten der Demenz" in knapper Form zusammengefasst und dargestellt wird. Statt sich ausschließlich auf die kognitiven Beeinträchtigungen zu konzentrieren, rückt er das zutiefst subjektive Erleben der Betroffenen in den Mittelpunkt. Dieser Ansatz ist eine Absage an die reduktionistische Sichtweise der Neurowissenschaften, die die Wirklichkeit oft nicht in ihrer vollen Komplexität erfasst.
Die Bedeutung des Subjekts in der Medizin
Baer betrachtet die Einführung des Subjekts in die Medizin als wichtig. Demenz wird nicht nur als Krankheit definiert, sondern als ein Erleben, das in einer bestimmten Lebensgeschichte stattfindet und von dieser wiederum beeinflusst wird. Dies schließt auch die Erfahrungen von Trauma mit ein.
Trauma und Demenz: Eine Verbindung
In seinem Vortrag zum Thema „Trauma und Demenz“ im Joachim-Neander-Haus, zu dem das Zentrum plus Benrath eingeladen hatte, verdeutlichte Baer die Verbindung zwischen traumatischen Erfahrungen und dem Verhalten von Menschen mit Demenz. Er betonte, dass viele ältere Menschen durch Kriegserlebnisse, Vertreibung oder Gewalt traumatisiert sind. Diese Traumata können im Alter wieder hochkommen und sich in Unruhe, Angst oder aggressivem Verhalten äußern.
Beispiele aus der Praxis
Baer illustrierte seine These mit eindringlichen Beispielen:
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- 14 Millionen Menschen wurden nach dem Krieg vertrieben und tragen die Flucht noch immer in ihren Herzen.
- Zwei Millionen Frauen wurden gegen Ende des Krieges vergewaltigt, was sich im Alter in Abwehrverhalten bei der Intimpflege äußern kann.
Die Rolle von Triggern
Baer wies auf die Bedeutung von "Triggern" hin - Sinneseindrücke wie Geräusche, Düfte und Geschmacksaromen, die Ängste und Trauer wieder lebendig werden lassen. Es ist wichtig, diese Trigger zu erkennen und zu vermeiden oder den Betroffenen in diesen Situationen Halt und Trost zu geben.
Beziehungsheilung statt Isolation
Nach dem Krieg seien die Betroffenen alleine gelassen worden, weil es damals keine Therapeuten oder Selbsthilfegruppen gab. Baer betont, dass "Beziehungsverletzungen Beziehungsheilung brauchen". Trauern und Trösten sei wichtig. „Jede Träne verringert ein bisschen Leid. Und der Schlüssel ist zu zeigen: Sie sind nicht allein“, erklärt Baer. „Nehmen Sie jemanden in den Arm. Das holt ihn heraus“, betont er.
Innenwelten der Demenz: Ein tieferes Verständnis
Baers Buch "Innenwelten der Demenz" geht über die bloße Symptombeschreibung hinaus und versucht, die Innenwelt von Menschen mit Demenz zu erschließen. Es basiert auf einem tiefen Verständnis für die Bedeutung von Beziehung und Resonanz, des Erlebens und der Sinnlichkeit.
Die Bedeutung von Leiblichkeit und Bewegung
Baer kritisiert, dass bei der Aktivierung von Menschen mit Demenz oft keine Verknüpfung mit neuen Informationen benötigt wird. Er betont die Bedeutung des körperlich-leiblichen Befindens und der Leibregungen. "Richtungweisende Leibbewegungen" (z.B. hinaus) sind bei den Menschen unterschiedlich ausgeprägt und die Verringerung der Fähigkeit des Gerichtetseins hat eine große Bedeutung für den Umgang mit demenziell veränderten Menschen.
Sinnlichkeit als Schlüssel zur Begegnung
Baer betont, dass Erfahrungen immer nur sinnlich sein müssen. Alles, was die Sinnlichkeit unterstützt und fördert, ist gut und sinnvoll. Es gilt, Räume und Situationen zu schaffen, in denen Menschen mit Demenz sich wohlfühlen und ihre Sinne ansprechen können.
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Halt, Begegnung und Sinn
In der Krise der Demenz sind Halt, Begegnung und Sinn von entscheidender Bedeutung. Angehörige spielen dabei eine wichtige Rolle, können aber auch selbst in die Demenz führen und diese verstärken. Es ist daher wichtig, auch die Angehörigen zu unterstützen und ihnen zu helfen, mit der Situation umzugehen.
Praktische Implikationen für den Umgang mit Demenz
Baers Ansatz hat konkrete Auswirkungen auf den Umgang mit Menschen mit Demenz:
- Wahrheit und Trost: Anstatt zu lügen oder abzulenken, sollte man den Betroffenen die Wahrheit sagen und ihnen Trost spenden. "Ich möchte nicht belogen werden", sagt Baer und meint weiter, dass die Betroffenen das spürten, so dement sie auch sein. „Der Moment der Begegnung ist kostbar“, ermutigt er zur Wahrheit und zum Trost.
- Empathie und Verstehen: Es ist wichtig, sich in die Lage der Betroffenen hineinzuversetzen und zu verstehen, was sie fühlen und erleben.
- Individuelle Bedürfnisse: Jeder Mensch mit Demenz ist einzigartig und hat individuelle Bedürfnisse. Es gilt, diese Bedürfnisse zu erkennen und darauf einzugehen.
- Beziehungsarbeit: Der Aufbau einer vertrauensvollen Beziehung ist entscheidend für das Wohlbefinden der Betroffenen.
- Sinnvolle Beschäftigung: Es ist wichtig, den Betroffenen sinnvolle Beschäftigungen anzubieten, die ihren Interessen und Fähigkeiten entsprechen.
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