Angesichts der steigenden Zahl von Alzheimer-Erkrankten in Deutschland sieht sich das Land mit großen Herausforderungen konfrontiert. Die Bundesministerin für Arbeit und Soziales, Ursula von der Leyen (CDU), betont die Notwendigkeit eines umfassenden Hilfsnetzes, das auch die Angehörigen einschließt.
Die Realität des Lebens mit Alzheimer
Ursula von der Leyen spricht aus persönlicher Erfahrung, da sie mit ihrer Familie zusammen mit ihrem an Alzheimer erkrankten Vater, Ernst Albrecht, lebt. Sie beschreibt, dass ihr Vater subjektiv zufrieden ist und ein gutes Leben hatte. Objektiv gesehen ist seine Welt jedoch kleiner geworden und auf sein Zuhause, die Tiere und den Rhythmus von Tag und Nacht beschränkt.
Trotzdem erkennt er seine Tochter gut und freut sich über ihre Besuche. Auch ihren Mann erkennt er, bei den Enkelkindern ist es schwieriger, obwohl er weiß, dass sie zur Familie gehören.
Wertschätzender Umgang statt Stigmatisierung
Einige Mediziner plädieren dafür, Demenz nicht mehr als Krankheit, sondern als Teil des Alterungsprozesses zu akzeptieren. Der Palliativmediziner Christoph Gerhard betont, dass die Diagnoseaufklärung entscheidend ist. Wenn Betroffene und Angehörige die Situation als Niederlage betrachten, ziehen sich die Betroffenen zurück. Erkennen sie jedoch, dass viele Menschen betroffen sind und dass trotz der Krankheit noch vieles erhalten bleibt, können sie und ihre Angehörigen ihre Ressourcen besser nutzen und einen wertschätzenden Umgang pflegen.
Persönliche Erfahrungen und Lernprozesse
Von der Leyen erinnert sich an ihre Reaktion auf die Diagnose ihres Vaters. Als ausgebildete Ärztin hatte sie zunächst ein Zerrbild von Alzheimer vor Augen und beobachtete ihren Vater misstrauisch. Im Nachhinein bereut sie dies zutiefst. Sie hat gelernt, dass es ein langsamer Prozess ist, in dem sich die Grundfreundlichkeit ihres Vaters deutlicher zeigt.
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Wichtig ist, sich dem Erkrankten zuzuwenden, ihm zuzuhören und alte Lieblingsgeschichten und -orte im Alltag hervorzurufen. Wenn er glücklich ist, singt er. Angehörige müssen lernen, dass der Alzheimer-Kranke nicht mehr auf die Gefühle des anderen reagieren kann. Es ist wichtig, sich dem Erkrankten über alte Muster, Freundlichkeit und Zuwendung zu nähern, um einen Weg zu ihm zu finden.
Die Rolle der Öffentlichkeit und der Abbau von Scham
Die Öffentlichkeit schaut oft auf prominente Alzheimer-Patienten. Das Wissen, dass Menschen wie Ronald Reagan oder Margaret Thatcher an Alzheimer erkrankt waren, kann helfen, die eigene Scham über die Symptome der Krankheit zu überwinden. Auch Ursula von der Leyen musste zunächst ein Schamgefühl überwinden, bevor sie die Krankheit ihres Vaters öffentlich machte.
Früher versuchte sie, die peinlichen Situationen zu verdecken, die dadurch entstanden, dass ihr Vater in der Öffentlichkeit ungewöhnliche Dinge tat. So hielt er beispielsweise bei Veranstaltungen Reden, die am Thema vorbei waren. Auch nutzten Menschen seine Gutgläubigkeit aus. Nachdem sie die Krankheit öffentlich gemacht hatte, war der Umgang viel entspannter. Die Menschen tolerierten seine Art und freuten sich über seine Freundlichkeit.
Staatliche Unterstützung und die Notwendigkeit eines Hilfsnetzes
Von der Leyen betont, dass der Staat noch nicht genug tut, um Alzheimer-Patienten und ihren Angehörigen das Leben zu erleichtern. Sie spricht von der Alzheimer-Erkrankung als einer Angehörigenkrankheit, da die Angehörigen unendlich eng in den Prozess eingebunden sind.
Jeder Betroffene und jede Familie braucht Hilfe. Es ist wichtig, die Scham zu überwinden und zuzugeben, dass man die Situation nicht alleine bewältigen kann. Angehörige brauchen Unterstützung im Umgang mit der steten Wiederholung, der Unruhe und den Forderungen der Erkrankten. Der Austausch mit anderen Betroffenen hilft, nicht zu verzweifeln, sondern auch die humorvollen Seiten zu sehen.
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Betreuungsstrukturen und ehrenamtliches Engagement
In Zukunft werden Betreuungsstrukturen benötigt, die über die reine Pflege hinausgehen. Es geht um eine niederschwellige, liebevolle Betreuung, die Angehörige entlastet. Tageskliniken und -stätten sowie ehrenamtliche Strukturen können hier eine wichtige Rolle spielen. Auch alte Freunde können eine große Hilfe sein, indem sie einfach Zeit mit dem Erkrankten verbringen.
Ein Netz an Beratung und Hilfe in den ganz banalen Dingen des Alltags ist unerlässlich. Was passiert, wenn der Alzheimer-Kranke nicht mehr Auto fahren darf? Wie geht man vor, wenn er geschäftsunfähig ist? Hier muss viel mehr Information fließen. Von der Leyen sieht Deutschland am Anfang einer Entwicklung, ein solches Hilfsnetz um Alzheimer-Kranke und ihre Angehörigen zu knüpfen. Nur so kann die Pflege zu Hause gelingen, die von zwei Dritteln der Alzheimer-Kranken in Anspruch genommen wird.
Persönliche Träume und die Bedeutung menschlicher Beziehungen
In einem Beitrag für die ZEIT-Serie "Ich habe einen Traum" berichtet Ursula von der Leyen von ihrer Sehnsucht nach mehr Zeit für ihre Familie. Sie reflektiert über die Opfer, die ihr intensives Leben als Mutter und Politikerin fordert, und über den Druck, der in der Politik herrscht. Sie träumt davon, im hohen Alter geistig rege neben ihrem gesunden Mann auf einer Bank zu sitzen und miteinander zu schweigen.
Der plötzliche Tod ihrer Mutter und die Alzheimer-Erkrankung ihres Vaters haben ihr bewusst gemacht, dass man Lebenszeit nicht bedingungslos in die Zukunft verschieben kann. Sie betont die Bedeutung menschlicher Beziehungen und die Lebenskraft, die ein Netz von Nachbarn, Bekannten und Freunden spenden kann.
Die Rolle der Familie und die Bewältigung von Konflikten
Von der Leyen spricht offen über die Herausforderungen, die die Pflege ihres Vaters mit sich bringt. Sie betont, wie wichtig es ist, sich zu informieren und sich mit anderen auszutauschen. Die Scham, die Wut und die Erkenntnis, dass der Alzheimer-Kranke noch viel empfindet, sind wichtige Schritte im Umgang mit der Krankheit.
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Regelmäßigkeiten und Rituale sind für Demenzkranke von großer Bedeutung. Auch das gemeinsame Singen kann eine Möglichkeit sein, den Erkrankten zu erreichen. Am schwersten ist es, mit der eigenen Ambivalenz fertigzuwerden. Einerseits will man das nie am eigenen Leib erleben, andererseits ist der Erkrankte in seiner kleinen Welt glücklich.
Die Notwendigkeit eines Umdenkens in der Gesellschaft
Ursula von der Leyen betont, dass ein Umdenken in der Gesellschaft erforderlich ist, um einen Pflegekollaps zu verhindern. Die Menschen müssen dazu überredet werden, ihre Angehörigen wieder zu Hause zu pflegen. Die Politik muss die Angehörigen nicht allein lassen, freie Räume schaffen und Helfer zur Verfügung stellen. Die geplante halbjährige Pflegezeit mit Arbeitsplatzgarantie und das Konzept des Mehrgenerationenhauses sind erste Schritte in die richtige Richtung.
Es ist wichtig, Netzwerke von Betreuung zu schaffen, um Alzheimer-Patienten und auch anderen Erkrankten konzentrierte Zuwendung zu ermöglichen. Die Gesellschaft muss ein neues soziales Bewusstsein entwickeln und lernen, dass Zeit das Kostbarste überhaupt ist.