Visuell evozierte Potentiale (VEP) in der Neurologie: Eine umfassende Untersuchungsmethode

Einführung

Evozierte Potentiale (EP) sind elektrische Phänomene, die im Rahmen einer neurophysiologischen Untersuchung gezielt ausgelöst und aus dem Nervensystem abgeleitet werden können. Diese Methode dient dazu, die Leit- und Funktionsfähigkeit von Nervenbahnen zu testen. Im Folgenden wird der Fokus auf die visuell evozierten Potentiale (VEP) gelegt, eine spezielle Form der EP, die in der neurologischen Diagnostik eine wichtige Rolle spielt.

Grundlagen evozierter Potentiale

Der Begriff "evozierte Potentiale" leitet sich vom lateinischen "evocare" (herbeirufen) ab. Bei dieser neurologischen Untersuchungsmethode wird ein Sinnesorgan oder ein peripherer Nerv gereizt und die dadurch ausgelösten elektrischen Potentiale in den verarbeitenden Regionen des Nervensystems beobachtet. Jeder Sinnesreiz löst in den sensorischen Arealen des Gehirns minimale elektrische Potentialänderungen aus. Um diese evozierte Aktivität zu messen und darzustellen, wird eine Mittelungstechnik verwendet, bei der die Reizantworten vieler Reize summiert werden. Durch die wiederholte Darbietung eines Reizes und die Mittelung des nachfolgenden EEG-Signals strebt die reizunabhängige Aktivität gegen Null, während das reizbezogene evozierte Potential aufsummiert und somit auswertbar wird.

Damit der Mensch seine Umwelt und seinen eigenen Körper wahrnehmen kann, müssen die Sinnesorgane Informationen aufnehmen und diese über Nerven an das Gehirn weiterleiten. An den Nerven und im Gehirn entstehen bei der Weiterleitung bzw. Verarbeitung elektrische Potentiale.

Je nachdem, welches System einer Reizung unterliegt, spricht man von verschiedenen Arten evozierter Potentiale:

  • Visuell evozierte Potentiale (VEP): Untersuchung der Sehbahn
  • Akustisch evozierte Potentiale (AEP): Untersuchung der Hörbahn
  • Sensibel evozierte Potentiale (SEP): Untersuchung der sensiblen Nerven
  • Magnetisch evozierte Potentiale (MEP): Untersuchung bestimmter Gehirngebiete bzw. Nervenwurzeln

Visuell evozierte Potentiale (VEP): Funktionsweise und Durchführung

Visuell evozierte Potentiale (VEP) sind elektrische Gehirnwellen, die durch visuelle Stimulation ausgelöst werden. Sie ermöglichen eine Aussage über die Funktionsfähigkeit der Sehbahnen. Die Durchführung der VEP-Untersuchung erfolgt in der Regel durch das Anbringen von Elektroden auf der Kopfhaut des Patienten, um die elektrische Aktivität im Gehirn zu messen. Der Patient wird aufgefordert, auf einen Bildschirm zu schauen, auf dem visuelle Reize in Form von Mustern oder Lichtblitzen dargeboten werden.

Lesen Sie auch: Diagnose und Behandlung von Polyneuropathie

Die Methode läuft demnach so ab: Der Patient sitzt in einem verdunkelten Raum und blickt während der Untersuchung auf einen visuellen Reiz auf einem Bildschirm. Die Aufforderung an den Patienten ist dabei, während der kompletten Untersuchung einen hellen Lichtpunkt zu betrachten. Es können außerdem ein Auge oder beide Augen gleichzeitig stimuliert werden.

Als optische Stimuli eignen sich besonders Schachbrettmuster mit Schwarz-Weiß-Umkehr, die bei den modernen Geräten mit TV-Monitoren präsentiert werden. Die Größe des Monitors und der Quadrate des Musters bestimmen, ob eine mehr foveale oder parafoveale oder gar Ganzfeldstimulation erfolgt. Kritisch sind auch die Kontraste der Quadrate sowie die Umgebungshelligkeit, sodass jedes Labor seine eigenen Normwerte erstellen muss. In der täglichen Routine findet meist die foveal/parafoveale Stimulation Anwendung, die für jedes Auge getrennt durchgeführt wird. Hierbei sitzt der Proband in einem Abstand von etwa 1 m vor dem Monitor und fixiert einen zentralen Fixationspunkt in der Mitte des Bildschirmes, dabei sollten mindestens 20 Grad des Gesichtsfeldes stimuliert werden. Die Musterumkehr erfolgt mit einer Frequenz von 1-2 Hz, in der Regel sind 128 Reize ausreichend. Auf eine ausreichende Visuskorrektur und unbeeinträchtigte Pupillenfunktion (Augentropfen!) sowie Kooperation ist zu achten.

Die Ableitung erfolgt nach Hautpräparation über dem okzipitalen Kortex mit der differenten Elektrode in Position Oz gegenüber der Referenzelektrode Fz (oder Fpz). Die Schaltung erfolgt derart, dass eine Positivität unter Oz zu einem Ausschlag nach unten führt, als Analysezeit werden 200 ms und im pathologischen Falle bis 500 ms empfohlen. Für eine nicht routinemäßig erfolgende Halbfeldstimulation sollten die Positionen O1 und O2 zusätzlich als differente Elektrodenpositionen verwendet werden. Jede Ableitung sollte mindestens einmal reproduziert werden.

Bedeutung der VEP in der neurologischen Diagnostik

VEP werden zum Beispiel zur Diagnose einer Multiplen Sklerose oder Schäden am Sehnerv verwendet. Insbesondere in der Diagnostik der multiplen Sklerose kann es wertvolle Zusatzhinweise auf eine abgelaufene Demyelinisierung als zweite Lokalisation der Erkrankung auch bei negativen Bildgebungsbefunden ergeben, wenn z. B. eine spinale Verlaufsform der MS vorliegt. Aber auch Erkrankungen des Auges selbst können zu VEP-Veränderungen, im Wesentlichen Amplitudenreduktionen, führen, sodass eine sichere Beurteilung oft auch das Erheben eines ophthalmologischen Befundes erfordert.

Es ist wichtig zu beachten, dass VEP nur eine von vielen Möglichkeiten sind, die Funktion des Sehsystems zu überprüfen. Des Weiteren kann u.a. auch eine augenärztliche Untersuchung oder eine radiologische Diagnostik wie z.B. eine Magnetresonanztomographie (MRT) durchgeführt werden.

Lesen Sie auch: Der Ablauf einer neurologischen Untersuchung

Die Geschichte der VEP

Die Geschichte der VEP reicht bis in die 1930er Jahre zurück, als die ersten Experimente zur Messung der visuellen Reaktionszeit durchgeführt wurden. Seitdem hat sich die Technik stetig weiterentwickelt und ist heute ein fester Bestandteil der neurologischen Diagnostik.

Weitere neurophysiologische Untersuchungsmethoden

Neben den VEP gibt es noch weitere neurophysiologische Untersuchungsmethoden, die in der Neurologie eingesetzt werden:

  • Elektroenzephalographie (EEG): Ableitung und Aufzeichnung der Hirnströme zur Abklärung von Anfallsleiden, Gedächtnis- und Bewusstseinsstörungen sowie zur Prognoseabschätzung und Hirntoddiagnostik.
  • Elektromyographie (EMG): Messung der Muskelaktionspotentiale zurDiagnostik von Muskelerkrankungen (Myopathien) und peripheren Nervenerkrankungen (Neuropathien).
  • Elektroneurographie (ENG): Messung der sensiblen und motorischen Nervenleitung zur Diagnostik von Polyneuropathien, Engpass-Syndromen (z.B. Karpaltunnelsyndrom) oder Nervenschäden nach Unfällen.
  • Somatosensorisch evozierte Potentiale (SEP): Objektive Kontrolle der Leitfähigkeit von peripheren sensiblen Nerven bzw. der Gefühlsbahn.
  • Motorisch evozierte Potentiale (MEP): Bestimmung des Funktionszustands des motorischen Systems, welches für die Ausführung von Willkürbewegungen erforderlich ist.

Ablauf einer EP-Untersuchung

Um die Potentiale messen zu können, werden dem Patienten Elektroden am Kopf befestigt, welche die Hirnströme messen. Spezifische visuelle, akustische oder sensorische Potentiale führen dabei zu einer minimalen Veränderung der Hirnstromaktivität in bestimmten Gehirnarealen.

Die Funktionsmessungen von Seh- und Hörbahn, sensiblen und motorischen Bahnen macht man sich zunutze, um eventuelle Schädigungen im Einzelnen festzustellen und eine Störung der Reizleitung zu detektieren.

Jede Untersuchungsmethode weist eine Dauer von ungefähr 30 bis 60 Minuten auf und ist schmerzlos, sodass im Anschluss daran den normalen Aktivitäten nachgegangen werden kann. Die Funktionsmessungen sind mit keinen Nebenwirkungen verbunden.

Lesen Sie auch: Bedeutung Doppler-Sonographie

Akustisch evozierte Potentiale (AEP)

Durch die akustisch evozierten Potentiale lässt sich die Leitfähigkeit des Hörnervs prüfen. Im Gegensatz zu den VEP findet die Methode im Sitzen oder Liegen statt. Zuvor kleben Arzthelfer Metallplättchen über den Knochen hinter jedem Ohr sowie auf die Kopfmitte. Mittels dieser Elektroden werden die Hirnströme abgeleitet. Darauffolgend bekommen die Patienten einen Kopfhörer aufgesetzt, welcher akustische Reizimpulse (Klicks) auslöst. Die Patienten erhalten die Untersuchung erst einseitig auf einem Ohr, sodass die Hörfähigkeit des anderen Ohrs durch kontinuierliches Rauschen blockiert ist.

Die akustisch evozierten Potentiale werden von der Kopfhaut nach ein- oder beidseitiger Applikation von Klicklauten abgeleitet, wobei für die klinisch neurologische Diagnostik im Wesentlichen die frühen akustisch evozierten Potenziale (AEP) mit einer Latenz bis 8 ms als Ausdruck der Funktion des Hörnervs und der nachgeschalteten Hörbahn des Hirnstamms von Bedeutung sind.

Sensibel evozierte Potentiale (SEP)

Bei somatisch evozierten Potentialen findet eine objektive Kontrolle der Leitfähigkeit von peripheren sensiblen Nerven bzw. der Gefühlsbahn statt. Bei der Methode werden Metallplättchen (Elektroden) rechts und links am Kopf sowie an der Stirn angeklebt - bei konkreten Fragestellen auch an der Schulter oder am Nacken. Die Reizung der Gefühlsbahn wird durch ein Elektrisieren von Nerven an den Füßen oder Händen durchgeführt.

SEP prüfen die Funktion des sensiblen Systems. Sie werden im Allgemeinen wegen der guten Reproduzierbarkeit durch elektrische Reize eines peripheren Nervs ausgelöst. Durch einen Stimulus von 0,2 ms Impulsbreite und einer Intensität knapp oberhalb der motorischen Schwelle eines gemischten Nervs oder der 3- bis 5-fachen Schwellenreizstärke eines sensiblen Nervs wird eine relativ synchrone Impulswelle in peripheren IA-Fasern (weniger auch IB- und II-Fasern) erzeugt, deren Weg entlang peripherer und zentraler afferenter Bahnen an verschiedenen Punkten bis nach kortikal verfolgt werden kann.

Motorisch evozierte Potentiale (MEP)

Motorisch evozierte Potentiale dienen in der Diagnostik überwiegend zur Bestimmung des Funktionszustands des motorischen Systems, welches für die Ausführung von Willkürbewegungen erforderlich ist. Bei dieser Methode kommt die transkranielle Magnetstimulation (TMS) zum Einsatz, weshalb die Untersuchung in der Regel nicht bei Patientinnen/Patienten mit Herzschrittmachern durchgeführt werden sollte. Bei der Untersuchung zur Wange oder Zunge gibt es eine Vorrichtung für die Oberflächenelektroden, die demzufolge auf die Zungen bzw. die Wangen platziert wird. Hierbei ist mittels der Entladung des Kondensators ein kurzes Klopfgeräusch wahrzunehmen. Infolge dieser Aktivierung des Gehirns werden Impulse über das Rückenmark und die peripheren Nerven zur Arm-, Bein-, und Gesichtsmuskulatur fortgeleitet. Anknüpfend werden die Nervenbahnen abermals nach ihrer Umschaltung zur peripheren Nervenbahn einer magnetischen Reizung unterzogen. Zuletzt findet eine elektrische Reizung des Nerven direkt vor dem Muskel statt. Dies wird deswegen durchgeführt, da die individuelle Muskelantwort hierdurch ermittelt werden kann.

Mit dieser Messung werden motorische Nervenbahnen, also Nervenbahnen vom Gehirn über das Rückenmark und die peripheren Nerven zum Muskel, in ihrer Leitungsfähigkeit bestimmt. Mit einer Magnetischen Spule wird ein Impuls über den Teilen des Gehirns oder der Rückenmarkabschnitte gesetzt, die im Körper für Bewegungen zuständig sind. oder Bein ausgelöst. Bei der Reizung des Gehirns wird eine Zuckung in einer Körperhälfte ausgelöst, die der Untersuchte nicht unterdrücken kann. Schmerzhaft ist sie nicht.

tags: #vep #untersuchung #neurologie #definition