Verdacht auf Multiple Sklerose: Diagnostik

Die Diagnose der Multiplen Sklerose (MS) ist ein komplexer Prozess, der eine Vielzahl von Untersuchungen und Bewertungen umfasst. Es gibt keinen einzelnen Test, der eine MS zweifelsfrei bestätigen kann. Stattdessen stützt sich die Diagnose auf eine Kombination aus Anamnese, neurologischer Untersuchung, Magnetresonanztomographie (MRT), Liquordiagnostik und anderen spezifischen Tests. Da die Symptome der MS vielfältig und unspezifisch sein können, ist es wichtig, andere mögliche Ursachen auszuschließen.

Einführung

Multiple Sklerose (MS) ist eine chronisch-entzündliche Autoimmunerkrankung des zentralen Nervensystems (ZNS), die vorwiegend im jüngeren Erwachsenenalter beginnt. Die Erkrankung ist durch Entmarkungsherde und diffuse neuronale Zerstörung in der weißen und grauen Substanz des Gehirns und Rückenmarks gekennzeichnet. Die genaue Ursache der MS ist trotz intensiver Forschung noch nicht vollständig geklärt. Die Diagnose der MS ist oft herausfordernd, da die Symptome vielfältig sind und anderen Erkrankungen ähneln können. Dieser Artikel beleuchtet die verschiedenen Aspekte der MS-Diagnostik.

Anamnese und körperliche Untersuchung

Anamnese

Am Anfang jeder MS-Diagnostik steht die Anamnese, ein ausführliches Gespräch zwischen Arzt und Patient. Dabei erfragt der Arzt die Krankengeschichte des Patienten, einschließlich früherer und bestehender Erkrankungen in der Familie. Es ist wichtig, dass der Patient alle Fragen ehrlich beantwortet und seine Beschwerden detailliert schildert. Der Arzt wird nach Art, Dauer und Verlauf der Symptome fragen sowie nach Faktoren, die die Symptome beeinflussen oder lindern.

  • Frühere oder bestehende Erkrankungen des Patienten und seiner Familie
  • Genaue Beschreibung der Beschwerden (Art, Dauer, Verlauf)
  • Faktoren, die die Symptome beeinflussen (z.B. Wärme, Belastung)
  • Bisherige Behandlungen und deren Wirkung

Die Anamnese ist entscheidend, um den Verdacht auf MS zu erhärten und die weiteren diagnostischen Schritte zu planen. Dabei ist von besonderer Bedeutung, ob bei Ihnen bereits in der Vergangenheit Beschwerden vorlagen. Je genauer Sie frühere Symptome beschreiben können, desto besser kann der Arzt entscheiden, ob es sich dabei vielleicht schon um erste Anzeichen der Krankheit MS gehandelt hat. Lagen in Ihrer Vergangenheit typische Symptome vor, richtet sich der Verdacht auf MS. Nach einem „wahrscheinlich" ersten MS-Schub wird dann zunächst von einer „möglichen MS" gesprochen.

Körperliche Untersuchung

Nach der Anamnese folgt eine gründliche körperliche und neurologische Untersuchung. Dabei werden verschiedene Funktionen des Nervensystems überprüft, um mögliche Beeinträchtigungen zu erkennen:

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  • Sensibilität: Prüfung der Sensibilität der Haut mit einem Wattestäbchen und Untersuchung der Reaktion auf unterschiedliche Temperaturen und Vibration.
  • Reflexe: Überprüfung der Reflexe auf Abschwächung oder Übersteigerung.
  • Beweglichkeit und Koordination: Beurteilung der Beweglichkeit und Koordination verschiedener Muskeln.
  • Neuropsychologische Tests: Durchführung spezifischer Tests zur Beurteilung neuropsychologischer Störungen, wie z. B. das Lhermitte-Zeichen.
  • Babinski-Zeichen: Überprüfung des Babinski-Zeichens, das auf eine Nervenschädigung hinweisen kann.

Im Rahmen der neurologischen Untersuchung können Funktionsbeeinträchtigungen des Nervensystems erkannt werden, selbst lange bevor sie vom Betroffenen selbst wahrgenommen werden. Die Multiple Sklerose führt zu Einschränkungen u. a. in den Bereichen Koordination, Gleichgewicht, Reflexe, Muskelkraft oder Sensibilität.

Bei einer neurologischen Untersuchung werden folgende Funktionen getestet:

  • die grobe Kraft und die Feinmotorik: Handdrücken, Fingerspreizen gegen einen Widerstand, Beugung und Streckung in Ellenbogen und Knien, Arm- und Beinvorhalteversuche,
  • Reflexe - dabei zählt insbesondere der Seitenvergleich
  • Sensibilität: Untersuchung der Schmerz-, Temperatur- und Tiefensensibilität mit spitzen oder stumpfen, warmen oder kalten, weichen oder rauen Gegenstände; Außerdem Untersuchung der Tiefensensibilität, des Lagesins und des Vibrationsempfindens durch weitere Übungen
  • Koordination: Testung von Zielbewegungen z. B. mit dem Finger-Nase-Versuch
  • Gleichgewicht: Überprüfung des Gangbildes bei geschlossenen Augen, beim Balancieren auf einer gedachten Linie, auf Zehenspitzen oder auf den Fersen
  • Funktion der zwölf Hirnnerven: Durchführung bestimmter Bewegungen im Bereich des Gesichts durch den Patienten und Überprüfung der Reaktionen auf bestimmte Reize

Häufige Befunde bei der klinischen Untersuchung sind:

  • Marburg-Trias: temporale Abblassung der Sehnervenpapillen, Paraspastik und das Fehlen von Bauchhautreflexen
  • Lhermitt’sches Zeichen (positives Nackenbeugezeichen): elektrisierende Missempfindungen bei Vornüberbeugen des Kopfes entlang der Wirbelsäule von kranial nach kaudal
  • Sensibilitätsausfälle
  • dysmetrische Zeigeversuche
  • positives Babinski-Zeichen und gesteigerte Muskeleigenreflexe als Hinweise einer Schädigung des 1. Motoneurons

Bildgebende Verfahren: Magnetresonanztomographie (MRT)

Die Magnetresonanztomographie (MRT) ist ein wesentlicher Bestandteil der MS-Diagnostik. Mit einer MRT-Untersuchung lässt sich mit sehr hoher Sicherheit eine Entzündung im Gehirn und Rückenmark nachweisen. Die MRT ermöglicht es, Entzündungsherde (Läsionen) im Gehirn und Rückenmark sichtbar zu machen. Diese Läsionen sind typisch für MS und helfen, die Diagnose zu sichern. Um die Sensitivität der MRT zu erhöhen, wird oft ein Kontrastmittel (Gadolinium) verwendet, das Entzündungsherde besser sichtbar macht.

Die MRT spielt eine entscheidende Rolle bei der Beurteilung der räumlichen und zeitlichen Dissemination der Läsionen, was ein wichtiges Kriterium für die MS-Diagnose ist.

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  • Räumliche Dissemination (DIS): Nachweis von Läsionen in verschiedenen Bereichen des ZNS (z.B. periventrikulär, kortikal, infratentoriell, spinal).
  • Zeitliche Dissemination (DIT): Nachweis von Läsionen zu unterschiedlichen Zeitpunkten, entweder durch den Nachweis von neuen Läsionen in einer Verlaufs-MRT oder durch den gleichzeitigen Nachweis von alten und neuen Läsionen in einer einzelnen MRT.

Liquordiagnostik: Lumbalpunktion

Die Lumbalpunktion, auch Nervenwassergewinnung genannt, ist eine weitere wichtige Untersuchung bei Verdacht auf MS. Bei dieser Untersuchung wird eine Probe des Nervenwassers (Liquor cerebrospinalis) entnommen, um sie auf bestimmte Parameter zu analysieren.

Aktuell wird weiterhin empfohlen eine Lumbalpunktion bei Verdacht auf MS durchzuführen. Studien haben gezeigt, dass ohne eine Liquoruntersuchung falsche Diagnosen häufiger sind. Bei einer MS zeigen sich spezielle autoimmune Zellen, sogenannte oligoklonale Banden, die im Liquor nachgewiesen werden können.

Die Liquordiagnostik kann folgende Befunde liefern:

  • Erhöhte Zellzahl: Ein Hinweis auf eine Entzündung im ZNS.
  • Erhöhter Eiweißgehalt: Kann ebenfalls auf eine Entzündung hindeuten.
  • Oligoklonale Banden (OKB): Spezifische Antikörper, die im Liquor von MS-Patienten häufig nachweisbar sind. Sie sind ein Zeichen für eine chronische Entzündung im ZNS. Um zu beweisen, dass sich die Entzündung auf das zentrale Nervensystem beschränkt (wie es bei der Multiplen Sklerose der Fall ist), sollten diese Antikörper nur im Liquor, nicht jedoch im Blut nachweisbar sein. Da in wenigen Fällen trotz Vorliegen einer Multiplen Sklerose keine oligoklonalen Banden nachweisbar sind, muss diese Diagnostikmethode mit anderen Methoden ergänzt werden.
  • Erhöhter IgG-Index: Ein Maß für die Produktion von Immunglobulin G (IgG) im ZNS.

Die Liquordiagnostik ist besonders wichtig, um andere entzündliche oder infektiöse Erkrankungen des ZNS auszuschließen, die ähnliche Symptome wie MS verursachen können. Bei PPMS gilt die Liquordiagnostik nach den McDonald-Kriterien als obligat.

Evozierte Potentiale

Evozierte Potentiale (EP) sind neurophysiologische Messungen, die die Nervenleitgeschwindigkeit und die Funktion bestimmter sensorischer Bahnen im Nervensystem überprüfen. Bei MS können EP helfen, Schädigungen der Nervenbahnen aufzudecken, auch wenn diese noch keine клиниisch wahrnehmbaren Symptome verursachen.

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Es gibt verschiedene Arten von evozierten Potentialen, die bei der MS-Diagnostik eingesetzt werden:

  • Visuell evozierte Potentiale (VEP): Messung der elektrischen Aktivität des Gehirns als Reaktion auf visuelle Reize (z.B. Schachbrettmuster). VEP werden häufig eingesetzt, um eine Entzündung des Sehnervs (Optikusneuritis) zu диагностицировать.
  • Akustisch evozierte Potentiale (AEP): Messung der elektrischen Aktivität des Gehirns als Reaktion auf akustische Reize (z.B. Klicklaute). AEP können helfen, Schädigungen im Bereich des Hirnstamms aufzudecken.
  • Somatosensorisch evozierte Potentiale (SSEP): Messung der elektrischen Aktivität des Gehirns als Reaktion auf elektrische Reize, die an peripheren Nerven (z.B. an Hand oder Fuß) gesetzt werden. SSEP können helfen, Schädigungen der сенсорных Bahnen im Rückenmark und Gehirn aufzudecken.

Differentialdiagnostik

Die Diagnose der Multiplen Sklerose ist eine Ausschlussdiagnose. Das bedeutet, dass andere Erkrankungen mit ähnlichen Symptomen ausgeschlossen werden müssen, bevor die Diagnose MS gestellt werden kann. Zu den wichtigsten Differentialdiagnosen gehören:

  • Andere entzündliche ZNS-Erkrankungen: z.B. Neuromyelitis optica (NMO), akute disseminierte Enzephalomyelitis (ADEM).
  • Infektiöse ZNS-Erkrankungen: z.B. Borreliose, HIV-Enzephalopathie.
  • Vaskuläre Erkrankungen: z.B. zerebrale Mikroangiopathie.
  • Metabolische Erkrankungen: z.B. Vitamin-B12-Mangel.
  • Tumoren des ZNS: z.B. Gliome, Meningeome.
  • Psychische Erkrankungen: Einige psychische Erkrankungen können ähnliche Symptome wie MS verursachen, wie z.B. Fatigue, kognitive Störungen und Depressionen.

Um die Differentialdiagnosen auszuschließen, können verschiedene zusätzliche Untersuchungen erforderlich sein, wie z.B. Blutuntersuchungen, weitere bildgebende Verfahren (z.B. CT, Angiographie) und neurologische Konsile.

Diagnosekriterien nach McDonald

Zur Orientierung bei der MS-Diagnose gibt es international anerkannte Diagnosekriterien, die McDonald-Kriterien. Die Diagnose wird üblicherweise nach den international anerkannten McDonald-Kriterien gestellt. Diese Kriterien wurden mehrfach überarbeitet und angepasst, um die Diagnose der MS zu erleichtern und zu beschleunigen. Die McDonald-Kriterien berücksichtigen die klinischen Symptome, die MRT-Befunde und die Liquorbefunde.

Die aktuellen McDonald-Kriterien (2017) ermöglichen eine MS-Diagnose bereits nach dem ersten Schub, wenn bestimmte Kriterien erfüllt sind:

  • Klinischer Nachweis von mindestens zwei Schüben und objektiver Nachweis von mindestens zwei Läsionen im ZNS.
  • Klinischer Nachweis von mindestens einem Schub und objektiver Nachweis von mindestens zwei Läsionen im ZNS, sowie Nachweis von oligoklonalen Banden im Liquor.
  • Klinischer Nachweis von mindestens einem Schub und objektiver Nachweis von mindestens einer Läsion im ZNS, sowie Nachweis der zeitlichen Dissemination (DIT) durch eine zweite MRT-Untersuchung.

In der neuesten Fassung von 2017 wurden die Diagnose-Kriterien verfeinert und vereinfacht, sodass eine Multiple Sklerose nun bereits nach dem ersten Schub diagnostiziert werden kann.

Radiologisch isoliertes Syndrom (RIS) und klinisch isoliertes Syndrom (KIS)

Radiologisch isoliertes Syndrom (RIS)

Das radiologisch isolierte Syndrom (RIS) bezeichnet einen Zustand, bei dem in der MRT-Untersuchung Entzündungsherde sichtbar sind, die auch bei einer MS zu finden sind, ohne dass klinische Symptome vorliegen. Meist handelt es sich hierbei um einen Zufallsbefund.

Klinisch isoliertes Syndrom (KIS)

Das klinisch isolierte Syndrom (KIS) ist definiert als eine Episode von neurologischen Beschwerden, zum Beispiel eine Sehnervenentzündung, die mindestens 24 Stunden andauert.

Bei etwa 50-60% der Betroffenen geht das RIS oder KIS im Verlauf in eine MS über. Dies ist kein Grund zur Beunruhigung. Durch regelmäßige Verlaufskontrollen und eine engmaschige Beobachtung kann ein Fortschreiten oder der Übergang in eine MS frühzeitig entdeckt und entsprechend behandelt werden.

Verlauf der MS

Der Verlauf einer MS kann von Patient zu Patient sehr unterschiedlich sein. Deshalb ist es nicht möglich, eine genaue Voraussage des individuellen Verlaufes zu treffen. Dennoch muss betont werden, dass die MS nicht zwangsläufig schwer verlaufen muss. Im Gegenteil, gerade zu Beginn der Erkrankung kann es zu einer weitgehenden Abheilung der entzündlichen Herde und damit zur Rückbildung der auftretenden Krankheitszeichen kommen. Nur in wenigen Fällen (unter 5%) führt die Krankheit innerhalb weniger Jahre zu schwerer Behinderung. Aus Verlaufsbeobachtungen kann abgeleitet werden, dass die Wahrscheinlichkeit auch weiterhin einen relativ gutartigen Verlauf zu haben, höher ist, wenn nach 5 oder 10 Jahren das Krankheitsbild stabil ist. Allerdings ist dies aufgrund der Unberechenbarkeit des Krankheitsverlaufs keine sichere "Faustregel" und spricht auch z.B. nicht gegen eine Therapie nach längerem Verlauf. Zu Krankheitsbeginn überwiegt der schubförmige Verlaufstyp mit einer Häufigkeit von bis zu 90%; nach anfänglich schubförmigem Verlauf gehen nach 10 bis 15 Jahren etwa 30 bis 40% in einen sekundär-chronisch progredienten Verlauf über; nach mehr als 20 Jahren beträgt die Häufigkeit dieser Verlaufsform sogar bis zu 90% (nach: Schmidt/Hoffmann: Multiple Sklerose, 2011). Etwa 10% der Patienten haben von Beginn an einen primär-chronisch progredienten Verlauf, d.h. von Beginn an eine langsame Verschlechterung ohne klare Schübe. Ganz sicher stellt die Unvorhersagbarkeit des Krankheitsverlaufes eine besondere Belastung für Neuerkrankte und ihre Angehörigen dar.

Therapie

Obwohl die Multiple Sklerose bis heute nicht ursächlich heilbar ist, gibt es Behandlungsmöglichkeiten, die zum Ziel haben:

  • die akute Entzündungs-Reaktion eines Schubes zu hemmen (Schubtherapie)
  • das Fortschreiten der Erkrankung aufzuhalten
  • die beschwerdefreie/-arme Zeit zu verlängern (verlaufsmodifizierende Therapie)
  • die MS-Symptome zu lindern und möglichen Komplikationen vorzubeugen (Symptomatische Therapie)

Vor allem die letzten beiden Therapiebereiche werden in der Regel kombiniert angewendet. Dabei können sie für und mit dem Patienten individuell, unter anderem abhängig von Alter, Geschlecht, Lebenssituation und Lebensplanung, sowie Begleiterkrankungen und der gegenwärtigen Krankheitssituation angepasst werden. Im Bereich der Symptombehandlung stehen neben medikamentösen auch viele nicht-medikamentöse Therapien zur Verfügung: Physiotherapie, Ergotherapie, Logopädie, Psychotherapie, neuropsychologische Therapie.

Unsicherheit und Selbstbestimmung

Verunsicherung - ein besseres Wort gibt es wohl nicht für das, was Menschen mit Multipler Sklerose oft empfinden. Wie geht es weiter im Leben? Kann ich meine privaten und beruflichen Träume und Pläne noch verwirklichen? Was kann ich gegen diese Krankheit tun? Ein selbstbestimmtes Leben mit MS ist möglich. Das wichtigste ist, dass Sie Neuerungen im Alltag gut für sich annehmen können und kontinuierlich umsetzen. Besonders wichtig sollte Ihnen sein auf sich selbst und das eigene Befinden noch mehr zu achten und Ihre Bedürfnisse entsprechend anzupassen.

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