Vom Auge zum Gehirn: Informationsverarbeitung im visuellen System

Die visuelle Wahrnehmung ist ein komplexer Prozess, der mit der Umwandlung von Licht in elektrische Signale in der Netzhaut des Auges beginnt und mit der Interpretation dieser Signale im Gehirn endet. Dieser Artikel beleuchtet die verschiedenen Stufen der Informationsverarbeitung im visuellen System, von der Netzhaut bis zum visuellen Kortex, und untersucht, wie das Gehirn visuelle Informationen analysiert, ordnet und versteht.

Die Netzhaut: Vorverarbeitung visueller Informationen

Die Netzhaut, auch Retina genannt, ist ein Teil des Gehirns, der sich im Auge befindet. Sie wandelt nicht nur Licht in elektrische Signale um, sondern führt auch eine erste Analyse der gesehenen Szene durch. Verschiedene Ganglienzelltypen in der Netzhaut sind für die Verarbeitung von Farben oder Bewegungen zuständig. Die Netzhaut gleicht einem Spezialprozessor zur Bildverarbeitung und übermittelt Eigenschaften wie Helligkeit, Kontrast und Farbe sowie räumlich-zeitliche Informationen wie Umrisse, Bewegung und deren Richtung an das Gehirn.

Die Netzhaut enthält etwa 70 verschiedene Typen von Nervenzellen, die in Schaltkreisen organisiert sind. Diese Schaltkreise filtern unterschiedliche Informationen aus Lichtreizen heraus. Bipolarzellen, eine Klasse von Interneuronen, empfangen direkten Eingang von den Photorezeptoren und leiten Signale mit unterschiedlichen chromatischen, zeitlichen und räumlichen Eigenschaften zu Ganglien- und Amakrinzellen. Amakrinzellen, die mit knapp 40 Typen die umfangreichste Klasse von retinalen Interneuronen bilden, modulieren das Antwortverhalten der Ganglienzellen, sodass diese auf bestimmte Reizeigenschaften ansprechen.

Ein wichtiger Mechanismus in der Netzhaut ist die Anpassung an unterschiedliche Lichtverhältnisse. Stäbchen sind sehr lichtempfindlich und ermöglichen das Sehen in der Nacht, während Zapfen weniger empfindlich sind und das Sehen bei Tageslicht ermöglichen. Der Ionenkanal HCN1 in den Stäbchen wirkt wie eine molekulare Notbremse, um Blendung durch helle Lichtreize zu minimieren.

Die Sehbahn: Eine Hochgeschwindigkeitsstrecke zum Gehirn

Die Sehbahn leitet visuelle Signale blitzschnell an das Gehirn weiter. Der Sehnerv, bestehend aus rund einer Million Axonen der Ganglienzellen der Netzhaut, verlässt das Auge und trifft nach etwa 4,5 Zentimetern auf das Chiasma opticum, die Sehnervenkreuzung. Hier wechselt rund die Hälfte der Fasern aus den beiden Nervensträngen die Richtung, während die andere Hälfte auf der Seite des Auges verbleibt, dem sie entspringen.

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Ein Effekt dieser komplizierten Verschaltung ist, dass jede Hälfte des visuellen Kortex nur Informationen über eine Seite des Gesichtsfeldes erhält - aber von beiden Augen. Ein anderer Effekt ist, dass auf diese Weise das gesamte System auf Effizienz und Schnelligkeit getrimmt wird. So wird schon im Zwischenhirn vom seitlichen Kniehöcker, dem Corpus geniculatum laterale, anhand der Informationen aus den verschiedenen Gesichtsfeldhälften ein Feedback an die Augen gefunkt, ob zum Beispiel die Helligkeitsadaptation der Pupille verbessert werden muss.

Jenseits der Sehnervenkreuzung ändert sich die Bezeichnung des Sehnervs zu Tractus opticus oder Sehtrakt. Die meisten Nervenfasern ziehen Richtung Hinterkopf, während ein kleiner Teil Input für die "innere Uhr" im Hypothalamus liefert. Der Großteil der Fasern erreicht mit dem seitlichen Kniehöcker die einzige Umschaltstation zwischen Netzhaut und primärer Sehrinde. Diese Verschaltstelle ist entscheidend für die Fähigkeit, visuelle Eindrücke nahezu ohne Verzögerung wahrnehmen zu können.

Der seitliche Kniehöcker besteht aus sechs Schichten, die jeweils bestimmte Nervenfasern aufnehmen. Die Schichten 1 und 2 sind die magnozellulären Schichten, die vor allem auf Bewegungen reagieren, während die parvozellulären Schichten 3 bis 6 Input für die Verarbeitung von Form und Farbe liefern.

Der Visuelle Kortex: Analyse und Interpretation visueller Informationen

In der Sehrinde erst beginnt die eigentliche Analyse des Gesehenen. Von der Codierung des Bildes in der Netzhaut bis zu den ersten messbaren Impulsen in der primären Sehrinde vergehen bei gesunden Menschen kaum 100 Millisekunden. Die Ummantelung der Nervenfasern mit Myelinhüllen ermöglicht eine sehr hohe Leitungsgeschwindigkeit.

Die primäre Sehrinde (V1) ist der erste kortikale Bereich, der visuelle Informationen verarbeitet. Sie ist retinotop organisiert, was bedeutet, dass benachbarte Fotorezeptoren der Netzhaut Signale an benachbarte Cortexneuronen senden. Diese Landkarte des Gesehenen ist stark verzerrt, wobei die Fovea, der Ort des schärfsten Sehens auf der Netzhaut, überproportional betont wird.

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Innerhalb der Sehrinde existieren Gruppen von Nervenzellen, die auf spezifische Teilaufgaben spezialisiert sind. Zur Objekterkennung im Schläfenlappen gibt es zum Beispiel Gruppen von Neuronen, die besonders sensibel auf Formen wie Dreiecke oder Sterne oder auch auf Gesichter reagieren. Diese Neuronengruppen sind lernfähig, was erklärt, warum Experten auf ihrem Gebiet, wie Weinkenner oder Ärzte, feinste Details wahrnehmen können.

Nach der ersten Analyse in der primären Sehrinde fließen die Daten auf zwei Wegen in nachgeschaltete Areale des Gehirns:

  • Die dorsale Verarbeitungsbahn (Wo-Bahn): Sie reicht Informationen zum Scheitellappen und übernimmt die Lokalisation von Dingen im Raum und Bewegungen.
  • Die ventrale Verarbeitungsbahn (Was-Bahn): Sie führt zum Schläfenlappen und konzentriert sich auf Informationen wie die Objekterkennung.

Die beiden parallelen Verarbeitungsströme treffen letztendlich im Stirnlappen erneut zusammen. Zudem gleicht das Gehirn die Analyse auch mit Information aus anderen Ebenen ab, wie den Eindrücken aus Hör- und Gleichgewichtssystem, dem Tast- oder dem Riechsinn.

Aufmerksamkeit und visuelle Wahrnehmung

Das menschliche Gehirn verarbeitet kontinuierlich Sinnesreize, die im Wettstreit um unsere Aufmerksamkeit stehen. Unsere Fähigkeit der Selektion ermöglicht es uns, gezielt Informationen zu verarbeiten und irrelevante Reize zu ignorieren. Studien haben gezeigt, dass Mikrosakkaden, kaum wahrnehmbare winzige Augenbewegungen, die Aufmerksamkeit auf Sinnesreize in der Peripherie lenken, ohne bewusst wahrgenommen zu werden.

Allerdings ist die Aufmerksamkeit eine streng begrenzte Ressource. Wenn unsere Aufmerksamkeit auf eine bestimmte Aufgabe oder ein bestimmtes Objekt gerichtet ist, können wir andere Reize in unserer Umgebung übersehen (attentional blindness).

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Visuelle Wahrnehmungsstörungen

Visuelle Wahrnehmungsstörungen können vielfältige Ursachen haben, wie z. B. Verletzungen der Sehnerven, Schäden durch Schlaganfälle im Gehirn oder ein schlechtes Sehvermögen. Sie können sich in unterschiedlichen Formen äußern, wie z. B. der Unfähigkeit, Gesichter zu erkennen (Prosopagnosie) oder der Unfähigkeit, Objekte im Raum zu lokalisieren.

Die Auswirkungen einer visuellen Wahrnehmungsstörung sind individuell und können die schulische und persönliche Entwicklung eines Menschen nachhaltig beeinträchtigen. Eine frühzeitige Diagnose und Therapie sind daher entscheidend.

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