Epilepsie ist eine neurologische Erkrankung, von der etwa 1 % der Bevölkerung betroffen ist. Prominente Persönlichkeiten wie Sokrates, Charles Dickens, Albert Einstein und Vincent van Gogh litten an Epilepsie und zeigten, dass Menschen mit dieser Erkrankung außergewöhnliche Leistungen erbringen können. Dieser Artikel beleuchtet die Symptome, Anfallsformen, Diagnose, Behandlung und pflegerischen Maßnahmen im Zusammenhang mit Epilepsie, um Pflegekräfte und Medizinische Fachangestellte (MFA) umfassend zu informieren.
Was ist Epilepsie?
Epilepsie ist gekennzeichnet durch eine vorübergehende übermäßige oder fehlerhafte Aktivität in beiden Gehirnhälften oder in einzelnen Bereichen des Gehirns. Diese Aktivität führt zu einem epileptischen Anfall, dessen genaue Ausprägung davon abhängt, welche Nervenzellgruppen betroffen sind und welche Funktionen diese haben. Die Symptome eines epileptischen Anfalls können vielfältig sein und sowohl motorische (z. B. Muskelzuckungen, Krämpfe) als auch sensorische (z. B. Gefühlsstörungen, visuelle Veränderungen), vegetative (z. B. Schweißausbrüche, Herzrasen) und psychische Symptome umfassen. Ein einzelner Krampfanfall bedeutet jedoch noch nicht, dass eine Person an Epilepsie leidet.
Laut der Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN) wird Epilepsie definiert als das Auftreten von mindestens zwei epileptischen Anfällen ohne erkennbare Auslöser im Abstand von mehr als 24 Stunden oder einem Anfall, bei dem Hinweise auf eine Neigung zu weiteren Anfällen vorliegen. Rund 0,5 bis 0,9 % der deutschen Bevölkerung leiden an einer Form von Epilepsie, wobei die Erkrankung am häufigsten in der Kindheit und Jugend sowie im höheren Lebensalter auftritt.
Es ist wichtig zu betonen, dass Epilepsie nicht zwangsläufig eine lebenslange Erkrankung sein muss. Wenn Patienten mindestens 10 Jahre anfallsfrei sind und seit mindestens 5 Jahren keine Antiepileptika mehr einnehmen, gilt die Epilepsie als überwunden. Das Rezidivrisiko (Rückfallrisiko) ist in diesen Fällen jedoch nicht bekannt.
Anfallsformen: Von der Aura bis zum Status epilepticus
Epileptische Anfälle lassen sich grundsätzlich in fokale und generalisierte Anfälle unterteilen, die wenige Sekunden bis mehrere Minuten dauern können. Ein Anfall, der länger als 5 Minuten anhält, wird als „Status epilepticus“ bezeichnet. In der Regel haben Menschen mit Epilepsie zwischen den Anfällen keine körperlichen Beschwerden.
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Aura
Manche Patienten berichten vor dem sichtbaren Anfall über eine sogenannte Aura, ein „Vorgefühl“ vor dem Anfall. Dieses Vorgefühl kann sich in Form eines bestimmten Gefühls, eines Geruchs, Geschmacks oder auch Lichtblitzen äußern. Die Aura ist bereits Teil des epileptischen Anfalls und kann sich z.B. als aufsteigendes Unwohlsein, Sprachstörung, Schwindel oder Gedächtnisstörung zeigen. Manchmal ist die Aura aber auch das einzige spürbare Zeichen eines epileptischen Anfalls.
Fokale Anfälle
Fokale Anfälle entstehen in einem bestimmten Bereich des Gehirns. Je nachdem, wofür der betroffene Hirnbereich zuständig ist, kann es zum Beispiel zum Zucken eines Arms (motorischer Anfall), einer Gefühlsstörung (sensorischer Anfall) oder einer Veränderung des Sehens (visueller Anfall) kommen. Fokale Anfälle können mit Zuckungen oder Krämpfen einhergehen und sich in einigen Fällen auf das gesamte Hirn ausbreiten, wodurch der zunächst fokale Anfall zu einem generalisierten Anfall wird. Manchmal können fokale Anfälle das Bewusstsein einschränken.
Fokale Anfälle werden auch als partielle oder lokalisationsbezogene epileptische Anfälle bezeichnet. Diese Anfälle gehen immer von einem bestimmten Bereich des Gehirns aus und betreffen in der Regel nur eine Gehirnhälfte. Man unterscheidet fokale Anfälle mit Bewusstseinseinschränkung (früher auch komplex-fokal genannt) und fokale Anfälle ohne Bewusstseinseinschränkung (früher einfach fokale Anfälle). Im ersten Fall nimmt der Patient oder die Patientin den epileptischen Anfall nicht bewusst wahr und kann sich später an nichts erinnern. Bei Erwachsenen ist dies die am häufigsten beobachtete Anfallsform.
Generalisierte Anfälle
Generalisierte Anfälle erfassen beide Gehirnhälften. Sie sind nicht unbedingt schwerer als fokale Anfälle, es kommt jedoch häufiger zu Bewusstlosigkeit und Krämpfen im ganzen Körper. Zu den motorischen generalisierten Anfällen zählen u. a.:
- Tonisch-klonische Anfälle (Grand-Mal-Anfälle): Zunächst meist Sturz zu Boden, evtl. mit einem Schrei und Bewusstlosigkeit, danach oft tonische Phase mit steif gestreckten Gliedmaßen, Atemstillstand (Patient wird blau) und weiten, lichtstarren Pupillen, anschließend klonische Phase mit Zuckungen am ganzen Körper, evtl. Zungen- oder Wangenbiss (Schaum vor dem Mund) und Urin- oder Stuhlabgang. Aufhören der Zuckungen in aller Regel nach wenigen Minuten, nach dem Anfall Schlaf- und Orientierungsphase, später oft Amnesie (Patient erinnert sich nicht).
- Klonische Anfälle: Rhythmische Muskelzuckungen, oft langsamer werdend.
- Tonische Anfälle: Muskelverkrampfungen (Streckung der Extremitäten), teilweise über Minuten.
- Atonische Anfälle: Sturz durch Tonusverlust der Muskulatur.
- Absencen: Diese generalisierten Anfälle sind charakterisiert durch eine Bewusstseinspause, meist ein kurzes Innehalten.
Status epilepticus
Selten hält ein epileptischer Anfall lange an. Wenn er länger als 5 Minuten dauert oder eine Serie von Anfällen auftritt, spricht man von einem „Status epilepticus“. Dies ist ein lebensbedrohlicher Notfall, der schnell mit Medikamenten behandelt werden muss.
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Postiktale Phase
Nach einem epileptischen Anfall befinden sich die Patienten häufig in einer Reorientierungsphase, der postiktalen Phase. Diese Phase kann einige Minuten bis mehrere Stunden andauern und Symptome wie Sprachstörungen, Vigilanzminderungen, Lähmungen und Gedächtnisstörungen umfassen. Teilweise treten auch psychische Störungen bis hin zu aggressivem Verhalten auf.
Diagnose von Epilepsie
Um die Diagnose Epilepsie zu stellen, ist vor allem die Krankengeschichte wichtig: Wann und unter welchen Umständen ist der Anfall aufgetreten? Wie hat er sich geäußert? Hier ist es hilfreich, dass eine Person mit zum Arzttermin kommt, die den Anfall miterlebt hat und ihn beschreiben kann. Auch wird bei einem Epilepsie-Verdacht eine körperliche und neurologische Untersuchung durchgeführt und ein Elektroenzephalogramm (EEG) gemacht, das auf eine erhöhte Anfallsneigung hindeuten kann. Ein EEG allein reicht aber für die Diagnose Epilepsie nicht aus. Daher gehört eine Magnetresonanztomografie (MRT) grundsätzlich zur Absicherung einer Epilepsie-Diagnose. Dabei können Veränderungen im Gehirn entdeckt werden, die die Anfälle auslösen könnten.
Weitere diagnostische Verfahren
- Lumbalpunktion: Bei dieser Diagnostik wird mit einer speziellen Nadel eine kleine Menge Liquor (Gehirn- und Rückenmarkflüssigkeit) aus dem Wirbelkanal (Spinalkanal) gewonnen und im Labor untersucht. Der Liquor gibt Auskunft über mögliche krankhafte Prozesse im Gehirn- und Rückenmarkbereich.
- Spezielle Diagnostik: Sind Kernspintomographie und EEG-Untersuchungen unauffällig, gibt es weitere bildgebende Verfahren zur Lokalisierung des Epilepsieherdes. Diese sollten bei schwer behandelbarer Epilepsie angewendet werden und spezialisierten Einrichtungen vorbehalten sein, da die Interpretation der Ergebnisse einer großen Expertise bedarf.
- Neuropsychologische Tests: Einbußen in Gedächtnis und Konzentration durch die individuelle Behandlung können erfasst und im Verlauf kontrolliert werden. Darüber hinaus können die Auswirkungen der Erkrankung auf den Lebensalltag der Patienten in Tests gemessen und im Verlauf immer wieder kontrolliert werden.
- Eigene Videodokumentation per Smartphone: Im Zeitalter der Smartphones plädieren die Experten sehr dafür, dass Familienangehörige oder enge Freunde den Anfall des Betroffenen als Video aufnehmen und den behandelnden Ärzten zukommen lassen. Denn: Allein durch die Aufzeichnungen der sichtbaren Anfallsphänomene kann der Verdacht auf eine bestimmte Lokalisation des Epilepsieherds im Gehirn geäußert werden.
Behandlung von Epilepsie
In der Regel ist nach dem zweiten Anfall eine medikamentöse Behandlung mit Antiepileptika erforderlich, bei hohem Risiko auch schon nach dem ersten. Die Therapie muss über mindestens 2 Jahre durchgeführt werden, oft sogar lebenslang. Die Therapie erfolgt mit Antiepileptika (Arzneimittel, die epileptische Anfälle unterdrücken). Es sollte zunächst versucht werden, mit nur einem Antiepileptikum auszukommen (Monotherapie). Erst wenn die Dosis wegen starker Nebenwirkungen nicht mehr erhöht werden kann und die Person immer noch nicht anfallsfrei ist, sollte das Arzneimittel gewechselt oder eine Kombination unterschiedlicher Medikamente versucht werden. Das Ansetzen, Umstellen oder Absetzen der Antiepileptika erfolgt in der Regel schrittweise („Ein-, Ausschleichen“). Um die richtige Dosis zu finden, wird der Arzneimittelspiegel regelmäßig kontrolliert.
Weitere Behandlungsmöglichkeiten
- Neurostimulation: Vagusnervstimulation (VNS), Tiefe Hirnstimulation, Transcutane Vagusnervstimulation (T-VNS)
- Epilepsiechirurgie: Bei schwer von Epilepsie Betroffenen kann im Rahmen eines stationären Aufenthaltes in einem Epilepsiezentrum geklärt werden, ob ein operativer Eingriff zur Behandlung der Epilepsie möglich ist und mit welchen Chancen auf Heilung oder Besserung der Symptome, aber auch mit welchen Risiken (Sprachstörungen, Lähmungen, usw.) zu rechnen ist.
Pflegerische Maßnahmen während eines Anfalls
Während eines Krampfanfalls gilt es, den Betroffenen vor weiteren Gefahren zu schützen. Das umfasst:
- Atemwege sichern
- Gegenstände aus dem Weg räumen
- Betroffene zur Sturzprävention auf den Boden gleiten lassen
- Den Kopf abpolstern, um ihn vor Verletzungen zu schützen.
Keinesfalls sollten die Betroffenen festgehalten werden oder ihnen ein Beißkeil in den Mund geschoben werden, weil dadurch Lippen, Zähne und Gaumen verletzt werden können. Auch sollten ihnen wegen der Aspirationsgefahr keine Flüssigkeiten oder Arzneimittel oral eingeflößt werden.
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Pflegekräfte sollten während des Krampfanfalls unbedingt die Ruhe bewahren und beruhigend auf den Patienten einwirken. Sie sollten ihn nicht allein lassen und bei unklarer Diagnose sofort einen Arzt benachrichtigen. Auch sollten sie den Betroffenen gut beobachten, damit sie die Dauer, Uhrzeit, den Ablauf und die Besonderheiten des Krampfanfalls später genau dokumentieren können.
Nach dem Anfall sollten die Pflegenden die Betroffenen in die stabile Seitenlage bringen, bis sie ihr Bewusstsein vollständig wiedererlangt haben (Aspirationsprophylaxe) und ggf. Erbrochenes entfernen. Bei Bedarf: Mund- und Körperpflege durchführen, Wäsche nach unkontrolliertem Urinabgang wechseln, Mundraum auf Zungen- oder Wangenbiss kontrollieren, für Ruhe sorgen sowie Bewusstsein und Vitalzeichen engmaschig überwachen.
Grundsätzlich gilt: Ein epileptischer Anfall, der maximal 2 Minuten dauert, kann nicht medikamentös unterbrochen werden.
Was tun beim Status epilepticus?
Ein Status epilepticus (Anfall ≥ 5 Min. oder Serie von Anfällen ohne zwischenzeitliche Erholung) ist lebensbedrohlich und muss immer medikamentös unterbrochen werden. Ein Status epilepticus kann dazu führen, dass das Gehirn nicht mehr ausreichend mit Sauerstoff versorgt wird, sodass Herz und Lunge versagen.
Die Leitlinie „Status epilepticus im Erwachsenenalter“ empfiehlt zur Akuttherapie:
- Bei Vorhandensein eines venösen Zugangs sollte i.v.-Injektion zur Krampfunterbrechung gegeben werden: Lorazepam, Clonazepam, Midazolam oder Diazepam.
- Bei Patienten ohne i.v.-Zugang sollte Midazolam intramuskulär per Applikator oder intranasal (als Einzelgabe) appliziert werden.
- Alternativ zu Midazolam können bei fehlendem i.v.-Zugang Diazepam rektal oder Midazolam bukkal (in der Wangentasche) angewendet werden.
Die Vitalparameter müssen sichergestellt werden und die Betroffenen vor Selbstgefährdung geschützt werden. Eine Intubationsbereitschaft muss immer gesichert sein.
Prävention und Gesundheitsberatung
Ein wichtiger Aspekt in der Betreuung von Menschen mit Epilepsie ist die Prävention. Betroffene sollten einen regelmäßigen Tagesablauf einhalten und anfallsauslösende Faktoren meiden, z. B. Schlafentzug, Flackerlicht (Diskothek, Videospiele) oder Alkohol in größeren Mengen. Wird ein regelmäßiger Anfallskalender geführt, ist es möglich, Auslöser und Medikamentenwirkungen nachvollziehen zu können. Zudem sollten Betroffene immer einen Notfallausweis mit Erste-Hilfe-Maßnahmen mitführen und Kollegen bzw. Lehrer informieren.
Wichtig ist auch, die Betroffenen im Umgang mit Antiepileptika zu schulen: Diese dürfen nicht eigenmächtig umgestellt oder abgesetzt werden. Oft gibt es Wechselwirkungen mit anderen Medikamenten, z. B. gegen Schmerzen oder Fieber. Hier sollte der behandelnde Arzt gefragt werden, welche zusätzlichen Medikamente eingenommen werden können. Auch sollten die Betroffenen Kenntnis über mögliche Nebenwirkungen haben. Alle behandelnden Ärzte sollten über die Epilepsie informiert sein. Sinnvoll sind auch spezielle Schulungsprogramme.
Anzustreben ist ein selbstbestimmtes, weitgehend „normales“ Leben mit Epilepsie. Dennoch sollten die Betroffenen:
- sich mit Alkohol zurückhalten,
- keinen Beruf mit erhöhter Selbst- oder Fremdgefährdung (z. B. Kraftfahrer) oder unregelmäßiger Lebensführung (Schichtarbeit) wählen,
- keinen Sport mit erhöhter Selbst- oder Fremdgefährdung treiben.
Das Führen eines (Privat-)Fahrzeugs ist nur erlaubt, wenn Anfallsfreiheit von wenigen Monaten bis 2 Jahren (je nach Erkrankungsform) und ein unauffälliges EEG vorliegen. Schwangerschaften sind in aller Regel möglich. Frauen sollten vorher Rücksprache mit dem Arzt halten, um ggf. Eine Epilepsie kann die Lebenserwartung verkürzen, muss es aber nicht. Das hängt stark von der Ursache und der Grunderkrankung ab. Hat die Epilepsie z. B. eine genetische Ursache haben die Betroffenen eine ähnliche Lebenserwartung wie Menschen ohne Epilepsie. Die Epilepsie selbst kann jedoch zum Tod führen, wenn jemand aufgrund eines Anfalls einen Unfall hat und sich lebensgefährlich verletzt oder es beim Status epilepticus zu Herz- und Lungenversagen kommt.
Extrem selten ist es, dass Menschen mit Epilepsie plötzlich und unerwartet sterben. Dieses Phänomen wird als „sudden unexpected death in epilepsy“ (kurz SUDEP) bezeichnet. Eine Aufklärung darüber sollte frühzeitig erfolgen - auch, um die Therapieadhärenz zu fördern.
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