Multiple Sklerose: Epidemiologie, Ursachen und aktuelle Forschung in Europa

Multiple Sklerose (MS) ist eine chronisch-entzündliche Autoimmunerkrankung des zentralen Nervensystems (ZNS), die durch Entmarkungsherde und neuronale Zerstörung in der weißen und grauen Substanz gekennzeichnet ist. Der Krankheitsverlauf ist sehr variabel und manifestiert sich meist in Schüben. Obwohl die Forschung intensiv vorangetrieben wird, sind die genauen Ursachen von MS noch immer nicht vollständig geklärt.

Epidemiologie der Multiplen Sklerose in Europa

Globale und regionale Verteilung

Weltweit sind etwa 2,8 Millionen Menschen von MS betroffen. Die Verteilung der Erkrankung variiert regional. In Europa, insbesondere in den nördlichen Industrieländern, ist eine höhere Prävalenz zu beobachten. Seit den 1960er Jahren hat die Prävalenz in vielen Ländern deutlich zugenommen, wobei dieser Trend vor allem in Regionen mit überwiegend weißer Bevölkerung zu beobachten ist. Im Gegensatz dazu gibt es in der Äquatorregion weniger MS-Diagnosen.

Geschlechterverteilung und Altersdurchschnitt

Ein auffälliger Aspekt ist die zunehmende Anzahl von Frauen, die an MS erkranken. Bei der schubförmig remittierenden MS (RRMS) sind Frauen etwa dreimal häufiger betroffen als Männer. Die Gründe für diese Entwicklung werden weiterhin diskutiert. Das Durchschnittsalter bei der Diagnosestellung liegt weltweit bei etwa 32 bis 33 Jahren, wobei die Erkrankung grundsätzlich in jedem Alter auftreten kann.

Multiple Sklerose in Deutschland

In Deutschland wird die Zahl der MS-Erkrankten auf etwa 252.000 geschätzt, mit jährlich etwa 14.600 Neudiagnosen. Interessanterweise ist die jährliche Inzidenz im Westen Deutschlands höher als im Osten (19 vs. 15 Neuerkrankungen pro 100.000 Einwohner). Der Frauenanteil unter den MS-Patienten in Deutschland beträgt etwa 72 Prozent.

Eine Studie aus dem Jahr 2015 ergab, dass in Deutschland knapp 13.000 Menschen neu an MS erkrankten. Die Auswertung von Abrechnungsdaten von Vertragsärzten zeigte, dass die Anzahl der Patienten, die aufgrund von MS behandelt wurden, zwischen 2009 und 2015 um 29 Prozent anstieg. Im Jahr 2015 betrug der Anteil der MS-Patienten in der Bevölkerung 0,32 Prozent, was etwa 225.000 Betroffenen entspricht. Besonders häufig erkranken Frauen zwischen dem 25. und 29. Lebensjahr an MS. Regionale Unterschiede zeigten sich ebenfalls, wobei in den nordwestdeutschen Bundesländern besonders viele Menschen neu an MS erkrankten. Schleswig-Holstein erreichte den höchsten Wert mit 22 Neuerkrankungen pro 100.000 Versicherten. Insgesamt hatten Bundesbürger aus Westdeutschland ein um 20 Prozent höheres Risiko, an MS zu erkranken, als die Menschen in Ostdeutschland.

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Eine aktuelle Studie aus dem Jahr 2024 bestätigte, dass die MS-Inzidenz in Deutschland relativ stabil geblieben ist, trotz aktualisierter Diagnosekriterien. Zwischen 2015 und 2022 schwankte die Zahl der neu diagnostizierten MS-Fälle jährlich zwischen 9.507 und 10.633, wobei Frauen konstant etwa 68 % bis 71 % der Fälle ausmachten. Dies zeigt, dass Frauen weiterhin deutlich häufiger betroffen sind als Männer.

Verlaufsformen der MS

Die häufigste initiale Verlaufsform ist die schubförmig remittierende MS (RRMS), bei der Schübe mit vollständiger oder inkompletter Symptomremission einhergehen. In etwa 30 bis 40 Prozent der Fälle geht die RRMS nach 10 bis 15 Jahren in eine sekundär-chronisch progrediente Verlaufsform (SPMS) über, wobei nach mehr als 20 Jahren bis zu 90 Prozent der Patienten betroffen sind. Seltener ist die primär progrediente MS (PPMS), bei der die Behinderungsprogression von Beginn an erfolgt.

Ursachen und Risikofaktoren der Multiplen Sklerose

Multifaktorielle Pathogenese

Die genaue Pathogenese von MS ist noch nicht vollständig verstanden. Es wird von einer multifaktoriellen Pathogenese ausgegangen, bei der genetische Faktoren (30 Prozent) und Umwelteinflüsse (70 Prozent) sowie deren Wechselwirkungen eine Rolle spielen.

Genetische Prädisposition

Obwohl MS keine Erbkrankheit im klassischen Sinne ist, gibt es eine familiäre Häufung und ein erhöhtes Erkrankungsrisiko für Familienangehörige von MS-Erkrankten. Bislang wurden mehr als 110 genetische Variationen identifiziert, die bei MS-Erkrankten häufiger vorkommen. Viele dieser Genvarianten stehen in direkter Beziehung zum Immunsystem, wie beispielsweise die Allele des humanen Leukozytenantigen-Systems (HLA-Typ HLA-DRB1*15:01) und der TNF/TNFR-Familie (TNFR1-Variante rs1800693). Bei etwa der Hälfte der MS-Patienten wurden IgG-Autoantikörper gegen den ATP-sensitiven Kaliumkanal KIR4.1 auf der Zellmembran von Gliazellen nachgewiesen.

Umwelteinflüsse

Mehrere Umwelteinflüsse werden in der Krankheitsentstehung von MS diskutiert. Dazu gehören:

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  • Vitamin-D-Stoffwechsel: Die Sonnenlichtexposition und der damit verbundene Vitamin-D-Haushalt stehen im Fokus. Die Vitamin-D-Stoffwechselhypothese besagt, dass eine ausreichende Vitamin-D-Versorgung vor MS schützen könnte. Es gibt Hinweise auf eine unterschiedliche Anzahl von MS-Diagnosen in Gebieten mit unterschiedlicher UV-Exposition, wobei sonnenreiche Zonen tendenziell weniger Krankheitsfälle aufweisen. Allerdings ist die Kausalität noch nicht eindeutig ermittelt, und es ist unklar, ob ein Vitamin-D-Mangel Ursache oder Folge von MS ist.
  • Infektionen: Infektionen in der Kindheit könnten das Risiko erhöhen, später an MS zu erkranken. Es gibt eine auffällige Häufung von Immunreaktionen gegen das Epstein-Barr-Virus (EBV) und das Humane Herpesvirus 6 (HHV-6) bei Kindern und Jugendlichen mit MS. Die genaue Rolle einer dysregulierten Immunantwort gegen EBV oder HHV-6 in der Ätiopathogenese von MS ist jedoch noch unklar.
  • Umweltgifte, Rauchen, Ernährung und Mikrobiom: Ob Umweltgifte wie Amalgam, Quecksilber oder Blei das MS-Risiko erhöhen, ist nicht belegt. Nikotin scheint jedoch ein Risikofaktor zu sein, wobei Studien eine Risikoerhöhung um den Faktor 1,2 bis 1,8 zeigen. Menschen, die früh mit dem Rauchen beginnen, neigen eher zu chronischen MS-Verläufen und einer raschen Progredienz von Funktionseinschränkungen. Auch Ernährungsgewohnheiten, sportliche Aktivität und Übergewicht werden wissenschaftlich untersucht. Übergewicht, insbesondere bei Kindern und Jugendlichen, könnte das MS-Risiko erhöhen, möglicherweise durch Fettgewebshormone wie Leptin und Adiponektin.
  • Darm-Mikrobiom: Die im Darm lebenden Mikroorganismen scheinen die Entwicklung von MS zu beeinflussen. Der über das Mikrobiom wirkende Botenstoff Interleukin-17 ist ebenfalls von wissenschaftlichem Interesse. Eine Studie der LMU untersuchte Mikroorganismen im Dünndarm und fand 51 Bakterienarten, die sich bei gesunden und MS-betroffenen Zwillingen unterschieden. Experimente im Mausmodell deuteten darauf hin, dass bestimmte Bakterienarten, insbesondere Eisenbergiella tayi und Lachnoclostridium, für eine erhöhte Krankheitsinzidenz verantwortlich sein könnten.
  • Weitere Risikofaktoren: Eine bundesweite Fall-Kontroll-Studie ergab, dass Verwandte ersten oder zweiten Grades mit MS ein mehr als siebenfach erhöhtes Risiko tragen. Auch bestimmte Infektionen in der Kindheit, das Alter der Mutter bei der Geburt (Mütter über 30 Jahre), belastende Lebensereignisse und Übergewicht im Jugendalter wurden als Risikofaktoren identifiziert.

Pathophysiologie und Symptomatik

Pathophysiologische Mechanismen

Bei MS kommt es zu fokalen, chronisch-inflammatorischen Entmarkungsläsionen von ZNS-Nervenfasern, begleitet von axonalen Schädigungen, persistierenden Gewebenarben (Gliose) und Hirnatrophie. Die Demyelinisierung wird wahrscheinlich durch zelluläre und humorale Faktoren des angeborenen und erworbenen Immunsystems initiiert. Histologisch lassen sich in aktiven MS-Herden vier Muster differenzieren, die bei einzelnen MS-Patienten homogen, aber zwischen verschiedenen Patienten heterogen sind.

Klinische Symptomatik

Die klinische Symptomatik bei MS variiert stark und richtet sich nach Ausmaß und Lokalisation der Läsionen. Anfangs bilden sich die schubassoziierten Symptome meist vollständig zurück, im weiteren Krankheitsverlauf persistieren die neurologischen Defizite. Häufig beginnt die Erkrankung mit einem klinisch isolierten Syndrom (CIS), das durch akute oder subakute neurologische Funktionsstörungen gekennzeichnet ist, die mindestens 24 Stunden bestehen. Typische Symptome sind Augenschmerzen oder Sehstörungen infolge einer Optikusneuritis sowie sensible Ausfälle, Paresen und Koordinationsschwierigkeiten.

Definition eines MS-Schubs

Ein MS-Schub ist definiert als das Auftreten von neuen oder reaktivierten neurologischen Defiziten, die mindestens 24 Stunden anhalten, mehr als 30 Tage nach Beginn eines vorausgegangenen Schubs auftreten und nicht auf Hitzeexposition, Infektionen oder andere physische Ursachen zurückzuführen sind.

Typische Manifestationen und Symptome

Die Beschwerden bei MS reichen von leichten Beeinträchtigungen der Beweglichkeit bis zu schweren neurologischen Funktionseinschränkungen. Typische Manifestationen und Symptome sind:

  • Optikusneuritis
  • Störungen der Okulomotorik
  • Affektion anderer Hirnnerven
  • Motorische Störungen (Paresen, Spastik)
  • Ataxie
  • Sensibilitätsstörungen
  • Zerebelläre Symptome
  • Vegetative Symptome (Miktionsstörungen, Störungen der Sexualfunktion)
  • Kognitive Veränderungen (Konzentrations- und Gedächtnisstörungen)
  • Affektive Veränderungen (Depressionen, inadäquate Euphorie)
  • Uhthoff-Phänomen
  • Schmerzen
  • Spastik
  • Fatigue

Schmerzen

Schmerzen sind ein häufiges Symptom bei MS, wobei bis zu 80 Prozent der Patienten im Verlauf der Erkrankung an paroxysmalen oder persistierenden Schmerzen leiden. MS-assoziierte Schmerzen umfassen Kopfschmerzen, neuropathische Schmerzen und muskuloskelettale Schmerzen.

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Spastik

Eine Spastik betrifft bis zu 80 Prozent der MS-Patienten und äußert sich in muskulären Tonuserhöhungen, verlangsamten Bewegungsabläufen, gesteigerten Muskeleigenreflexen und pathologisch enthemmten Synergismen. Spastiken werden oft von Schmerzen, Kontrakturen und Blasenentleerungsstörungen begleitet.

Fatigue

Hochgradige Erschöpfbarkeit, Müdigkeit und ein erhöhtes Schlafbedürfnis belasten bis zu 90 Prozent der MS-Patienten. Fatigue ist eines der häufigsten Symptome und führt zu extremer Schwäche, Mattigkeit und Kraftlosigkeit.

Diagnostik der Multiplen Sklerose

Diagnosekriterien

Die Verdachtsdiagnose MS ergibt sich primär aus der Anamnese und Klinik. Bei Verdacht auf eine entzündlich-demyelinisierende Erkrankung des ZNS folgen Laboruntersuchungen und bildgebende Verfahren. Die Diagnose wird üblicherweise nach den international anerkannten McDonald-Kriterien gestellt.

Anamnese und körperliche Untersuchung

Zunächst werden Hinweise auf zurückliegende Schübe und Symptome ermittelt. Es folgen Fragen zu somatischen und psychischen Beschwerden, psychosozialen Belastungen sowie vorherigen oder bestehenden neuronalen Ausfällen und familiären MS-Diagnosen. Daneben erfolgt eine klinische Objektivierung zentraler neurologischer Defizite.

Klinische Untersuchung

Häufige Befunde bei der klinischen Untersuchung sind:

  • Marburg-Trias (temporale Abblassung der Sehnervenpapillen, Paraspastik und das Fehlen von Bauchhautreflexen)
  • Lhermitt’sches Zeichen
  • Sensibilitätsausfälle
  • Dysmetrische Zeigeversuche
  • Positives Babinski-Zeichen und gesteigerte Muskeleigenreflexe

Bildgebende Verfahren

Für die Diagnose MS ist der Nachweis einer zeitlichen und räumlichen Dissemination von Läsionen im ZNS erforderlich. Das geeignetste Verfahren dafür ist die Magnetresonanztomographie (MRT).

Labordiagnostik

Eine Untersuchung der Liquorflüssigkeit ist ein wichtiger Bestandteil der Differentialdiagnostik. Untersucht werden Zellzahl und Differenzialzellbild, Laktat, Albumin- und Ig-Quotienten sowie liquorspezifische oligoklonale Banden.

Therapie der Multiplen Sklerose

Krankheitsmodifizierende Therapien (DMTs)

Obwohl es keine Heilung für MS gibt, können krankheitsmodifizierende Therapien (DMTs) das Fortschreiten der Erkrankung verlangsamen und die Schubfrequenz reduzieren. DMTs umfassen verschiedene Substanzklassen wie Beta-Interferone, Glatirameracetat, monoklonale Antikörper und orale Medikamente. Die Wahl der Therapie hängt vom individuellen Krankheitsverlauf und den spezifischen Bedürfnissen des Patienten ab.

Symptomatische Therapie

Neben DMTs ist die symptomatische Therapie ein wichtiger Bestandteil der MS-Behandlung. Sie zielt darauf ab, die verschiedenen Symptome wie Spastik, Schmerzen, Fatigue, Blasenfunktionsstörungen und kognitive Beeinträchtigungen zu lindern. Hierzu stehen verschiedene Medikamente und nicht-medikamentöse Maßnahmen zur Verfügung.

Rehabilitation

Rehabilitationsmaßnahmen spielen eine wichtige Rolle bei der Verbesserung der Lebensqualität von MS-Patienten. Physiotherapie, Ergotherapie und Logopädie können helfen, motorische Fähigkeiten, Kognition und Kommunikationsfähigkeit zu verbessern.

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