Warum wurde das Gehirn im Laufe der Evolution größer?

Die Evolution des menschlichen Gehirns ist ein faszinierendes und komplexes Thema. Im Vergleich zu unseren nächsten Verwandten, den Menschenaffen, zeichnet sich das menschliche Gehirn durch seine enorme Größe und seine außergewöhnlichen kognitiven Fähigkeiten aus. Doch welche Faktoren haben zu dieser bemerkenswerten Entwicklung geführt?

Die Rolle der Neuronenzahl und -verschaltung

Eine naheliegende Erklärung für die gesteigerte kognitive Leistungsfähigkeit des menschlichen Gehirns ist die schiere Anzahl an Neuronen. Bedeutet das Mehr an Neuronen im Menschen auch mehr unterschiedliche Eigenschaften, was erklären könnte, weshalb wir so viele Geistesgaben vom Lesen bis zum vorausschauenden Handeln haben? Ich denke schon, dass mehr Neurone in der Großhirnrinde, wenn sie denn richtig verschaltet sind, die kognitiven Fähigkeiten potentiell erhöhen. Allerdings ist die bloße Anzahl nicht alles. Es könnte außerdem sein, dass das menschliche Neuron etwas macht, was das Schimpansenneuron so nicht kann. Wir sprechen über den Unterschied zwischen unserem Gehirn und dem des Schimpansen. Aber was unterscheidet uns auf kognitiver Ebene vom Neanderthaler? Der Neanderthaler hatte ein Gehirn, das mindestens so groß war wie unseres. Er hatte weniger frontalen Cortex, aber die Neuronenzahl dürfte vermutlich ähnlich gewesen sein. Es muss etwas Anderes sein, was den entscheidenden Unterschied macht. Was das ist, danach suchen Svante Pääbo und wir. Eine entscheidende Rolle spielt auch die Art und Weise, wie diese Neuronen miteinander verschaltet sind. Komplexe Netzwerke und Verbindungen ermöglichen es dem Gehirn, Informationen effizienter zu verarbeiten und zu speichern.

Verlängerung der Neurogenese

Neben der Neuronenzahl und -verschaltung spielt auch die Dauer der Neurogenese, also der Entstehung von Nervenzellen, eine wichtige Rolle. Wir können einfach mehr über den Unterschied zu Menschenaffen sagen, weil wir deren cortikale Stammzellen in vivo untersuchen können. Und da gibt es noch andere Eigenschaften, die uns trennen… Welche sind das? 2016 haben wir einen ganz spezifischen Unterschied in der Zellteilung der so genannten apikalen Stammzellen an im Labor erzeugten Minigehirnen von Schimpansen und Menschen gefunden: eine Verlängerung der Metaphase der Mitose. Das ist eine wichtige Phase in der Zellkernteilung, bevor die Chromosomen in die beiden Tochterzellen gezogen werden. Da lässt sich der Mensch fünfzig Prozent mehr Zeit. Wir wissen noch nicht genau, was das bedeutet. Das ist ein hochspezifischer Effekt. Wenn Sie einmal für uns mutmaßen: Was könnte diese gemächlichere Zellteilung denn bewirken? Eine wilde Spekulation: Wer langsamer ist, ist manchmal gründlicher. Vielleicht ist das bei der cortikalen Stammzellteilung auch so. Sprich: Die Fehlerrate bei der Verteilung des Erbmaterials könnte sinken. Bedeutet das letztlich auch, dass der Faktor Zeit das menschliche Gehirn zu dem macht, was es ist? So kann man es sagen. In diese Richtung deutet auch noch ein anderes Ergebnis unserer Forschung: Wir haben mathematisch modelliert, also am Computer nachgestellt, wie Neurone in verschiedenen Spezies entstehen. Das Muster der Stammzellteilungen in der Hirnrinde, die bei uns zu den 16 Milliarden Neuronen führt, würde auch zur geringeren Zahl an Neuronen in der Hirnrinde von Gorilla und Orang-Utan führen. Der Unterschied ist, dass bei uns die Entstehung von Nervenzellen ein paar Tage länger läuft. Das sorgt für die zwei bis dreifache Neuronenzahl in der menschlichen Großhirnrinde. Mit anderen Worten: Neben der Mutation in ARGHAP11B ist es die Verlängerung der Neurogenese, die das menschliche Gehirn hat größer werden lassen.

Genetische Faktoren

Die Verlängerung der Neurogenese und andere Prozesse, die zur Vergrößerung des Gehirns beitragen, sind vermutlich genetisch geregelt. Ja, die Ursachen sind genomisch. Mit Sicherheit ist auch die Entstehung der Nervenzellen genetisch gesteuert. Aber wir haben noch keinen kompletten Überblick über das Netzwerk dieser Gene. Die Dauer der Neurogenese geht übrigens interessanter Weise mit der Dauer der Schwangerschaft einher. Die dauert bei uns 280 Tage und damit länger als beim Schimpansen mit 237 Tagen. Das bedeutet eine längere Phase der Entstehung von Neuronen in der menschlichen Hirnrinde.

Das Gen ARHGAP11B

Ein Schlüsselgen, das eine wichtige Rolle bei der Vergrößerung des Gehirns spielt, ist ARHGAP11B. Dieses Gen kommt nur beim Menschen und unseren nächsten ausgestorbenen Verwandten, den Neandertalern und Denisova-Menschen, vor. Es bewirkt, dass sich die basalen Hirnstammzellen vermehren und dadurch mehr Nervenzellen gebildet werden können, was letztendlich zu einem größeren und gefalteten Gehirn führt. "Länger und langsamer" - vermutlich sind all diese Prozesse genetisch geregelt, oder? Führt am Ende jede Suche nach den Markenzeichen unseres Gehirns ins Genom?

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Die Genfamilie NOTCH2NL

Jüngste Studien haben die Bedeutung der Genfamilie NOTCH2NL für die Entwicklung der Hirnrinde hervorgehoben. Diese Gene greifen in den Prozess der Gehirnentwicklung ein, indem sie die Phase der Zellvermehrung verlängern und die Ausreifung in Nervenzellen verlangsamen, was zu einer erhöhten Nervenzellzahl und einer Vergrößerung der Großhirnrinde führt. Die für NOTCH2NL kodierenden drei Gene liegen nahe an einer Art ‚genomischen Sollbruchstelle' auf dem langen Arm des menschlichen Chromosoms Nr. 1. Diese genetisch fragile Umgebung ermöglichte die Herausbildung der für die kognitive Funktion des menschlichen Gehirns wichtigen Genduplikation von NOTCH2NL als eine Art evolutionäre Innovation.

Die Faltung der Hirnrinde

Ein weiterer wichtiger Unterschied zwischen dem menschlichen Gehirn und den Gehirnen anderer Säugetiere liegt in der Faltung der Hirnrinde. Das stimmt. Wir haben uns die Faltung, wir sagen: Gyrifikation, von 102 Säugetieren einschließlich des Menschen angeschaut. Diese Säugetiere untergliedern sich in zwei wesentliche Gruppen, eine mit gar nicht oder nur gering gefalteten Gehirnen, wozu Mäuse und Koboldmakis (sehr kleine Primaten) zählen, und eine mit stark gefalteten Gehirnen wie etwa Delfine und Menschen. Warum ist das so? Bei den Spezies in der Gruppe mit stark gefalteten Gehirnen entsteht pro Schwangerschaftstag vierzehn Mal mehr Hirnmasse im Föten als in der anderen Gruppe. Das ist beträchtlich. Und wir haben gefunden, dass diese Arten darüber hinaus oft eine verlängerte Phase der Bildung von Nervenzellen haben. Die Faltung ermöglicht es, eine größere Oberfläche an Hirnrinde innerhalb des begrenzten Schädelraums unterzubringen.

Ernährung und Sozialleben

Neben genetischen Faktoren spielen auch Umweltfaktoren eine Rolle bei der Evolution des Gehirns. Eine hochwertige Ernährung, insbesondere der Verzehr von Fleisch und anderen proteinreichen Nahrungsmitteln, lieferte die notwendige Energie für das Wachstum und die Entwicklung des Gehirns. Oft wird als gegeben angesehen, daß in der Ordnung der Primaten irgendein Zusammenhang zwischen relativer Hirngröße und Intelligenzgrad bestehe, und zwar soll sich dies wiederum hauptsächlich im Bereich der Nahrungssuche und des Sozialverhaltens zeigen. (Gerade wachsende Komplexität des Lebens in Gruppen ist als mögliche Erklärung speziell für die Zunahme des menschlichen Hirnvolumens vorgeschlagen worden, wobei der Ausbildung des Sprachvermögens eine wichtige Funktion zugeschrieben wird.) Die Vermutung, die relative Hirngröße hänge unmittelbar mit den Erfordernissen der Nahrungssuche zusammen, rührt von der Beobachtung her, daß laubfressende Primaten gewöhnlich relativ kleinere Gehirne aufweisen als fruchtfressende (Spektrum der Wissenschaft, Oktober 1993, Seite 68). Unter den Altweltaffen beispielsweise haben die Schlank- und Stummelaffen (Unterfamilie Colobinae), die sich überwiegend von Blättern ernähren, durchweg kleinere Relativwerte als die Meerkatzen und deren Verwandte (Unterfamilie Cercopithecinae), die Früchte bevorzugen.

Auch das komplexe Sozialleben der frühen Menschen trug zur Entwicklung des Gehirns bei. Das Leben in Gruppen erforderte ein hohes Maß an Kommunikation, Zusammenarbeit und Problemlösungsfähigkeiten.

Mögliche zukünftige Entwicklungen

Wird unser Gehirn nochmals einen Sprung in seiner Entwicklung erfahren? Das stelle ich mir schwierig vor. Es ist kaum vorstellbar, dass sich eine einzige Mutation im Genpool von sechs Milliarden Menschen durchsetzt. Je größer eine Population, desto unwahrscheinlicher ist das. Das haben wir von Darwin gelernt. Die kleinen Populationen auf den Galapagos-Inseln konnten mutieren und neue Charakterzüge ausbilden. Aber wo haben wir noch abgeschiedene bewohnte Inseln ohne Reiseverkehr und Heiratsmigration? Menschen mit besonderen kognitiven Gaben entstehen natürlich andauernd, aber einen Sprung für die intellektuellen Fähigkeiten der gesamten Menschheit sehe ich aktuell eher nicht. Es ist jedoch unwahrscheinlich, dass unser Gehirn in naher Zukunft nochmals einen so dramatischen Sprung in seiner Entwicklung erfahren wird.

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