Watanabe Epilepsie Genetik

Die Genetik der Epilepsie, insbesondere im Zusammenhang mit dem Watanabe-Syndrom und anderen frühkindlichen Epilepsieformen, hat in den letzten Jahrzehnten erhebliche Fortschritte gemacht. Diese Fortschritte haben unser Verständnis der Pathophysiologie dieser Erkrankungen vertieft und die Tür zu potenziellen personalisierten Therapieansätzen geöffnet.

Historischer Hintergrund und Definitionen

1987 beschrieb Watanabe erstmals eine gutartige Epilepsie mit komplexen partiellen Anfällen bei Säuglingen und Kleinkindern (BPEI), die in 50 % der Fälle familiär auftritt. Spätere Studien von Vigevano zeigten, dass diese Familien die von Watanabe definierten Kriterien erfüllten, jedoch einen autosomal-dominanten Erbgang und eine Kopplung auf Chromosom 19q aufwiesen. Diese Beobachtungen deuten darauf hin, dass es sich bei benignen NF/AD infantilen Anfällen um zwei genetisch distinkte, aber klinisch verwandte Epilepsiesyndrome mit gutartigem Verlauf handeln könnte.

Historisch wurden Epilepsien hauptsächlich als Veränderungen an Ionenkanälen und Neurotransmittern verstanden. Dementsprechend werden derzeit überwiegend Antikonvulsiva eingesetzt, die als Ionenkanalblocker wirken oder durch Interaktion an γ-Aminobuttersäure(GABA)- bzw. Glutamatrezeptoren wirken. Diese Medikamente sind jedoch keine Antiepileptika im eigentlichen Sinne, da sie nicht spezifisch die pathophysiologischen Prozesse beeinflussen, die die individuelle Epilepsie auslösen.

Neue genetische Erkenntnisse

Dank neuer genetischer Diagnosemöglichkeiten wie der Hochdurchsatzsequenzierung (Next-Generation Sequencing, NGS) oder Whole Exome Sequencing (WES) ist seit Anfang dieses Jahrtausends die Zahl neu entdeckter Epilepsiegene rasant angestiegen. Aktuell sind etwa 30-40 % der Epilepsien mit einer Genmutation assoziiert. Die diagnostische Ausbeute des NGS ist bei epileptischen Enzephalopathien mit frühem Beginn der epileptischen Anfälle höher als bei später manifestierenden Epilepsien. Etwa 80 % der in Epilepsie-Panels gefundenen Genveränderungen sind in den 13 häufigsten Genen lokalisiert.

Die 13 häufigsten Gene für monogenetische Epilepsien

(Lindy et al.)

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Entwicklungsbedingte epileptische Enzephalopathie (DEE)

Lange wurde in dieser Altersgruppe der Begriff der epileptischen Enzephalopathie verwendet, unter der Vorstellung, dass die Epilepsie und die epileptische Aktivität im EEG zu einer Enzephalopathie führen. Bei vielen Epilepsien ist es jedoch schwierig, den Einfluss der Epilepsie und den der Grunderkrankung auf die epileptische Enzephalopathie zu unterscheiden. Daher wurde der Begriff der "developmental epileptic encephalopathy (DEE)" eingeführt. Dieser Begriff beschreibt das Nebeneinander von Entwicklungsauffälligkeiten und epileptischer Enzephalopathie, basierend auf einer gemeinsamen Ätiologie.

Ein Beispiel hierfür ist die multinationale europäische EPISTOP-Studie, die den prophylaktischen Einsatz von Vigabatrin zur Vorbeugung eines West-Syndroms bei Kindern mit tuberöser Sklerose (TS) untersuchte. Die Ergebnisse zeigten, dass sich das kognitive Outcome in der Studiengruppe trotz frühzeitigem Therapiebeginn nach 2 Jahren nicht signifikant von der Kontrollgruppe unterschied. Da die TS eine systemische Erkrankung infolge einer genetisch bedingten Störung des mTOR-Mechanismus ist, stellt die auch zur Epilepsiebehandlung zugelassene Therapie mit dem mTOR-Inhibitor Everolimus ein Modell für eine personalisierte Therapie im Sinne der molekularen Pädiatrie dar. Die Therapie ist gegen die Anfälle und zur Reduktion von Tuberomen bei TS wirksam, zeigte jedoch in Studien bislang noch keine Verbesserung der Kognition. Zudem ist sie teuer und nicht ohne Nebenwirkungen, und die Folgen einer Langzeittherapie bis ins Erwachsenenalter sind unklar.

Das Network for Therapy of Rare Epilepsies (NETRE)

Trotz des in den letzten 20 Jahren immens gewachsenen Grundlagenverständnisses für Epilepsien ist weder der Prozentsatz der anfallsfreien Patienten noch der gezielten, also personalisierten Therapien bei den insgesamt sehr vielen neuen, assoziierten Genen signifikant angestiegen. Insbesondere für den behandelnden Neuropädiater ergibt sich oft die Herausforderung, Eltern umfassend über die Bedeutung eines neu gefundenen Gens bezüglich der Prognose und Therapie zu beraten, da es oft auch in der Literatur an Therapieempfehlungen mangelt.

Um den Austausch zwischen Eltern, Wissenschaftlern und Ärzten zu fördern, wurde das Network for Therapy of Rare Epilepsies (NETRE) initiiert. NETRE ist in Gruppen mit je einem Koordinator gegliedert, wobei Ausgangspunkt für jede Gruppe ein Patient mit einer seltenen Epilepsieursache ist. Erfahrungen aus der Gruppe werden an die Koordinatoren gemeldet, die diese pseudonymisiert zusammentragen. NETRE ist unabhängig von finanziellen Zuwendungen oder Sponsoren.

Eltern sind oft dankbar, wenn sie über NETRE internationalen ärztlichen Rat bekommen und sich dadurch nicht allein fühlen mit einer seltenen Krankheitsursache bei ihrem Kind. Diese positiven Erfahrungen in der Zusammenarbeit mit Eltern sind die Grundlage für das Projekt "Patient based phenotyping and evaluation of therapy for Rare Epilepsies" (PATRE), einer internetbasierten Plattform zur Erhebung von Daten zum Phänotyp und zur Therapie von seltenen molekulargenetisch gesicherten Epilepsien.

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Beispiele für NETRE-Erkenntnisse

  • FIRES (febrile infection-related epilepsy syndrome): Im Jahr 2005 wurden die Daten von Patienten mit therapierefraktärem Status epilepticus nach einer unspezifischen Infektion zusammengetragen und das FIRES-Syndrom erstbeschrieben.
  • PCDH19-Mutationen: Lotte et al. untersuchten den Effekt von Antikonvulsiva bei Patienten mit PCDH19-Mutationen. Die effektivsten Medikamente waren Brom (Br) und Clobazam (CLB).
  • CDKL5-Mutationen: Mutationen des Gens CDKL5 werden überwiegend bei Mädchen gefunden und führen zu einer früh beginnenden Epilepsie, Handstereotypien, muskulärer Hypotonie und psychomotorischer Entwicklungsstörung.
  • FOXG1-Syndrom: Kinder mit FOXG1-Syndrom weisen neben einer schweren Entwicklungsstörung eine Mikrozephalie, dyskinetische Bewegungsstörungen, Stereotypien, keine Sprachentwicklung, Ernährungs- und Schlafprobleme sowie eine früh beginnende therapieschwierige Epilepsie auf.
  • SYNGAP1-Mutationen: Das Gen SYNGAP1 kodiert ein Regulatorprotein der postsynaptischen AMPA-Rezeptoren-Dichte, das eine wichtige Rolle in der neuronalen Plastizität spielt. Bei Patienten mit SYNGAP1-Mutationen wurde die EEG-Normalisierung durch Augenöffnung beschrieben. Im Jahr 2021 wurde SYNGAP1-DEE als fotosensible Epilepsie beschrieben. Interessanterweise gab es häufige Anfallstrigger, bei einem Patienten ausgelöst durch Kauen.

Personalisierte Therapieansätze bei monogenetischen Epilepsien

Die Kenntnis der zugrunde liegenden genetischen Defekte eröffnet die Möglichkeit, konkrete Therapiekonzepte zu erstellen. Einige Beispiele für personalisierte Therapieansätze sind in Tabelle 1 dargestellt.

GenotypPhänotyp (variabel)PräzisionsansatzRationaleEvidenz
ADARB1Maligne migrierende SäuglingsepilepsiePerampanelGain of function des AMPA-RezeptorsExplorativ
ALDH7A1Vitamin‑B6-abhängige EpilepsiePyridoxin, lysinrestringierte DiätGestörter LysinabbauBelegte Wirksamkeit
CACNA1AAbsencen mit Ataxie, Epileptische EnzephalopathieAminopyridine für Loss-of-function-Varianten, Flunarizin für Gain-of-function-VariantenKompensation an synaptischer Transmitterfreisetzung, KalziumkanalblockerTiermodell, In-vitro-Daten, Einzelfallberichte
CADEEpileptische EnzephalopathieUridinStörung im PyrimidinstoffwechselBelegte Wirksamkeit
CHRNA4, CHRNB2, CHRNA2Autosomal-dominante familiäre FrontallappenepilepsieNikotinDesensibilisierung des nikotinischen AcetylcholinrezeptorsEmpirie, Einzelfallberichte
GNAO1Ohtahara-Syndrom, epileptische Enzephalopathie mit DystonieTiefenhirnstimulationEtablierte DystonietherapieEinzelfallberichte
GRIN1, GRIN2A, GRIN2B, GRIN2D

Dravet-Syndrom

Das Dravet-Syndrom wird durch eine Mutation des SCN1A-Gens verursacht, das eine Untereinheit des spannungsabhängigen Natriumkanals kodiert. Die personalisierte Therapie besteht in der Vermeidung von Natriumkanalblockern, da diese zu einer Anfallsverschlechterung und schlechteren kognitiven Entwicklung führen können. Die Anfallssituation kann des Weiteren durch die Antiepileptika Brom oder eine Kombinationstherapie aus Stiripentol, Clobazam und Valproinsäure verbessert werden. Erste vielversprechende Therapieerfolge mit Cannabidiol oder Fenfluramin wurden in Studien zum Dravet-Syndrom berichtet. Auch im Hinblick auf Gentherapie bei SCN1A-Mutation gibt es erste Therapieansätze.

KCNQ2-Mutationen

Als ein Gen für benigne familiäre Neugeborenenanfälle wurde 1998 KCNQ2 beschrieben. Im weiteren Verlauf zeigte sich, dass am anderen Ende des Spektrums auch Kinder mit einer epileptischen Enzephalopathie De-novo-KCNQ2-Mutationen aufweisen können, bei denen empirisch der Einsatz von Natriumkanalblockern erfolgt. Die Antagonisierung des genetischen Defekts als personalisierte Therapie verfolgt der Einsatz des Kaliumkanalöffners Retigabin, das aufgrund von Nebenwirkungen wieder vom Markt genommen wurde.

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