Die Frage, welche Insekten kein Gehirn haben, führt zu einer faszinierenden Reise in die Welt der Nervensysteme und kognitiven Fähigkeiten von Wirbellosen. Lange Zeit ging die Wissenschaft davon aus, dass komplexes Verhalten und Lernen ein zentrales Nervensystem, also ein Gehirn, voraussetzen. Doch neuere Forschungen haben diese Annahme in Frage gestellt und zeigen, dass auch Tiere ohne Gehirn erstaunliche Leistungen vollbringen können.
Die Vielfalt der Nervensysteme im Tierreich
Bevor wir uns den Insekten zuwenden, ist es wichtig, einen Blick auf die Vielfalt der Nervensysteme im Tierreich zu werfen. Während Wirbeltiere wie Fische, Vögel und Säugetiere ein zentrales Nervensystem mit einem Gehirn und einem Rückenmark besitzen, finden sich bei Wirbellosen unterschiedliche Organisationsformen.
- Nesseltiere: Quallen, Korallen und Seeanemonen gehören zu den Nesseltieren. Sie bestehen zu 99 % aus Wasser und haben weder Blut, Herz noch Gehirn. Ihr Nervensystem ist ein einfaches neuronales Netz, das sich durch den gesamten Körper zieht. Trotzdem sind sie in der Lage, Beute zu fangen und auf ihre Umwelt zu reagieren.
- Weichtiere: Muscheln und Schnecken verfügen über ein rudimentäres Nervensystem, das aus Nervenknoten, sogenannten Ganglien, besteht. Tintenfische hingegen sind hochentwickelte Weichtiere mit einem komplexen Nervensystem, das sogar verzweigter ist als beim Menschen.
- Insekten und Spinnentiere: Auch Insekten und Spinnentiere haben kein Gehirn im eigentlichen Sinne. Ihr Nervensystem besteht aus einer Reihe von Ganglien, die miteinander verbunden sind. Diese Ganglien steuern verschiedene Körperfunktionen und Verhaltensweisen.
Insekten ohne Gehirn? Die Rolle der Ganglien
Insekten besitzen also kein zentrales Gehirn, sondern ein dezentrales Nervensystem, das aus Ganglien besteht. Diese Nervenknoten sind über den Körper verteilt und übernehmen unterschiedliche Aufgaben. Das Oberschlundganglion, auch Zentralhirn genannt, ist das größte Ganglion und dient als Hauptsteuerzentrum. Es besteht aus etwa hunderttausend bis einer Million Nervenzellen. Zum Vergleich: Das menschliche Gehirn enthält hundert Milliarden Nervenzellen.
Lange Zeit wurde angenommen, dass Insekten lediglich einfache Reiz-Reaktions-Schemata zeigen. Doch neuere Studien haben gezeigt, dass sie zu komplexen Verhaltensweisen und Lernleistungen fähig sind.
Lernfähigkeit ohne Gehirn: Das Beispiel der Würfelqualle
Eine besonders interessante Entdeckung wurde bei der Würfelqualle Tripedalia cystophora gemacht. Diese Qualle lebt in den Mangrovensümpfen der Karibik und weicht dort den Wurzeln der Bäume aus, um nach Beute zu suchen. Die Qualle hat 24 Augen, die in vier Rhopalien genannten Sinnesorganen angeordnet sind.
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Forscher fanden heraus, dass die Würfelqualle lernen kann, Hindernissen auszuweichen. In Experimenten wurden die Quallen in ein Wasserbecken mit grauen und weißen Streifen gesetzt. Die weißen Streifen symbolisierten die Wasserumgebung, die grauen die Mangrovenwurzeln. Zunächst stießen die Quallen häufig gegen die grauen Streifen. Doch innerhalb weniger Minuten vergrößerten sie den Abstand zu den Wänden um 50 Prozent, führten viermal häufiger Ausweichmanöver durch und kollidierten nur noch halb so oft.
Um herauszufinden, wo der Lernprozess stattfindet, isolierten die Forscher die Rhopalien. Sie konfrontierten die Sinnesorgane mit sich bewegenden grauen Balken. Die Rhopalien erzeugten Signale zum Ausweichen - aber nur dann, wenn zuvor mit schwachen elektrischen Reizen eine Kollision vorgetäuscht wurde. Dies deutet darauf hin, dass die Rhopalien als Lernzentren fungieren.
Die Bedeutung der Ergebnisse
Die Entdeckung, dass Quallen ohne Gehirn lernen können, stellt unser Verständnis von Kognition und Lernen in Frage. Sie zeigt, dass ein komplexes Gehirn nicht unbedingt notwendig ist, um Erfahrungen zu sammeln und das Verhalten anzupassen. Die Ergebnisse legen nahe, dass grundlegende Mechanismen des Lernens bereits sehr früh in der Evolution entstanden sind.
Die Forschung an Quallen könnte auch dazu beitragen, komplexere Nervensysteme besser zu verstehen. "Wenn man komplexe Strukturen wie das Nervensystem verstehen will, hilft es, zunächst möglichst einfache Strukturen zu untersuchen", sagt Jan Bielecki von der Universität Kiel.
Schmerzempfinden bei Wirbellosen: Eine ethische Frage
Die Frage, ob Tiere ohne Gehirn Schmerzen empfinden können, ist ethisch relevant. Lange Zeit wurde angenommen, dass nur Tiere mit einem komplexen Gehirn Schmerzen wahrnehmen können. Doch auch hier gibt es neue Erkenntnisse.
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Bei Ringelwürmern, Weichtieren und Fadenwürmern wurden Nozizeptoren gefunden, also Rezeptoren für Schmerz. Dies deutet darauf hin, dass diese Tiere zu Empfindungen fähig sind. Bei Insekten wurden bisher keine Nozizeptoren gefunden, mit Ausnahme der Fruchtfliege. Allerdings gibt es Hinweise auf ein "Schmerzgedächtnis" bei Arthropoden.
Auch wenn nicht alle Wirbellosen Schmerzen im gleichen Maße empfinden wie Wirbeltiere, sollten wir sie mit Respekt behandeln. "Ob es nun die Weichtiere sind oder die Insekten, ob sie ein ausgeprägtes Nervensystem haben oder nicht, es gibt niemandem das Recht, die Tiere zu töten oder gar zu quälen", sagt Alexandra Pfitzmann von der Redaktion "mensch & tier".
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