Das Reizdarmsyndrom (RDS) ist eine weit verbreitete funktionelle Störung, die durch eine komplexe Interaktion zwischen dem vegetativen Nervensystem und der Darmmuskulatur gekennzeichnet ist. Es handelt sich um eine der häufigsten Diagnosen im Bereich der Magen-Darm-Erkrankungen, wobei Frauen doppelt so oft betroffen sind wie Männer. Die Symptome sind vielfältig und können die Lebensqualität erheblich beeinträchtigen. Sie reichen von Übelkeit, Bauchschmerzen, Blähungen, Druck- und Völlegefühl bis hin zu Durchfall oder Verstopfung.
Ursachen und Risikofaktoren
Die genauen Ursachen für das Reizdarmsyndrom sind noch nicht vollständig geklärt. Es wird jedoch angenommen, dass verschiedene Faktoren eine Rolle spielen, darunter:
Störung der Darm-Hirn-Interaktion: Das RDS wird heute als Störung der Darm-Hirn-Interaktion verstanden, die sich sehr vielgestaltig zeigen kann. Die Magen- und Darm-Tätigkeit beruht auf Reflexen, welche durch das enterische Nervensystem, d.h. das Nervensystem des Darmes vermittelt und durch den Vagusnerven sowie Impulse des Sympathikusnerven kontrolliert werden. Der obere Gastrointestinaltrakt (GI-Trakt) von Speiseröhre bis Dünndarm wird durch den Hirnstamm, den dort befindlichen Vaguskern und seine Nervenbahn kontrolliert. Im unteren Anteil, nämlich im Dünndarm und Dickdarm wird die Peristaltik, d.h. der Nahrungstransport durch lokale enterische Reflexe in Gang gehalten. Sympathische Nervenimpulse, welche von den neben dem Rückenmark gelegenen Schaltstellen an den Darm übermittelt werden, können die Darmbewegungen verlangsamen.
Stress: Manchen Menschen schlägt Stress im wahrsten Sinne auf den Magen und den Darm. Psychische Belastungen können die Symptome verstärken. Stress, Ärger und Angst aktivieren das zentrale Nervensystem. Die freigesetzten Stresshormone wiederum aktivieren die Nervenzellen in der Darmwand. Das wirkt sich auf die Verdauungsprozesse im Darm aus und Durchfall, Verstopfung, Blähungen oder Unwohlsein sind die Folge.
Gestörte Darmflora (Dysbiose): Antibiotika oder schwere Magen-Darm-Infekte bringen die natürliche Mischung der nützlichen Bakterien im Darm durcheinander. Nach einer Salmonelleninfektion beispielsweise ist deshalb das RDS-Risiko um das Achtfache erhöht, aber auch andere Darmkeime wie Yersinien, Campylobacter oder EHEC können die Beschwerden auslösen. Ist die Darmflora über längere Zeit geschädigt (sogenannte Dysbiose), kann sich zudem die Darmschleimhaut verändern.
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Überempfindliche Nerven im Darm: Die Wissenschaft geht heute davon aus, dass beim Reizdarm-Syndrom die Nervenzellen des Darms überwiegend sensibler auf die Reize aus dem Darminneren reagieren. Obwohl der Darm von Reizdarm-Betroffenen normal befüllt ist, empfinden sie daher Druckschmerzen im Vergleich zu gesunden Personen mit vergleichbarem Darmvolumen. Auch chemische oder mechanische Reize können aufgrund einer solchen Überempfindlichkeit zu den Schmerzen und Beschwerden beitragen. So können bislang harmlose Reize, die durch das Essen entstehen, eine unangemessene und viel stärkere Reizantwort nach sich ziehen.
Genetische Veranlagung: Das Auftreten eines Reizdarmsyndroms ist wahrscheinlicher, wenn das Reizdarmsyndrom bereits in der Familie auftritt.
Weitere Faktoren: Überstandene Infektionen, eine genetische Veranlagung oder der Lebensstil werden als weitere mögliche Ursachen für das Reizdarm-Syndrom verantwortlich gemacht.
Diagnose
Bis die Diagnose RDS gestellt wird, ist es oft ein langer Weg. Mehrere Untersuchungen sollten erfolgen:
- Magen- und Darmspiegelung
- Ultraschall des Bauches
- Blutuntersuchung mit Blutbild, Leberenzymen, Salzen, Schilddrüsen- und Nierenwerten
- Stuhluntersuchung, um Parasitenbefall auszuschließen
Die Diagnose des Reizdarm-Syndroms ist eine Ausschlussdiagnose, bei der ernsthafte Erkrankungen mit Reizdarm-ähnlichen Symptomen zunächst ausgeschlossen werden müssen. Denn bis heute fehlen Biomarker, die die Diagnose und die daraus ableitende kausale Therapie ermöglichen könnten. Differentialdiagnosen, die ähnlich anmutende Magen-Darm-Beschwerden auslösen können, sollen vorab ausgeschlossen werden. Vergleichsweise oft kann eine Unverträglichkeit von Kohlenhydraten (Laktoseintoleranz oder Fruktosemalabsorption) zu reizdarm-ähnlichen Beschwerden führen.
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Symptome und Reizdarm-Typen
Zu den typischen Beschwerden des Reizdarmsyndroms gehören wiederkehrende Unterbauch-Beschwerden im Durchschnitt mindestens an einem Tag pro Woche. Die Stuhlgangsveränderungen werden als Unterscheidungskriterium für vier verschiedene Reizdarm-Typen verwendet:
- RDS-O (Obstipation dominanter Typ): Verstopfung
- RDS-D (Diarrhoe dominanter Typ): Durchfall
- RDS-M (mixed type oder Meteorismus dominanter Typ): Wechsel zwischen Verstopfung und Durchfall, Blähungen
- RDS-U (unsubtyped): Keine eindeutige Zuordnung möglich
Behandlungsmöglichkeiten
Da das RDS sich individuell sehr unterschiedlich äußert, gibt es nicht die eine allgemeingültige Therapie, die in jedem Fall hilft. Die Behandlung zielt darauf ab, die Symptome zu lindern und die Lebensqualität zu verbessern.
Ernährungsumstellung: Nach australischen Studien kann eine spezielle Diät den gereizten Darm sehr effektiv beruhigen. Die sogenannte FODMAP-reduzierte Ernährung bringt jedoch einige drastische Einschränkungen mit sich: Betroffene verzichten dabei ein paar Wochen lang komplett auf alle potenziell reizenden Kohlenhydrate und spezielle Arten von Zucker. Wer das konsequent betreibt, kann seine Darmbeschwerden häufig in den Griff bekommen. Allerdings sollte eine FODMAP-reduzierte Diät niemals ohne ärztlichen Rat und klare Diagnose ausprobiert werden, denn sie kann die Beschwerden, zum Beispiel bei einer Allergie, auch verschlimmern. Während der FODMAP-reduzierten Diät lassen RDS-Beschwerden wie Schmerzen, Blähungen und Durchfall oftmals rasch nach oder verschwinden sogar ganz. Wichtig ist, die FODMAP-haltigen Nahrungsmittel nach der Auslassphase schrittweise wieder einzuführen, damit keine Mangelerscheinungen auftreten, und im Ernährungstagebuch dabei festzuhalten, welche Symptome nun nach dem Verzehr welcher Lebensmittel auftreten.
Pflanzliche Wirkstoffe: Zur Darmberuhigung haben sich außerdem einige pflanzliche Wirkstoffe wie Pfefferminzöl oder der Extrakt aus Melissenblättern bewährt.
Selbsthilfestrategien und Psychotherapie: Darmgesundheit und Allgemeinbefinden beeinflussen sich gegenseitig. Selbsthilfestrategien und komplementäre, auch psychotherapeutische Heilverfahren leisten daher einen wichtigen Beitrag in der RDS-Behandlung. Als häufig wirksam hat sich in Studien die Darmhypnose erwiesen, um die wechselseitige Interaktion von Darm und Gehirn positiv zu beeinflussen.
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Bewegung und Entspannung: Bewegung und leichte sportliche Aktivität sind allgemein zu empfehlen, Entspannungsverfahren können zur Stressreduktion hilfreich sein.
Medikamente: Medikamentöse Therapieversuche ohne Linderung sollten spätestens nach drei Monaten abgebrochen werden. Wenn Verstopfung im Vordergrund des Reizdarm-Syndroms steht, ist die zum Teil tägliche Gabe von Abführmitteln (Laxantien) eine effektive Behandlungsmöglichkeit und steht im Zentrum einer leitliniengerechten Therapie. Bei Schmerzen und Krämpfen beim RDS mit Blähungen helfen krampflösende Medikamente, die allerdings nur kurzfristig angewendet werden sollten. Wenn Menschen mit Reizdarm zusätzlich Depressionen oder Ängste haben, können auch Antidepressiva und psychotherapeutische Maßnahmen wie Verhaltenstherapie helfen.
Die Rolle des Nervensystems im Darm
Mehr als 100 Millionen Nervenzellen steuern im Darm die Muskeln und somit den Verdauungsprozess. Wird dieser gestört, reagiert der Darm mit einer verstärkten Anspannung und Krämpfen als Folge. Die Darmwand wird von mehr als 100 Millionen Nervenzellen umhüllt. Man spricht auch vom »Bauchhirn« oder »zweiten Gehirn«. Es regelt in Eigenregie die komplizierten Verdauungsvorgänge und agiert dabei weitgehend unabhängig vom Gehirn. Nichtsdestotrotz steht das Darmsystem über Nervenverbindungen mit dem Gehirn in Kontakt. Diese bestehen zu 90 Prozent aus aufsteigenden Nervenfasern, die Informationen vom Darm zum Gehirn leiten. Diese neuronalen Achsen betrachten Forscher als mögliche Ursache, warum der Magen-Darm-Trakt durch psychische Beeinträchtigungen so schnell aus dem Takt gerät.
In den Informationsfluss zwischen Darm und Gehirn ist immer das limbische System involviert, das als Sitz der Gefühle viele emotionale Prozesse steuert. Redewendungen wie »Schmetterlinge im Bauch« oder »Ärger schlägt auf den Magen« haben also durchaus ihre Berechtigung.
Neurogastroenterologie: Die Verbindung von Neurologie und Gastroenterologie
Unter Neurogastroenterologie versteht man die Erforschung und Behandlung von bestimmten Erkrankungen im Magen-Darm-Trakt. Allen gemein ist eine Störung des Nervensystems des Magen-Darm-Trakts, des sogenannten enterischen Nervensystems. Typische neurogastroenterologische Erkrankungen sind Schluckstörungen, Refluxerkrankung, Reizmagen, Reizdarmsyndrom, chronische Verstopfung sowie Stuhlinkontinenz.
Das enterische Nervensystem befindet sich in allen Abschnitten des Magen-Darm-Trakts: von der Speiseröhre über den Magen, den Dünn- und den Dickdarm bis hin zum Enddarm. Es steuert den kompletten Funktionsablauf der Verdauung - inklusive Schlucken, Verdauung im Magen sowie im Dünn und Dickdarm und der (Stuhl-)Entleerung nicht verwertbarer Nahrungsbestandteile.
Was kann man selbst tun?
- Stressmanagement: Lernen Sie, Stress abzubauen und besser mit ihm umzugehen. Entspannungsübungen wie Yoga oder Qi Gong können hilfreich sein.
- Regelmäßigkeit: Unser Darm mag Routine, also regelmäßige Mahlzeiten, regelmäßige Pausen und regelmäßigen Stuhlgang.
- Ballaststoffreiche Ernährung: Essen Sie ausreichend Ballaststoffe, sekundäre Pflanzenstoffe und ungesättigte Fettsäuren.
- Bewegung: Bewegung hält nicht nur die Muskeln mobil, sondern auch den Darm. Bauen Sie mehr Aktivität in den Alltag ein.