Wie das Gehirn die Seele macht: Eine Zusammenfassung des Buches von Roth und Strüber

Dieses Buch von Gerhard Roth, einem bekannten deutschen Hirnforscher, und der Neurobiologin Nicole Strüber, untersucht die neurobiologischen Grundlagen der Seele und ihrer Leiden. Basierend auf Roths Vortrag und Klaus Grawes "Neuro-Psychotherapie" ergründen die Autoren die Verbindung zwischen Gehirn, Persönlichkeit und psychischen Störungen.

Einführung: Die Naturalisierung des Geistes

Roth und Strüber vertreten eine naturalistische Sichtweise, wonach Psyche und Geist Teil des Naturgeschehens sind und dieses nicht transzendieren. Sie argumentieren, dass die traditionelle dualistische Vorstellung von Geist und Körper mit den empirischen Erkenntnissen der Hirnforschung unvereinbar ist. Die Autoren betonen, dass sie den Seelenbegriff aus neurobiologischer Sicht definieren und keine Reduktionisten sind, die den Menschen auf seine Synapsen reduzieren würden.

Historischer Abriss: Die Suche nach dem Sitz der Seele

Die Autoren skizzieren die lange Geschichte der Suche nach dem "Sitz der Seele", von philosophischen und religiösen Konzepten bis hin zu den Anfängen der experimentellen Hirnforschung im 19. Jahrhundert. Sie beschreiben, wie sich die Vorstellung von der Seele von einem Lebensprinzip zu empirisch erfassbaren perzeptiven, emotionalen und kognitiven Vorgängen wandelte.

Von der Lebenskraft zur Elektrizität

Im 19. Jahrhundert revolutionierten Experimente von Luigi Galvani und Alessandro Volta das Verständnis der Nervenfunktion. Sie legten die These nahe, dass die Erregungsfortleitung in den Nerven nicht durch ein "Nervenfluidum", sondern elektrisch geschieht. Wilhelm His entdeckte, dass Nervenzellen diskrete Einheiten sind, die Fortsätze (Axone, Dendriten) entwickeln.

Die synaptische Übertragung

Inzwischen wissen wir, dass bei der Übertragung von Erregungen elektrische und chemische Prozesse zusammenwirken. Ein Aktionspotenzial verursacht an der Präsynapse die Ausschüttung eines Transmitters, der den synaptischen Spalt überbrückt und an der Postsynapse eine weitere elektrische Erregung auslöst.

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Aufbau und Funktion des Gehirns

Roth und Strüber beschreiben detailliert den Aufbau des Gehirns aus Neuronen und ihren Verbindungen. Die Tätigkeit einer einzelnen Gehirnzelle ist dabei weniger entscheidend als das Zusammenwirken zahlreicher vernetzter Neuronen.

Das limbische System: Zentrum der Emotionen und Motivation

Das limbische System spielt eine zentrale Rolle bei der Auslösung und Kontrolle angeborener Verhaltensweisen und elementarer affektiv-emotionaler Zustände. Es beeinflusst grundlegende Persönlichkeitseigenschaften, das Temperament. Die Autoren verorten unbewusste Vorgänge der Emotionsentstehung und -kontrolle, der Verhaltensbewertung und Konditionierung auf der mittleren Ebene des limbischen Systems. Die obere, durch Areale der Großhirnrinde (Cortex) gebildete limbische Ebene hängt mit bewussten Gefühlen und Motiven zusammen, aber auch mit der Sozialisation.

Die kognitiv-sprachliche Ebene

Für die kognitiv-sprachliche Ebene sind im Gehirn Sprachzentren wichtig. Das interne Beruhigungssystem ist überwiegend durch den Neuromodulator Serotonin bestimmt. Ein Mangel an Serotonin kann Depressionen, Ängstlichkeit, Risikoscheu, reaktive Aggression und Impulsivität hervorrufen.

Entwicklung von Gehirn und kindlicher Psyche

Nach der Geburt wächst das Gehirnvolumen rasant weiter, vor allem durch die Entwicklung von Verzweigungen und Synapsen. Neugeborene verfügen über "Vorläuferemotionen" wie Kummer/Sorge, Interesse, Wohlbehagen, Erschrecken/Furcht und Ekel. Die psychosomatische Entwicklung geht mit einer Differenzierung und Verfeinerung dieser Emotionen einher. Genom, frühkindliche Erfahrungen und Reifung bringen ein individuelles Temperament hervor.

Temperament und Persönlichkeit

Die Autoren erwähnen die Lehre von den vier Körpersäften (Blut, Schleim, schwarze Galle, gelbe Galle), die auf den griechischen Arzt Galen zurückgeht und für die Ausprägung der Temperamente entscheidend sein soll. Sie beschreiben auch den Faktor Offenheit/Intellekt, der in hoher Ausprägung Eigenschaften wie breit interessiert, einfallsreich und intelligent kennzeichnet.

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Psychoneuronale Grundsysteme

Roth und Strüber beschreiben sechs psychoneuronale Grundsysteme: Stressverarbeitung, Selbstberuhigung, Bewertung, Belohnung bzw. Motivation, die zusammen das "unbewusste Selbst" bilden. Diese werden durch das "kognitiv-kommunikative" Ich ergänzt.

Gene, Umwelt und Epigenetik

Die Autoren betonen die Bedeutung der Interaktion von Genen und Umwelt für die Entwicklung der Persönlichkeit. Gene sind zwar über wenige Generationen unveränderlich, werden aber bei jedem Zeugungsakt neu gemischt. Zudem greifen Umwelteinflüsse wie die Qualität der mütterlichen Fürsorge über epigenetische Prozesse verändernd in die Genexpression ein.

Das Unbewusste aus neurowissenschaftlicher Sicht

Roth und Strüber erläutern die neurowissenschaftliche Perspektive auf das Unbewusste. Sie erwähnen Sigmund Freud, der vergeblich versuchte, eine Theorie des "seelischen Apparates" auf der Grundlage der Neuronentheorie zu entwickeln. Freud vermutete, dass alle Hirnvorgänge, die außerhalb der Großhirnrinde ablaufen, dem Bewusstsein unzugänglich sind. Die Autoren ergänzen, dass auch viele Prozesse innerhalb der Großhirnrinde nicht von Bewusstsein begleitet sind.

Bewusstsein als Konstrukt des Gehirns

Geist und Bewusstsein beruhen auf Prozessen im Gehirn, die größtenteils unbewusst oder vorbewusst ablaufen. Nach den Erkenntnissen der Hirnforschung scheint das neuronale Geschehen die psychischen Erlebniszustände zu verursachen und nicht umgekehrt. Jeder bewussten Wahrnehmung geht eine unbewusste Verarbeitung von Erregungen voraus. Bewusstseinsprozesse schaffen einen mentalen Raum, in dem Körper, Welt und Ich direkt miteinander zu interagieren scheinen.

Neurobiologische Grundlagen psychischer Störungen

Die Autoren untersuchen, ob sich bei psychischen Erkrankungen Auffälligkeiten im Gehirn erkennen lassen. Sie beschreiben Zusammenhänge zwischen Depressionen und neurochemischen Auffälligkeiten sowie Änderungen in der Struktur bzw. Funktion verschiedener Hirnbereiche. Ähnliches gilt für andere psychische Erkrankungen wie posttraumatische Belastungsstörungen oder das Borderline-Syndrom. Mithilfe bildgebender Verfahren lassen sich bei diesen Erkrankungen von der Norm abweichende Aktivitätsmuster nachweisen.

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Die Wirksamkeit von Psychotherapie aus neurowissenschaftlicher Sicht

Einen Schwerpunkt der Darstellung bilden Ausführungen über die Wirksamkeit von Psychotherapien aus Sicht der Hirnforschung. Die Autoren fokussieren auf die von den gesetzlichen Krankenkassen bezahlten Verfahren der Verhaltenstherapie und der Psychodynamischen Therapieformen.

Die Bedeutung des Langzeitgedächtnisses

Nach gegenwärtiger neurobiologischer Mehrheitsmeinung ist es entscheidend, ob Informationen über Personen und Geschehnisse jemals in das Langzeitgedächtnis gelangen oder nicht. Inhalte, die nicht im Langzeitgedächtnis vorhanden sind, können unter keinen Umständen bewusst gemacht werden. Roth und Strüber nehmen auch zu den vorgeblichen Wirkfaktoren der psychodynamischen Verfahren Stellung und stellen fest, dass die Konzepte der Traumdeutung und des Ödipuskomplex jeglicher empirischer Fundierung entbehren und dass die Freud`sche Trieblehre eindeutig falsch ist.

Implizite Therapie und Neubildung von Nervenzellen

Die Autoren konstatieren, dass sich die im Gehirn des Patienten aufgrund frühkindlicher oder vorgeburtlicher Traumatisierung entstandenen strukturellen und funktionellen Dysfunktionen nur durch mühsames und langwieriges Aktivieren verschütteter Ressouren überlernen lassen. Es handele sich dabei um eine implizite Therapie, eine Therapie der Neubildung von Fühl-, Denk- und Handlungsgewohnheiten, die sich vornehmlich in den Basalganglien vollzieht. Hier scheint die Neubildung von Nervenzellen in limbischen Strukturen eine Rolle zu spielen.

Die therapeutische Allianz und der Placeboeffekt

In der ersten Phase der Therapie ist der Hauptwirkfaktor die therapeutische Allianz, verbunden mit einer massiven Ausschüttung von Oxytocin und endogenen Opioiden, die dann eine spürbare Besserung der Symptomatik bewirkt. Dieses Phänomen, oft als "Placeboeffekt" bezeichnet, ist hochwirksam und besteht aus neurobiologischer Sicht in einer deutlich erhöhten Ausschüttung von Oxytocin und endogenen Opioiden, was stärkend auf das Selbstberuhigungssystem und das Belohnungssystem wirkt und die Stressreaktion abschwächt.

Schlussfolgerung: Das Zusammenspiel von Genen und Umwelt

Das Buch schließt mit der Betonung, dass das synaptische Geschehen eine notwendige, aber nicht hinreichende Voraussetzung für das Seelische bildet. Viel eher könnte man sagen: Wir, also unsere Psyche und Persönlichkeit, sind das Ergebnis der Interaktion von Genen und Umwelt, einschließlich epigenetischer Veränderungen, die teilweise transgenerationell weitergegeben werden.

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