Die neurologischen Prozesse der Suchtentstehung im Gehirn

Eine Suchterkrankung ist nicht einfach nur ein Zeichen von Willensschwäche, sondern eine komplexe Erkrankung, die tiefgreifende Veränderungen im Gehirn verursacht. Diese Veränderungen betreffen vor allem das Belohnungssystem, das eine entscheidende Rolle bei der Entstehung und Aufrechterhaltung von Suchtverhalten spielt.

Das Belohnungssystem als Triebfeder menschlichen Verhaltens

Das Belohnungssystem ist ein neuronaler Schaltkreis im Gehirn, der durch angenehme Erfahrungen aktiviert wird und uns dazu motiviert, bestimmte Verhaltensweisen zu wiederholen. Es hat sich evolutionär entwickelt, um unser Überleben und die Fortpflanzung zu sichern, indem es uns für lebensnotwendige Aktivitäten wie Essen, Trinken und Sex belohnt.

Im Zentrum des Belohnungssystems steht der Botenstoff Dopamin. Er wird ausgeschüttet, wenn wir etwas Positives erleben, und erzeugt ein Gefühl von Freude und Zufriedenheit. Dieses Gefühl verstärkt die Verknüpfung zwischen der Handlung und der Belohnung im Gehirn, sodass wir diese Handlung in Zukunft eher wiederholen werden.

Doch das Belohnungssystem kann auch fehlgeleitet werden. In unserer modernen Welt gibt es viele Reize, die das Belohnungssystem aktivieren, ohne dass sie für unser Überleben notwendig sind. Dazu gehören beispielsweise Süßigkeiten, Computerspiele und soziale Medien. Besonders gefährlich wird es, wenn Menschen Substanzen wie Alkohol, Nikotin oder Drogen konsumieren, um das Belohnungssystem auf unnatürliche Weise zu stimulieren.

Drogen als "Abkürzung" zur neuronalen Belohnung

Drogen wirken auf unterschiedliche Weise im Gehirn, haben aber alle eine Gemeinsamkeit: Sie aktivieren das Belohnungssystem und setzen große Mengen Dopamin frei - oft deutlich mehr als natürliche Belohnungen. Amphetamine beispielsweise können bei Versuchstieren zehnmal mehr Dopamin freisetzen als Nahrungsaufnahme oder Sex.

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Diese massive Dopaminausschüttung erzeugt ein intensives Gefühl von Euphorie und Wohlbefinden. Das Gehirn merkt sich diese Erfahrung und das Verlangen nach der Droge wird immer stärker. Es kommt zu komplexen neuronalen Anpassungsprozessen, die das Gehirn nachhaltig verändern.

Professor Falk Kiefer, Suchtforscher an der Universität Heidelberg, vergleicht Suchtverhalten mit dem intuitiven Spiel eines Klavierspielers: Betroffene reagieren unbewusst auf Reize und Empfindungen, ohne dies willentlich steuern zu können.

Die Schritte zur Sucht: Gewöhnung, Sensibilisierung und Toleranzentwicklung

Auf dem Weg zur Sucht spielen mehrere Faktoren eine entscheidende Rolle:

  • Gewöhnung (Habituation): Zunächst gewöhnt sich der Körper an das durch die Droge ausgelöste Gefühl von Leichtigkeit und Euphorie.
  • Sensibilisierung (Habit-Bildung): Gleichzeitig wird der Betroffene immer empfindlicher für Reize, die mit der Drogenaufnahme in Verbindung stehen. Der Anblick eines Bierglases oder das Geräusch einer Spritze können bereits das Verlangen nach der Substanz auslösen.
  • Toleranzentwicklung: Mit der Zeit benötigt der Körper eine immer höhere Dosis der Droge, um das gleiche Gefühl zu erreichen.

Diese Prozesse führen dazu, dass der Betroffene immer mehr Zeit und Energie für den Drogenkonsum aufwendet und andere Lebensbereiche vernachlässigt.

Die Rolle des präfrontalen Cortex und des mesolimbischen Systems

Neurowissenschaftlerin Sabine Vollstädt-Klein forscht am Zentralinstitut für Seelische Gesundheit (ZI) an den Veränderungen im Gehirn, die bei der Suchtentwicklung auftreten. Sie betont das Zusammenspiel von Netzwerken des präfrontalen Cortex und des dopaminergen mesolimbischen Systems.

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Der präfrontale Cortex ist für zielgerichtetes Handeln und kognitive Kontrolle zuständig, während das mesolimbische System Emotionen und das Belohnungssystem steuert. Bei Personen, die zu Abhängigkeit neigen, kann der präfrontale Cortex von vornherein eine Dysfunktion aufweisen. Durch den anhaltenden Drogenkonsum wird diese Dysfunktion noch verstärkt, was zu einem Verlust der kognitiven Kontrolle führt.

Vollstädt-Klein erklärt, dass das mesolimbische System den präfrontalen Cortex sozusagen "kidnappen" kann. Reize, die mit der Droge in Verbindung stehen, werden in tieferen Hirnregionen verarbeitet und dann an den präfrontalen Cortex weitergeleitet. Diese Bottom-Up-Prozesse können die bewusste Kontrolle über das Verhalten untergraben.

Das Striatum: Vom "Lustzentrum" zur Zwangsstörung

Ein weiteres wichtiges Kerngebiet im mesolimbischen System ist das Striatum. Es wird in einen ventralen (vorderen) und einen dorsalen (hinteren) Teil unterschieden. Im ventralen Striatum befindet sich der Nucleus accumbens, der als das "Lustzentrum" im Gehirn gilt.

Studien haben gezeigt, dass sich bei zunehmender Abhängigkeit die Aktivierung vom ventralen Striatum in das dorsale Striatum verlagert. Dieser Shift könnte damit zusammenhängen, dass sich auch das Verhalten von Suchtkranken im Laufe der Zeit ändert. Während sie anfangs noch freiwillig und zum Vergnügen konsumieren, verlieren sie zunehmend die Kontrolle über ihr Verhalten und sehen sich immer stärker gezwungen, Drogen zu nehmen.

Die Neurobiologie der Sucht: Ein Drei-Phasen-Modell

Ein weit verbreitetes Modell zur Erklärung der neurobiologischen Grundlagen der Suchtentwicklung ist das Drei-Phasen-Modell:

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  • Phase 1 - Binge/Intoxikation: In dieser Phase steht der Konsum und dessen Wirkung auf unser Belohnungssystem im Mittelpunkt. Drogen wie Alkohol, Kokain oder Heroin überfluten das Belohnungssystem mit Dopamin und verstärken damit das Verlangen nach Wiederholung. Dieses Verhalten wird zusätzlich konditioniert - bestimmte Orte, Emotionen oder Rituale werden mit dem Substanzkonsum verknüpft, sodass allein der Reiz eines bestimmten Umfelds bereits Dopamin ausschütten kann.
  • Phase 2 - Entzug/Negative Affekte: Mit wiederholtem Konsum kommt es zu einer Desensibilisierung des Belohnungssystems. Die natürliche Dopaminproduktion nimmt ab, sodass Betroffene ohne die Substanz verstärkt negative Gefühle wie Angst, Reizbarkeit oder Depressionen erleben. Gleichzeitig wird das Stresssystem des Körpers überaktiviert, insbesondere durch die verstärkte Ausschüttung von Cortisol.
  • Phase 3 - Antizipation/Craving: In dieser Phase wird der Konsum nicht mehr durch den Genuss, sondern durch das Verlangen nach der Substanz bestimmt. Das Belohnungssystem und der präfrontale Kortex, der für Impulskontrolle und Entscheidungsfindung verantwortlich ist, sind in ihrer Funktion beeinträchtigt.

Dieses Modell zeigt, dass sich Sucht schrittweise entwickelt und mit der Zeit unser Belohnungsverhalten nachhaltig verändert.

Wanting & Liking: Vom Genuss zum Verlangen

Das "Wanting & Liking"-Modell erklärt die Unterschiede zwischen dem Erleben von Freude und dem Drang, etwas zu konsumieren, und nimmt dabei die motivationale Ebene noch mal genauer unter die Lupe.

  • Liking: Dies beschreibt den tatsächlichen Genuss, den eine Substanz oder Handlung auslöst. Dieses Wohlgefühl wird durch bestimmte Gehirnareale vermittelt, die als "hedonische Hotspots" bezeichnet werden. Diese Bereiche reagieren besonders stark auf Neurotransmitter wie Opioide und Endocannabinoide, die das Gehirn in Momenten des Genusses ausschüttet. Liking ist direkt mit dem Erleben von Freude verknüpft, aber nicht unbedingt eine treibende Kraft hinter der Motivation, eine Handlung zu wiederholen. Es ist der reine Genussmoment.
  • Wanting: Dies ist das Verlangen, eine Handlung auszuführen - unabhängig davon, ob sie tatsächlich angenehm ist. Dieses Verlangen wird vor allem vom Dopaminsystem angetrieben. Dopamin sorgt dafür, dass unser Gehirn motiviert wird, eine Handlung auszuführen, die früher einmal eine Belohnung gebracht hat - selbst wenn diese Belohnung inzwischen deutlich schwächer oder gar nicht mehr angenehm ist. Wanting wird stark durch externe Cues ausgelöst.

In der Sucht verschiebt sich das Gleichgewicht zwischen diesen beiden Mechanismen. Während das "Liking" mit der Zeit abnimmt, bleibt das "Wanting" bestehen oder verstärkt sich sogar. Das führt dazu, dass Menschen weiterhin konsumieren, nicht weil sie es genießen, sondern weil ihr Gehirn den Drang danach erzeugt. Im Entstehungsprozess der Sucht wird Liking (Genuss) immer mehr von Wanting (Verlangen) abgelöst und erschwert einen Konsumstopp und die Konsumkontrolle nachhaltig.

Ist Sucht eine dauerhafte Gehirnerkrankung?

Die Frage, ob Sucht eine dauerhafte Gehirnerkrankung ist, wird in Wissenschaft und Therapie kontrovers diskutiert. Die deterministische Sichtweise besagt, dass Sucht das Gehirn dauerhaft verändert und Betroffene ein Leben lang gefährdet sind, wieder in alte Muster zurückzufallen. Gehirnscans zeigen, dass auch nach Jahren der Abstinenz bestimmte Reize eine erhöhte Dopaminreaktion auslösen können. Allerdings nehmen diese mit der Zeit ab.

Das Gehirn ist jedoch kein statisches System - es ist neuroplastisch und kann sich durch Erfahrungen und Umweltbedingungen verändern. Viele Menschen, die eine Sucht überwinden, tun dies nicht durch biologische Interventionen, sondern durch psychologische und soziale Veränderungen. Diese beinhalten neue Routinen, unterstützende soziale Netzwerke und den Aufbau alternativer Belohnungssysteme.

Die Rolle der synaptischen Plastizität

Die synaptische Plastizität beschreibt die Fähigkeit der Synapsen, die Verbindungen zwischen Neuronen im Gehirn, sich zu ändern und anzupassen. Diese Plastizität spielt eine entscheidende Rolle bei der Suchtentwicklung. Suchtmittel können die normalen Lernprozesse beeinflussen, indem sie diese Anpassungsfähigkeit des Gehirns stören. Die synaptische Plastizität ist die Fähigkeit von Synapsen, sich in ihrer Stärke und Funktion als Antwort auf äußere Einflüsse zu verändern. Diese Flexibilität ist essenziell für das Lernen und Erinnerungen speichern und spielt eine Schlüsselrolle bei der Entstehung von Suchtverhalten. Konsum von Suchtmitteln kann zu einer Umstrukturierung der synaptischen Verbindungen führen.

Ein tieferes Verständnis der synaptischen Plastizität zeigt, dass LTP (Langzeitpotenzierung) eine entscheidende Rolle spielt. LTP ist ein Prozess, bei dem wiederholte Reize die Stärke der synaptischen Übertragungen erhöhen. In Suchtzusammenhängen kann LTP die Wege, über die Belohnungssignale gesendet werden, deutlich verstärken, was zu einer stärkeren Verankerung suchtbedingter Verhaltensweisen führen kann.

Genetische Veranlagung und Umwelteinflüsse

Die Entstehung einer Sucht ist ein komplexes Zusammenspiel von genetischer Veranlagung und Umwelteinflüssen. Die Gene sind für etwa die Hälfte des Suchtrisikos verantwortlich. Es gibt jedoch nicht "DAS Sucht-Gen". Der Einfluss des Erbguts setzt sich aus vielen kleinen Mosaiksteinen zusammen. So gibt es Gene, die den Abbau von Alkohol beeinflussen, Gene für die Feinjustierung des Dopaminsystems und Gene, die die Reaktion auf Stress verstärken.

Doch selbst ein hohes genetisches Risiko bedeutet nicht, dass ein Mensch zur Sucht verdammt ist. Die eigene Lebensgeschichte ist genauso entscheidend. Wichtig sind zum einen die Freunde. Die von den anderen geweckten Erwartungen können sogar direkt das sinnliche Erleben des ersten Rauschs oder des ersten Zuges beeinflussen. Der zweite wichtige Umweltfaktor ist der Stress. Zu großer äußerer Druck kann dazu verleiten, nicht Probleme zu lösen, sondern sie mit Drogen beiseite zu schieben.

Therapieansätze und die Hoffnung auf Heilung

Umkehren lassen sich die durch Sucht verursachten Veränderungen im Gehirn kaum vollständig. "Das Gehirn hat keine Löschfunktion", gibt Falk Kiefer zu Bedenken. Aber man kann neue Dinge lernen, die im Alltag nach und nach mehr Platz einnehmen und das vorher Gelernte in den Hintergrund rücken lassen.

Zusammen mit seiner Kollegin Sabine Vollstädt-Klein forscht er an Ansätzen, wie das in der Suchttherapie immer besser gelingen könnte. Anfangs müsse das Erlernen neuer Verhaltensweisen allerdings sehr bewusst erfolgen, später werde es dann mehr und mehr selbstverständlich. "Doch auch nach längerer Abstinenzzeit wird es immer wieder Situationen geben, die das Suchtverhalten reaktivieren können", erklärt Falk Kiefer.

Die Neuroplastizität kann zur Behandlung von Sucht genutzt werden, indem gezielte therapeutische Maßnahmen, wie kognitive Verhaltenstherapie oder medikamentöse Interventionen, die Umstrukturierung neuronaler Netze fördern.

Ein wichtiger Therapieansatz ist die kognitive Verhaltenstherapie. Sie hilft Betroffenen, ihre Denkmuster und Verhaltensweisen zu verändern, die zur Sucht beitragen. Ziel ist es, alternative Bewältigungsstrategien zu entwickeln und das Verlangen nach der Droge zu reduzieren.

Auch medikamentöse Therapien können helfen, die Entzugssymptome zu lindern und das Verlangen nach der Droge zu reduzieren. Es gibt beispielsweise Medikamente, die die Wirkung von Dopamin blockieren oder die die Produktion von Dopamin erhöhen.

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