Wie schmeckt das menschliche Gehirn? Eine Erkundung der Neurogastronomie und des Geschmackserlebnisses

Die Frage, wie das menschliche Gehirn schmeckt, mag zunächst befremdlich erscheinen. Sie führt jedoch in ein faszinierendes Feld der Wissenschaft, die Neurogastronomie, ein. Diese Disziplin untersucht, wie unser Gehirn Geschmack wahrnimmt und interpretiert. Dabei spielen Geruchssinn, Geschmackssinn und die Verarbeitung im Gehirn eine entscheidende Rolle.

Die Rolle des Geruchssinns im Geschmackserlebnis

Entgegen der landläufigen Meinung, dass der menschliche Geruchssinn im Vergleich zu anderen Lebewesen unterentwickelt sei, argumentiert der Neurowissenschaftler Gordon M. Shepherd, dass er lediglich anders spezialisiert ist. Seine Stärke liegt in der Schlüsselrolle, die er für die Entstehung des Geschmackserlebnisses spielt. Jeder, der schon einmal eine verstopfte Nase hatte, kennt den Effekt: Wenn man nicht riechen kann, schmeckt auch das Essen nicht.

Shepherd betont, dass unser Geruchssinn uns ein Geschmackserlebnis verschafft, das in der Tierwelt einzigartig ist. Dies geschieht in Zusammenarbeit mit der Zunge, die die Textur der Nahrung und die Grundgeschmäcker wahrnimmt, und dem Gehirn, das die Informationen interpretiert.

"Flavour": Das Zusammenspiel von Riechen und Schmecken

Forscher haben für dieses Ergebnis des Zusammenspiels von Zunge und Nase, von Schmecken und Riechen, einen eigenen Namen geprägt: "Flavour". Dieser Begriff beschreibt das komplexe Zusammenspiel von Geruch, Geschmack, Textur und anderen sensorischen Eindrücken, die gemeinsam ein Geschmackserlebnis erzeugen.

Der retronasale Weg, bei dem die Luft beim Ausatmen aus der Mundhöhle von hinten an die Geruchsrezeptoren herangeführt wird, spielt eine besonders wichtige Rolle für den menschlichen Geschmackssinn. Seit der Mensch begonnen hat, sein Essen zu kochen, sind seine Sinne mit einer viel größeren Vielfalt an Geschmackserlebnissen konfrontiert. Shepherd vermutet, dass dieser Weg dem Menschen ein reicheres Geschmackserlebnis ermöglicht als anderen Säugetieren.

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Wie das Gehirn Geschmack interpretiert

Das Geschmackserlebnis liegt so wenig im wohlschmeckenden Essen wie Farben in den bunten Objekten. Es entsteht, wenn das Gehirn die Botschaften der Geruchsrezeptoren analysiert und interpretiert und mit den Botschaften des Geschmackssinns und anderer Sinne in Beziehung setzt. Denn auch viele andere Faktoren beeinflussen, wie uns das Essen schmeckt:

  • Das Auge: Überprüft die Nahrung auf Frische und beeinflusst die Geschmackswahrnehmung durch Farbe des Tellers und Form des Bestecks.
  • Das Ohr: Das Sonntagsbrötchen schmeckt besser, wenn das Ohr es knuspern hört, und der Wein, wenn er sanft aus der Flasche gluckert.
  • Der Tastsinn: Der matschige Pfirsich hingegen hat schon beim ersten taktilen Kontakt verloren.

Das Gehirn-Geschmacks-System ist eng mit den neuronalen Netzwerken für Emotionen, Erinnerung, Bewusstsein, Sprache und Entscheidung verknüpft. Es ist eines der am besten vernetzten Systeme des Gehirns.

Neurogastronomie: Die Wissenschaft des Geschmacks

Die Neurogastronomie ist eine Disziplin, die zu klären versucht, wie das menschliche Gehirn das Geschmackserlebnis hervorbringt. Sie möchte verstehen, warum wir uns für bestimmte Nahrungsmittel entscheiden und wie das Gehirn diese Entscheidungen beeinflusst.

Per Møller von der Universität Kopenhagen nennt sein ähnliches Unternehmen Gastrophysik. Dabei geht es darum, Fragen, die die menschliche Nahrungsaufnahme betreffen, auf ein theoretisches Fundament zu stellen.

Anwendung der Neurogastronomie

Die Erkenntnisse der Neurogastronomie sind vielfältig anwendbar:

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  • Kampf gegen Fettleibigkeit: Die Nahrungsmittelindustrie versteht es, ihre Produkte unwiderstehlich zu machen, indem sie sensorische Stimulation, Kaloriengehalt und Sättigungswert in ein Missverhältnis bringt. Neurogastronomie kann helfen, diese Mechanismen zu verstehen und Strategien für eine gesündere Ernährung zu entwickeln.
  • Behandlung von Essstörungen: Erkenntnisse über die neuronalen Grundlagen des Essverhaltens können zur Entwicklung neuer Therapieansätze für Essstörungen wie Anorexie und Bulimie beitragen.
  • Lebensmittelentwicklung: Lebensmittelunternehmen können die Erkenntnisse der Neurogastronomie nutzen, um den Geschmack ihrer Produkte zu optimieren und die Vorlieben verschiedener Bevölkerungsgruppen zu treffen.

Die Pizza Margherita als Beispiel für ein umfassendes Geschmackserlebnis

Francesca Caramia ist aufgrund ihrer Forschungen davon überzeugt, dass die Pizza Margherita eines jener wenigen Gerichte ist, das bei fast allen Testpersonen gastronomisches Wohlgefallen auslöst. Bei der Pizza Margherita arbeitet das Hirn auf Hochtouren und aktiviert weite Teile des menschlichen Gehirns.

Caramia und ihre Kollegen vom neurologischen Institut der La Sapienza sind der Frage nachgegangen, wo und wie unser Gehirn auf gastronomische Reize reagiert. Sie haben die Reaktionen des Hirns im wahrsten Sinne des Wortes fotografiert, indem sie die Gehirnaktivität von Testpersonen während des Essens mit Magnetresonanztomographie (MRT) gemessen haben.

Die Ergebnisse zeigten, dass bei jeder Speise und bei jedem Getränk zwei Hirnrinden aktiviert werden:

  1. Die erste versucht zu erkennen, um was es sich handelt (flüssig oder fest).
  2. Die zweite entscheidet über Wohl- oder Missfallen (schmeckt es oder nicht?).

Die Neurologen konnten auch das Zusammenspiel verschiedener Zutaten nachweisen. Zum Beispiel reagierten die Hirnrinden der meisten Testpersonen so gut wie gar nicht auf Basilikum. Aßen sie ein Stück Pizza Margherita ohne Basilikum, reagierte die vordere Hirnrinde zwar intensiv, aber so richtig kräftig durchblutet wurde sie erst dann, wenn die Testpersonen ein Stück Pizza mit Basilikum aßen.

Die neuronalen Grundlagen der Geschmackswahrnehmung

Unter Führung des Deutschen Instituts für Ernährungsforschung (DIfE) ist es Wissenschaftlern erstmals gelungen, anhand von neuronalen Aktivitätsmustern des menschlichen Gehirns vorherzusagen, ob eine Person etwas Süßes, Salziges, Saures oder Bitteres schmeckt. Die über die Zunge wahrgenommenen Geschmackssignale erreichen das Gehirn sehr viel schneller als angenommen und tragen somit zu dem Gesamtgeschmackseindruck bei, der auch durch andere Sinne wie den Geruchssinn geprägt ist.

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Die Forscher haben mittels Elektroenzephalografie (EEG) Hirnströme gemessen und festgestellt, dass die verschiedenen Geschmacksrichtungen im Gehirn durch unverwechselbare neuronale Aktivitätsmuster repräsentiert werden. Diese Muster entstehen bereits etwa 175 Millisekunden nach einem entsprechenden Geschmacksreiz.

Die Forscher konnten sogar die subjektive Wahrnehmung der Probanden vorhersagen: Geschmacksrichtungen, die von den Probanden häufig verwechselt wurden (z. B. salzig und sauer), waren auch für das Computerprogramm schwierig zu differenzieren.

Das süße Geheimnis köstlicher Pralinen

Die gelungene Komposition verschiedener Empfindungen im Mund macht eine köstliche Praline aus. Süßer Zucker weckt Appetit, bittere Schokolade liefert einen pikanten Gegensatz. Eine Praline ist innen cremig, eine andere sahnig-flüssig, die dritte enthält einen Fruchtkern.

Der Geruchssinn trägt maßgeblich dazu bei, den Geschmack der Nahrung zu erkennen. Auch das so genannte Mundgefühl der Speisen ist für ihren Geschmack wichtig. Sinnesphysiologen verstehen darunter die Berührungsreize beim Lutschen, Beißen und Kauen, ebenso Wärme- und Kälteempfindungen.

Der eigentliche Geschmackssinn registriert allerdings nur die fünf Grundgeschmäcke: salzig, sauer, süß, bitter und umami. Auf diese Eigenschaften reagieren die Geschmackssinneszellen auf der Zunge und im Gaumen.

Die Geschmacksknospen und ihre Funktion

Das Schmecken beginnt in den Geschmacksknospen, in denen jeweils fünfzig bis hundert Geschmackssinneszellen zusammen lagern. Die Geschmacksknospen sitzen hauptsächlich auf der Zunge und im Gaumensegel.

Die Sinneszellen schicken keine eigenen Zellfortsätze ins Gehirn, sondern signalisieren die Ereignisse Nervenzellen, deren Ausläufer in die Geschmacksknospen hineinragen. Über diese Ausläufer gelangen die Signale zum Gehirn.

In den Sinneszellen verursachen die Geschmacksstoffe eine Kaskade von Reaktionen, wodurch sich an der äußeren Zellmembran die elektrischen Ladungsverhältnisse verändern. Durch die Ladungsveränderungen an der Zellwand wiederum erhält die Sinneszelle den Anstoß, einen Signalstoff freizusetzen. Diesen Signalstoff fangen Nervenzellen auf, wandeln ihrerseits das chemische Signal in ein elektrisches um und senden dieses weiter ins Gehirn.

Die Rolle von Gustducin

Gustducin ist ein Schlüsselmolekül am Anfang der Reaktionskette, die durch die Bindung von Geschmacksstoffen an Rezeptoren in den Sinneszellen ausgelöst wird. Es gehört zu den so genannten G-Proteinen, einer wichtigen Molekülklasse an Zellmembranen für die Übermittlung von Signalen.

Hunger und Sättigung: Die Rolle der Amygdala

Forschende am Max-Planck-Institut für biologische Intelligenz fanden heraus, dass das "Hunger-Hormon" Ghrelin spezialisierte Nervenzellen in der Amygdala von Mäusen aktiviert. Die Amygdala ist eine Gehirnregion, die bisher vor allem im Zusammenhang mit Gefühlen wie Angst und Belohnungsempfinden untersucht wurde.

Die Forscher analysierten einzelne Nervenzellen in der zentralen Amygdala und untersuchten ihre Boten-RNA-Moleküle. Die Analyse ergab, dass die Zellen in neun verschiedenen Zellclustern organisiert sind. Einige dieser Cluster fördern den Appetit, während andere ihn hemmen.

Das Team fand heraus, dass die Htr2a-Neurone nach mehrstündigem Fasten oder bei Anregung durch das Hormon Ghrelin aktiv wurden. Ghrelin aktiviert diese Neurone, um die Nahrungsaufnahme zu steigern.

Ghrelin erfüllt mehrere Funktionen:

  • Es aktiviert die appetitanregenden Hirnregionen, um die Tiere zum Fressen zu animieren.
  • Es steigert die Aktivität in Gehirnarealen wie der Amygdala, die Belohnungsgefühle vermitteln.
  • Es erhöht die Schmackhaftigkeit der Nahrung in Abhängigkeit davon, wie gesättigt die Mäuse gerade sind.

Die Macht der Aromen: Eine Illusion des Geschmacks

Ob Vanillejoghurt oder frisch gebackenes Brot - das, was wir als Geschmack wahrnehmen, entsteht zu einem großen Teil in der Nase. Beim Essen steigen Duftmoleküle über den Rachenraum nach oben und erreichen die Riechrezeptoren. Gemeinsam mit den Reizen der Zunge formen sie die Illusion eines einheitlichen Aromas.

Aromastoffe lassen einen Joghurt auch ohne echte Vanille nach Vanille schmecken oder verleihen einer Grillsoße Raucharoma, ohne dass je Holzspäne im Spiel waren. Es gibt sogar technische Systeme, die beim Schlucken einen Duft in die Nase leiten und reines Wasser plötzlich nach Pfirsich oder Cola schmecken lassen.

Eine Forschungsgruppe am Karolinska-Institut in Stockholm hat nun gezeigt, dass die Integration von Geruch und Geschmack viel früher passiert als bisher angenommen. In ihrer Studie ließen sie Teilnehmer zunächst lernen, süße und herzhafte Geschmäcker mit passenden Düften zu verbinden. Anschließend erhielten die Teilnehmer im MRT entweder reine Geschmacksstoffe ohne Geruch oder Duftstoffe ohne Geschmack.

Die Forscher stellten fest, dass die sogenannten retronasalen Düfte schon in der Insula, also im primären Geschmackskortex, dieselben Aktivitätsmuster hervorrufen wie die entsprechenden echten Geschmacksstoffe. Das Gehirn verarbeitet ein süßes Aroma so, als wäre Zucker auf der Zunge - und ein herzhaftes Aroma so, als wäre Glutamat im Spiel.

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