Die Frage nach der Anzahl der Nervenenden in der männlichen Eichel ist ein viel diskutiertes Thema, besonders im Zusammenhang mit der Beschneidung. Oft werden Behauptungen über eine extrem hohe Anzahl von Nervenenden in der Vorhaut aufgestellt, um gegen die Beschneidung zu argumentieren. Doch was steckt wirklich dahinter? Dieser Artikel beleuchtet die Faktenlage und räumt mit einigen Mythen auf.
Die Legende der "20.000 Nervenenden"
Ein häufiges Argument gegen die medizinisch unnötige Vorhautamputation ist die Betonung, dass die Vorhaut nicht nur sehr viele Nervenenden enthält und empfindlicher als die Eichel ist, sondern auch dass deren Anzahl „mehr als 10.000“, „(mehr als) 20.000“ oder sogar „bis 70.000“ oder „100.000“ sei. Die Intaktivisten-Bewegung, aktiv für intakte Genitalien als Menschenrecht, engagiert sich gegen Genitalverstümmelung aller Kinder. Intaktivisten klären auf über viele weit verbreitete Mythen über „Beschneidung“, insbesondere auch über die männliche. Vielfach stößt man bei Beschneidungsgegnern auf die Behauptung, die männliche Vorhaut enthalte „20.000 Nervenenden“. Auch ich nutzte sie in meinen Texten. Nach einem Beleg gefragt, suchte ich Stunden vergeblich danach. Statt eines Belegs stieß ich nur auf eine weit verbreitete Legende, wie im Folgenden dokumentiert.
Die nachverfolgbare Geschichte dieser Legende begann im Oktober 1997, als der Artikel von Paul Fleiss „The Case Against Circumcision“ in der populären Mütterzeitschrift „Mothering“ erschien. Dort wurde das erste Mal dokumentiert, dass die Vorhaut „mehr als 20.000 Nervenenden“ enthalte. Der populäre amerikanische Kinderarzt Paul Fleiss (1933-2014) war, aus Mitgefühl mit den Kindern, sehr aktiv gegen Genitalverstümmelung von Neugeborenen durch Routine Infant Circumcision (RIC) in USA.
Die Ursprünge der Zahl
Hannes Müller hat 2017 akribisch nachgeforscht, woher das von so vielen Intaktivisten benutzte Argument der 20.000 Nervenenden in der männlichen Vorhaut stammt und ob es zutrifft. Fleiss verwies in seinem Artikel auf einen Artikel von Bazett u.a. aus dem Jahr 1932. Dieser 29-seitige Artikel wird jedoch bei CIRP nur mit „Conclusions“ zur Verfügung gestellt. Im Artikel von Bazett u.a. wird jedoch keine Anzahl für die Nervenenden in der ganzen Vorhaut genannt. Dort gibt es nur eine Zählung von 212 Nervenenden in einem einzigen 1 cm² großen Stück Vorhautgewebe.
1997 wusste Fleiss von Bazett u.a., dass sie in einem 1-cm²-Stück eines einzigen Vorhautgewebes 212 Nervenenden gezählt hatten. Es ist naheliegend, dass Fleiss nun damit und mit der Vorhautgröße von 15 Zoll² = 96,8 cm² (oder mit 8 cm × 13 cm = 104 cm²) ähnlich rechnete: 96,8 cm² × 212 Nervenenden / cm² = 20.522 Nervenenden (bzw. 104 × 212 = 22.048 oder kurz: 100 × >200 = >20.000).
Lesen Sie auch: Entdecke die erstaunliche Komplexität des Gehirns
Es ist jedoch völlig unzureichend, ausgehend von einem einzigen 1-cm²-Stück Vorhaut und bei sehr unterschiedlicher Verteilung der Nervenenden darin, allgemein eine Anzahl der Nervenenden der ganzen Vorhaut abzuleiten.
Vorhautgröße und Nervenendendichte
1992 erschien das kleine Buch „Say No to Circumcision“ von T. J. Ritter und G. C. Denniston [DOC]. Darin heißt es: „Beschneidung entfernt ein Stück Haut, das (beim Erwachsenen) fast gleich groß ist wie eine 3 × 5 [Zoll²] Karteikarte.“ Daher wurde die Vorhautgröße eines Erwachsenen angegeben mit 3 × 5 Zoll² = 15 Zoll² = 96,8 cm². Für die Länge ist auch ca. 4 cm angegeben und für den Umfang 13 cm, was zu 8 cm × 13 cm = 104 cm² führt. Größenmessende Studien geben max. In zwei Studien von Kigozi u.a., 2009 zu „Vorhautoberfläche und HIV-Erwerb in Rakai, Uganda“ wurden von 965 erwachsenen Männern die Vorhautgrößen gemessen. Bei einem Mittelwert von 37,1 cm² gab es eine maximale Größe von 99,8 cm² und eine minimale von 7 cm².
Es ist wichtig zu beachten, dass die Nervenenden in der Vorhaut nicht gleichmäßig verteilt sind. 1996 war der Artikel des kanadischen Pathologen John R. Taylor u.a. über das „gefurchte Band“ der Vorhaut erschienen. Taylor beschrieb darin, dass die eingekapselten Nervenenden in der Vorhaut in dem „gefurchten Band“ konzentriert und daher sehr unterschiedlich verteilt sind.
Evidenzbasierte Schätzungen und wissenschaftliche Erkenntnisse
Es ist Zeit für die Beschneidungsgegner, sich von der übertriebenen Anzahl von 20.000 Nervenenden in der Vorhaut zu trennen. Aussagen über die Vorhautanatomie sollten evidenzbasiert auf Studien beruhen, veröffentlicht in wissenschaftlichen Zeitschriften, damit sie kontrollierbar und nachvollziehbar sind. Das sollte ernst genommen werden. Publikationen mit der 20.000-Legende sollten nicht mehr verbreitet werden.
Einige Wissenschaftler haben versucht, die Anzahl der Nervenenden in der Vorhaut auf der Grundlage von Vergleichen mit anderen Hautbereichen zu schätzen. Eine solche Schätzung, die auf der Anzahl der Meissner-Körperchen in der Fingerspitze basiert, ergab eine Größenordnung von 1.000 bis 10.000 Nervenenden in der Vorhaut. Es wurde jedoch betont, dass dies nur eine grobe Schätzung ist und die tatsächliche Anzahl wahrscheinlich am unteren Ende dieser Spanne liegt.
Lesen Sie auch: Wissenschaftliche Erkenntnisse zur Gehirnkapazität
Es gibt auch Überlegungen zur Geschlechtergleichheit in Bezug auf die Anzahl der Nervenenden in den Genitalien. Einige Quellen geben an, dass die Peniseichel etwa 4.000 Nervenenden hat, während die Klitoris etwa 8.000 Nervenenden besitzt. Unter der Annahme einer ähnlichen Gesamtanzahl an Nervenenden bei Mann und Frau würden für die Penisvorhaut maximal 10.000 Nervenenden verbleiben.
Die Sensibilität der Vorhaut im Vergleich zu anderen Körperteilen
Häufig heißt es auch, die Vorhaut sei der sensibelste Teil des männlichen Körpers. Das Zirkumpendium nennt sie den „empfindlichsten Teil des Körpers, in etwa zehnmal so empfindlich wie die Fingerkuppen.“ Das sind allerdings nur Vermutungen. Zuverlässige Quellen gibt es anscheinend aber nur darüber, dass Augenlider, Lippen und Fingerkuppen ähnlich dicht innerviert sind. Solange für die o.a. Aussage keine zuverlässige Quelle angege-ben werden kann, sollte es daher nur heißen: „einer der sensibelsten Teile des männlichen Körpers“. Die darüber oft gemachten Angaben sind wohl ebenso wenig aussagekräftig bezüglich der Anzahl der Nervenenden bzw. der Sensibilität wie Angaben über die Größe eines Penis.
Die Funktion der Vorhaut und ihre Bedeutung für die sexuelle Funktion
Die Vorhaut ist mehr als nur eine Schutzhülle für die Eichel. Sie ist ein komplexes und hochgradig entwickeltes Organ mit vielen interessanten und einzigartigen Eigenschaften. Kein anderer Teil der Hautdecke des Körpers ähnelt dem erstaunlichen Design und den funktionalen Möglichkeiten der Vorhaut. Die Vorhaut ist mehr als nur Haut, sie ein komplexes, extrem bewegliches, formschönes Organ, dass aus einem dichten Netz aus Blutgefäßen, Muskelgewebe und Nerven besteht.
Die Vorhaut spielt eine wichtige Rolle bei der sexuellen Funktion des Mannes. Sie enthält spezialisierte Nervenrezeptoren, die für die Wahrnehmung von Berührungen und die Auslösung sexueller Erregung verantwortlich sind. Insbesondere das „gefurchte Band“ der Vorhaut ist eine Zone mit einer hohen Konzentration an erogenen Nervenrezeptoren.
Die Eversion (Ausstülpen) und Reversion (Einstülpen) der Vorhaut, während der Erektion und des sexuellen Spiels, sorgen dafür, dass die Falten der gefurchten Schleimhaut sich wie die Bügel eines Akkordions ausdehnen und wieder zusammenziehen. Diese Bewegung ermöglicht es jeder Oberfläche der Falten mit dem Eichelkranz in Berührung zu kommen. Das Ausfalten und Einfalten der gefurchten Schleimhaut über der Eichel sorgt dafür, dass alle erotogenen (=sexuelle Empfindungen auslösende) Nervenenden stimuliert werden, was das sexuelle Vergnügen steigert.
Lesen Sie auch: Krämpfe: Ursachen und was hilft?