Die Hirnforschung gehört zu den spannendsten Feldern der Medizin. Das menschliche Gehirn ist das komplizierteste Organ, das die Natur je hervorgebracht hat. Es besteht aus 100 Milliarden Nervenzellen und einem Vielfachen davon an Kontaktpunkten, die ihm Fähigkeiten verleihen, an die kein Supercomputer bis heute heranreicht. In ihm lagern unsere Erinnerungen, entstehen unsere Gedanken und Gefühle, und von hier werden alle Körperfunktionen gesteuert.
Die Herausforderungen der Hirnforschung
Obwohl die Hirnforschung große Fortschritte gemacht hat, sind erst etwa fünf Prozent des Gehirns vollständig verstanden. Die Erforschung der restlichen 95 Prozent stellt die Wissenschaft vor enorme Herausforderungen. Eine der größten Herausforderungen besteht darin, die Aktivität einer sehr großen Anzahl von Nervenzellen gleichzeitig zu erfassen und deren Zusammenspiel zu verstehen. Dies erfordert komplexe mathematische Verfahren, da die Prozesse im Gehirn unsere Vorstellungskraft übersteigen.
Methodische und intellektuelle Hürden
Prof. Dr. Wolf Singer, emeritierter Professor am Max-Planck-Institut für Hirnforschung, erläuterte die methodischen und intellektuellen Herausforderungen der Hirnforschung. Er betonte, dass es schwierig sei, Prozesse zu analysieren, deren Komplexität und Dynamik unser Vorstellungsvermögen übersteige. Dies stelle ein großes Problem bei der Hypothesenbildung dar, da wir uns oft nicht vorstellen können, was das Gehirn tatsächlich leisten kann.
Die großen Wissenslücken
Singer formulierte drei zentrale Fragen, die die Hirnforschung weiterhin umtreiben:
- Was sind die Gründe für Fehlfunktionen, die zu Erkrankungen wie Depression, Schizophrenie, Autismus, Persönlichkeitsstörungen oder degenerativen Erkrankungen wie Parkinson oder Alzheimer führen?
- Wie werden unsere individuellen Empfindungen, Emotionen und Entscheidungen durch neuronale Interaktion hervorgebracht (das Leib-Seele-Problem)?
- Wie kann es sein, dass Menschen ein normales, angepasstes Leben führen und zugleich fähig sind, ungeheuerliche Grausamkeiten zu planen und zu vollbringen?
Psychiatrische Erkrankungen: Vom Symptom zum Mechanismus
Psychiatrische Erkrankungen stellen ein weltweites Problem dar und tragen neben dem individuellen Leid der Betroffenen zur größten Krankheitslast für die Gesellschaft bei. Prof. Dr. Dr. Elisabeth Binder, Geschäftsführende Direktorin des Max-Planck-Instituts für Psychiatrie in München, befasst sich mit "Stand und Perspektiven der Behandlung psychiatrischer Erkrankungen".
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Das Dilemma der Psychiatrie
Binder bezeichnete es als Dilemma, dass die Psychiatrie noch immer ein nur sehr rudimentäres Verständnis der Krankheitsprozesse habe. Die Diagnosen seien rein symptombasiert, es gebe keine Biomarker, und die Behandlung finde nach dem Versuch-und-Irrtum-Prinzip statt. Im Gegensatz zur Inneren Medizin, die über 3000 zugelassene klinische Tests verfüge, basiere die Psychiatrie hauptsächlich auf der Katalogisierung von Symptomen im Dialog zwischen Patient und Therapeut.
Fortschritte und Hoffnung
Trotz dieser Herausforderungen betonte Binder, dass es in den vergangenen Jahren Durchbrüche in mehreren Bereichen gegeben habe, darunter Fortschritte in der Genetik, optogenetische Methoden und intelligente Geräte, die die Bewegung, das Stressniveau oder das Schlafverhalten von Patient:innen im natürlichen Umfeld messen. Diese Möglichkeiten generieren Unmengen an Daten, die es nun zu verstehen gelte.
Die Notwendigkeit einer Mechanismus-basierten Diagnose
Binder plädierte für eine Mechanismus-basierte Diagnose, die es erlaubt, psychiatrische Erkrankungen von den Genen über die Zellen und Verschaltungen bis hin zum Verhalten zu verstehen. Dies würde es ermöglichen, Patient:innen mit derselben Diagnose (z.B. Schizophrenie oder Depression), aber unterschiedlichen Ursachen auseinanderzudividieren und personalisierte Interventionen anzubieten. Dafür sei eine enge Verzahnung von Grundlagenforschung, klinischer Forschung und Patientenversorgung erforderlich.
Hirnorganoide: Ein vielversprechender Forschungsansatz
Eine der momentan vielversprechendsten Methoden zum besseren Verständnis des menschlichen Gehirns sind Hirnorganoide. Prof. Dr. Jürgen Knoblich, wissenschaftlicher Leiter am Institut für Molekulare Biotechnologie (IMBA) der Österreichischen Akademie der Wissenschaften in Wien, synthetisierte 2013 ein Hirnorganoid, das die Entwicklung von einigen Teilbereichen des menschlichen Gehirns rekapituliert.
Was sind Hirnorganoide?
Hirnorganoide sind Organstrukturen, die mithilfe von Stammzellen in vitro erzeugt werden. Sie stellen einen der wichtigsten aktuellen Forschungsansätze dar, um Teile des menschlichen Gehirns nachzubilden und somit Krankheiten zu erforschen, über die die Wissenschaft noch zu wenig weiß, um sie behandeln zu können. Forschende sind in der Lage, induzierte pluripotente Stammzellen (iPS-Zellen) in Gewebe verschiedener Organe zu verwandeln.
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Anwendungen von Hirnorganoiden
Knoblichs Team beschäftigte sich zunächst mit der Erforschung der Mikrozephalie, einer Erbkrankheit, bei der die betroffenen Kinder mit einem ungewöhnlich kleinen Kopf geboren werden, was zu Gehirnschäden und Entwicklungsverzögerungen führen kann. Als 2016 das ZIKA-Virus in Brasilien auftauchte und es gleichzeitig zu einem enormen Anstieg an Neugeborenen mit Mikrozephalie kam, erbrachten Experimente in Organoiden den Nachweis, dass das ZIKA-Virus ursächlich für diese Erkrankungen verantwortlich war. Über Hirnorganoide könne man zudem Hirntumormodelle erstellen, an denen die Wirksamkeit bestimmter Medikamente getestet werden.
Fortschritte in der Einzelzellanalyse
Als neuesten "Coup" stellte Knoblich die Einzelzellanalyse in cerebralen Organoiden vor. "Dadurch können wir voraussagen, welche Gene in einer einzelnen Zelle aktiv waren. Vor kurzem ist es uns so gelungen, die Vorläuferzellen der tuberösen Sklerose zu identifizieren."
Ethische und rechtliche Aspekte
Die Forschung mit Hirnorganoiden wirft wichtige ethische und rechtliche Fragen auf. Ein Ansatz besteht darin, Organoide in das Gehirn von Mäusen einzupflanzen, deren Blutgefäße in das Organoid hineinwachsen und es versorgen. Dies führt zu Diskussionen über die Akzeptanz von Tierversuchen und die Notwendigkeit von mehr Aufklärung und Transparenz.
Die Limitationen der Organoid-Forschung
Elisabeth Binder betonte, dass es wichtig sei, auch auf die Limitationen für die psychiatrische Forschung hinzuweisen. "Es wird viele Potenziale geben, aber es gibt auch viele andere Mechanismen oder Verschaltungen, die wir nicht darstellen können. Uns interessiert komplexes Verhalten. Organoide werden sich niemals verhalten können. Es ist ein tolles und neues Werkzeug, aber es kann nicht alles erklären", so die Forscherin. Wolf Singer stimmte dieser Aussage zu und verwies darauf, dass man bestimmte Fragestellungen zu psychiatrischen Erkrankungen nur am System selbst untersuchen könne, nicht an einem Ersatz wie den Organoiden.
Die Plastizität des Gehirns
Eine der wichtigsten Eigenschaften des Gehirns ist seine Lernfähigkeit. Bis vor wenigen Jahren galt unter Wissenschaftlern als ausgemacht: Das Gehirn eines Erwachsenen verändert sich nicht mehr. Heute weiß man jedoch, dass das Gehirn bis ins hohe Alter laufend umgebaut wird. Manche Neurobiologen vergleichen es sogar mit einem Muskel, der trainiert werden kann.
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Synaptische Plastizität
Lernen findet an den Synapsen statt - also den Orten, an denen die elektrischen Signale von einer Nervenzelle zur nächsten übertragen werden. Neurowissenschaftler haben herausgefunden, dass Synapsen die Effektivität der Übertragung variieren können. Man bezeichnet dieses Phänomen auch als synaptische Plastizität. So kann eine Synapse durch einen Vorgang namens Langzeitpotenzierung (LTP) verstärkt werden, indem sie mehr Botenstoff ausschüttet oder mehr Botenstoffrezeptoren bildet.
Reparaturmechanismen des Gehirns
Seine Plastizität hilft dem Gehirn zudem, Schäden zumindest teilweise zu reparieren. Sterben beispielsweise bei einem Schlaganfall Nervenzellen ab, können benachbarte Hirnregionen die Aufgaben des betroffenen Gebiets zum Teil übernehmen.
Die Vernetzung des Gehirns
Ein weiteres wichtiges Forschungsfeld ist die Verschaltung innerhalb des Gehirns. Das menschliche Gehirn lässt sich nach verschiedenen Kriterien untergliedern. Besonders auffällig ist die zum Endhirn gehörende sogenannte Großhirnrinde, der sogenannte Kortex. Sie ist im Laufe der Evolution so stark gewachsen, dass sie fast das gesamte Gehirn umgibt.
Magnetresonanztomografie (MRT)
Welche Gehirngebiete miteinander verbunden sind, untersuchen Wissenschaftler mithilfe der sogenannten Magnetresonanztomografie (MRT). Mit dieser Technik können sie die zu Fasersträngen gebündelten Fortsätze von Nervenzellen sichtbar machen, die die Areale der Großhirnrinde miteinander verbinden.
Funktionelle Magnetresonanztomografie (fMRT)
Mit einer Variante dieser Technik, der sogenannten funktionellen Magnetresonanztomografie, können Wissenschaftler zwischen aktiven und nicht aktiven Gehirnregionen unterscheiden. Damit haben sie viel über den Aufbau und die Funktionsweise des Gehirns gelernt.
Das Gedächtnis: Wie wir uns erinnern und vergessen
Unser Gehirn arbeitet stets auf Hochtouren, denn es sortiert, filtert und speichert Erlebnisse, Eindrücke und Erfahrungen im Gedächtnis ab. Im Vergleich zur Festplatte eines Computers speichert unser Gehirn nicht Null und Eins, sondern bei jeder Informationsverarbeitung verändert sich die Verknüpfung der Nervenzellen im Gehirn. Dieses sogenannte neuronale Netz ist bei jedem Menschen unterschiedlich.
Die drei Gedächtnisbereiche
Drei verschiedene Gedächtnisbereiche sind im Gehirn für das Lernen von Bedeutung: das Ultrakurzzeitgedächtnis, das Arbeits- oder Kurzzeitgedächtnis und das Langzeitgedächtnis.
Wie wir unser Gedächtnis trainieren können
Wir können unser Gedächtnis aber auch trainieren. Eine wichtige Rolle bei Erkrankungen spielt Bewegung: In der Bevölkerungsstudie Rheinland Studie standen Untersuchungen des Gehirns im Fokus. Basierend auf diesen Daten kam das Deutsche Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen e. V. (DZNE) in weiteren Untersuchungen 2022 zu dem Schluss, dass das Gehirn bereits von leichter körperlicher Aktivität profitiert.
Neuroimaging: Ein Blick in das lebende Gehirn
Einen Blick in das lebende Gehirn werfen - die Neuro-Bildgebung macht es möglich. Dabei können Wissenschaftler mit nicht-invasiven Untersuchungen sowohl etwas über die Struktur als auch über die Funktion des Gehirns lernen.
Funktionelle Bildgebung
Besonders bei der Erforschung von psychiatrischen, neurologischen und neurodegenerativen Erkrankungen, wie Morbus Alzheimer, ist der Einsatz der funktionellen Bildgebung fortgeschritten.
Die Zukunft des Neuroimaging
Potenzial sieht Prof. Dr. Büchel besonders in der Kooperation mit Experten aus dem Feld der Computational Neuroscience, bei der das Verhalten von Nervenzellen mithilfe von Computermodellen simuliert wird. Diese Modelle erlauben es, die Komplexität von Hirnvorgängen darzustellen und dadurch besser zu verstehen.
Die Speicherkapazität des Gehirns: Eine Schätzung
Die theoretisch möglichen Kombinationen aller Kontakte in einem einzigen Gehirn sind größer als die Anzahl aller Atome im Universum. Die Frage nach der Speicherkapazität des Gehirns ist jedoch schwer zu beantworten. Das Problem ist, dass das Gehirn Information deutlich anders verarbeitet als ein Computer.