Die Hirnforschung hat sich in den letzten Jahren zu einem zentralen Punkt im Dialog zwischen Natur- und Kulturwissenschaften entwickelt. Fragen nach Bewusstsein, Identität und Selbstbestimmung des Menschen stehen dabei im Fokus. Der vorliegende Artikel widmet sich einer kritischen Auseinandersetzung mit Wolf Singers Werk "Der Beobachter im Gehirn", wobei Chancen und Grenzen dieses Forschungsgebietes beleuchtet werden.
Das Jahrzehnt des Gehirns: Eine verstärkte Hinwendung zu den Neurowissenschaften
Der amerikanische Senat erklärte die neunziger Jahre zur "decade of the brain". Zeitgleich wurde das weltumspannende »human science frontier program« beschlossen, das die Förderung der Neurowissenschaften in den Mittelpunkt stellte. Diese Intensivierung der Hirnforschung ist auf vielfältige Beweggründe zurückzuführen, die sowohl medizinische als auch gesellschaftliche Interessen berühren.
Medizinische Perspektiven: Hoffnung und Herausforderungen
Ein wesentlicher Antrieb für die Hirnforschung sind medizinische Gründe. Geistes- und Gemütskrankheiten wie Schizophrenie und Depression entbehren bisher jeglicher kausaler Erklärung und Therapie. Obwohl Hinweise auf fehlerhafte Gehirnfunktionen als Ursache vorliegen, ist es bisher nicht gelungen, die Störungen einzugrenzen.
Bei anderen Erkrankungen, wie der multiplen Sklerose und degenerativen Erkrankungen des Zentralnervensystems, sind Ort und Art der pathologischen Prozesse bekannt, jedoch fehlen wirksame Therapien. Die Alzheimersche Erkrankung stellt aufgrund der steigenden Lebenserwartung eine wachsende Bedrohung dar.
Dennoch gibt es auch Erfolge, die Hoffnung auf kausale Therapieverfahren geben. Fortschritte bei der Behandlung von Epilepsien, Schmerzsyndromen, Angstzuständen und der Parkinsonschen Erkrankung basieren auf der Analyse zellulärer und biochemischer Prozesse im Gehirn. Auch die Situation von Hirnverletzten und Schlaganfallpatienten könnte sich durch die Entdeckung von Substanzen zur Wachstumsstimulation von Nervenzellen und der Möglichkeit von Nervenzelltransplantationen verbessern.
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Die Rolle der Hirnentwicklung und Umweltinteraktion
Die Untersuchung der Hirnentwicklung brachte die Erkenntnis, dass die strukturelle Reifung des Gehirns höherer Säugetiere einschließlich des Menschen bei der Geburt noch lange nicht abgeschlossen ist, sondern sich bis in die Pubertät fortsetzt. Während dieser Zeit erfährt die Verschaltung verschiedener Hirnzentren noch eine tiefgreifende Überformung. Die Grundverschaltung ist zwar genetisch festgelegt, doch werden zunächst Verbindungen im Überschuss angelegt. Während der postnatalen Entwicklung erfolgt dann eine Auswahl der Verbindungen, die den funktionellen Anforderungen am besten entsprechen, während unpassende Verbindungen unwiderruflich zerstört werden.
Das heranwachsende Gehirn gewinnt die Kriterien für diesen Selektionsvorgang zum Teil aus der Interaktion mit seiner Umwelt. Wenn etwa die Augen während der ersten Lebensjahre wegen einer Hornhauttrübung nicht benutzt werden können, werden die für den normalen Sehvorgang in der Hirnrinde erforderlichen Verbindungen nicht optimiert. Ähnliches gilt für kognitive Funktionen wie den Spracherwerb.
Die genetisch vorgegebene Grundverschaltung des Gehirns repräsentiert bereits erhebliches "Wissen" über die Welt, in die das werdende Gehirn hineingeboren wird. Dieses Wissen wurde im Laufe der Entstehung der Arten in den Genen gespeichert und drückt sich in den angeborenen Verhaltensmustern aus. Postnatale Hirnentwicklung vollzieht sich also auf der Basis eines Frage-und-Antwort-Spiels, wobei das werdende Gehirn meist die Initiative hat.
Gesellschaftliches Interesse und die Grenzen künstlicher Intelligenz
Neben den medizinischen Perspektiven gibt es ein wachsendes gesellschaftliches Interesse an den Neurowissenschaften. Künstliche "intelligente" Systeme versagen bei Problemen, die von natürlichen Gehirnen mit besonderer Eleganz und Leichtigkeit gelöst werden. Der Grund dafür liegt in den unterschiedlichen Organisationsprinzipien. Die Hoffnung richtet sich daher auf die Neurowissenschaften, um die Organisationsprinzipien unseres Gehirns zu entschlüsseln.
Natürliche Gehirne dienen als ideale Modelle für das Studium von Wechselwirkungen in komplexen, sich selbst organisierenden Systemen. Das Nervensystem ist ein "lebender Beweis" dafür, dass komplexe, stark vernetzte Systeme stabile Zustände einnehmen und zu zielgerichtetem Handeln fähig sind, obgleich sie einer übergeordneten Steuerzentrale entbehren. Ein vertieftes Verständnis des Gehirns könnte helfen, jene Regeln zu erkennen, die zur Stabilisierung und Selbstorganisation hochkomplexer, dynamischer Systeme beitragen.
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Die Annäherung verschiedener Wissensgebiete
Während die Erforschung anderer Organe ausschließlich Domäne der Biowissenschaften ist, stellt das Gehirn auch für Psychologen, Linguisten, Psychiater, Neurologen, Verhaltensforscher und Informatiker eine faszinierende Herausforderung dar. Die Annäherung der verschiedenen Wissensgebiete hat die Hirnforschung in eine besonders erkenntnisträchtige Phase geführt. In Einzelfällen können jetzt für bestimmte Verhaltensleistungen von Tieren die zugrundeliegenden neuronalen Prozesse über die verschiedenen Ebenen hinweg bis hinunter zu den molekularen Vorgängen fast lückenlos angegeben werden.
Auch Teilleistungen komplexer Gehirne konnten auf neuronaler Ebene analysiert werden, darunter die Vorverarbeitung von Sinnessignalen, das Erkennen von Mustern, Lern- und Gedächtnisvorgänge und das Entwerfen von Handlungsfolgen. Mit Hilfe bildgebender Verfahren lassen sich mentale Prozesse wie das Aufrufen von Gedächtnisinhalten, das Vorstellen von Szenen, das stumme Sprechen und das Planen von Handlungen bestimmten Hirnregionen zuordnen.
Kritik an Wolf Singers "Der Beobachter im Gehirn"
Wolf Singer, Direktor am Max-Planck-Institut für Hirnforschung in Frankfurt, gilt als einer der bekanntesten Hirnforscher Deutschlands. In seinem Essayband "Der Beobachter im Gehirn" setzt er sich mit der Frage auseinander, wie das Gehirn funktioniert und welche Implikationen dies für unser Verständnis von Bewusstsein, freiem Willen und Verantwortung hat.
Die Entlarvung des Homunkulus und die Frage des "Ichs"
Singer argumentiert, dass es im Gehirn keinen zentralen "Beobachter" oder "Homunkulus" gibt, der alle Informationen zusammenführt und Entscheidungen trifft. Stattdessen sei das Gehirn ein selbstorganisierendes, dezentrales System, dessen Leistungen auf massiv paralleler Arbeitsweise und rückgekoppelter Architektur beruhen. Diese Erkenntnis stellt unweigerlich die Frage nach dem "Ich" und der subjektiven Freiheit des Menschen.
Singer neigt dazu, das Ich als kulturelles Konstrukt zu begreifen, das von außen an das Kind herangetragen und schließlich von ihm verinnerlicht wird. Die objektive Freiheit sei aus neurobiologischer Sicht ausgeschlossen, die subjektive Freiheit also in gewisser Hinsicht Illusion.
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Kritik an Singers Thesen
Singers Thesen haben in der Fachwelt und darüber hinaus für Diskussionen gesorgt. Kritiker bemängeln, dass er die komplexen Zusammenhänge zwischen Gehirn, Geist und Verhalten zu stark vereinfacht und die Bedeutung von Bewusstsein und freiem Willen unterschätzt.
Einige werfen ihm vor, einen "Angriff der Naturwissenschaften auf die Geisteswissenschaften" zu inszenieren und die traditionellen Vorstellungen von menschlicher Autonomie und Verantwortung infrage zu stellen. Andere kritisieren, dass seine Schlussfolgerungen nicht immer ausreichend begründet sind und auf spekulativen Annahmen beruhen.
Medizinische und gesellschaftliche Implikationen
Trotz der Kritik an Singers Thesen sind seine Arbeiten von großer Bedeutung für die Hirnforschung und die Neurowissenschaften. Seine Erkenntnisse haben wichtige Implikationen für die Entwicklung neuer Therapien für neurologische und psychiatrische Erkrankungen sowie für unser Verständnis von menschlichem Verhalten und sozialer Interaktion.
Singer selbst sieht in der Hirnforschung auch die Möglichkeit, Modelle für komplexe wirtschaftliche und politische Systeme zu entwickeln. Er plädiert für eine interdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen Natur- und Geisteswissenschaften, um ein umfassenderes Verständnis des Menschen und seiner Rolle in der Welt zu erlangen.
Die Debatte um den freien Willen: Eine andauernde Herausforderung
Die Frage nach dem freien Willen ist eine der ältesten und umstrittensten Fragen der Philosophie. Die Hirnforschung hat diese Debatte neu entfacht, indem sie gezeigt hat, dass viele unserer Handlungen unbewusst vorbereitet und ausgeführt werden, bevor wir uns ihrer bewusst werden.
Die Experimente von Libet und die Kritik daran
Die Experimente von Benjamin Libet haben gezeigt, dass das Bereitschaftspotential im Gehirn bereits vor der bewussten Entscheidung für eine Handlung auftritt. Dies hat zu der Schlussfolgerung geführt, dass unsere bewussten Entscheidungen nicht die Ursache unserer Handlungen sind, sondern lediglich deren Begleiterscheinung.
Diese Schlussfolgerung ist jedoch umstritten. Kritiker argumentieren, dass die Experimente von Libet nicht die komplexen Entscheidungsprozesse im Alltag widerspiegeln und dass die Rolle des Bewusstseins bei der Handlungsplanung und -kontrolle unterschätzt wird.
Die Bedeutung des bewussten Vetos
Libet selbst betonte, dass wir zwar unsere Handlungen nicht bewusst initiieren, aber bewusst stoppen können. Dieses "bewusste Veto" gibt uns die Möglichkeit, unwillkommene Impulse zu unterdrücken und unsere Handlungen zu kontrollieren.
Die Fähigkeit zum bewussten Veto ist ein wichtiger Aspekt der menschlichen Autonomie und Verantwortung. Sie ermöglicht es uns, moralische Normen zu befolgen und unsere Handlungen an unseren Werten und Zielen auszurichten.
Die Rolle von Erfahrung und Sozialisation
Unsere Entscheidungen und Handlungen sind nicht nur von unseren Genen und neuronalen Prozessen abhängig, sondern auch von unseren Erfahrungen und unserer Sozialisation. Wir lernen im Laufe unseres Lebens, welche Handlungen akzeptabel sind und welche nicht, und entwickeln moralische Werte und Überzeugungen, die unsere Entscheidungen beeinflussen.
Die Hirnforschung kann uns helfen, die neuronalen Grundlagen dieser Lernprozesse besser zu verstehen. Sie kann uns aber nicht sagen, welche Werte wir haben sollen und wie wir unsere Gesellschaft gestalten sollen. Diese Fragen müssen im gesellschaftlichen Diskurs und im politischen Prozess entschieden werden.