Die Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) ist eine komplexe neurologische Entwicklungsstörung, die durch Unaufmerksamkeit, Hyperaktivität und Impulsivität gekennzeichnet ist. Obwohl ADHS traditionell als psychische Störung betrachtet wurde, deuten aktuelle Forschungsergebnisse auf eine starke neurobiologische Grundlage hin. Dieser Artikel untersucht die vielfältigen Ursachen und Entstehungsmechanismen von ADHS und beleuchtet sowohl psychische als auch neurologische Aspekte.
Einführung in ADHS
ADHS ist eine der häufigsten psychischen Störungen bei Kindern und Jugendlichen, bleibt aber oft bis ins Erwachsenenalter bestehen. Die Symptome können sich im Laufe des Lebens verändern, wobei Hyperaktivität im Erwachsenenalter tendenziell abnimmt und Konzentrationsschwierigkeiten und innere Unruhe in den Vordergrund treten. Die Diagnose von ADHS ist nicht immer einfach, da die Symptome unterschiedlich stark ausgeprägt sein können und von anderen Störungen begleitet werden können.
Genetische Faktoren bei ADHS
Ein wichtiger Faktor bei der Entstehung von ADHS ist die genetische Veranlagung. Studien haben gezeigt, dass ADHS familiär gehäuft auftritt, was auf eine Vererbung hindeutet. Zwillingsstudien liefern überzeugende Belege dafür, dass genetische Faktoren eine bedeutende Rolle spielen. Gut 80 % der eineiigen Zwillinge weisen die gleiche Symptomatik auf, verglichen mit knapp 30 % der zweieiigen Zwillinge. Molekulargenetische Studien haben einzelne Regionen im menschlichen Erbgut identifiziert, die bei Menschen mit ADHS typische Veränderungen aufweisen. Insbesondere bei den Erbinformationen, die für die Bildung und Übertragung des Botenstoffes Dopamin verantwortlich sind, konnten entsprechende Veränderungen festgestellt werden. Allerdings können die bislang identifizierten Veränderungen die Entwicklung einer ADHS nur zu einem sehr geringen Teil erklären. Das Zusammenspiel zwischen verschiedenen Genen und das Zusammenspiel von erblichen und Umweltfaktoren sind für die Entwicklung von ADHS vermutlich besonders wichtig, jedoch liegen nur wenige Untersuchungsergebnisse vor. Nach gegenwärtigem Forschungsstand wird davon ausgegangen, dass viele einzelne genetische Veränderungen zusammenwirken.
Neurobiologische Grundlagen von ADHS
Das wissenschaftlich begründete Erklärungsmodell für die Entstehung der ADHS legt eine fehlerhafte Informationsverarbeitung zwischen bestimmten Hirnabschnitten zugrunde, welche für die Konzentration, Wahrnehmung und Impulskontrolle zuständig sind. Diese Störung ist wiederum durch ein Ungleichgewicht der Botenstoffe (Neurotransmitter) in diesen Hirnbereichen - vor allem von Dopamin und Noradrenalin - bedingt, die eine wichtige Rolle bei der Signalübertragung von einer Nervenzelle zur anderen spielen. Man geht u.a. davon aus, dass bei ADHS-Patienten Dopamin im Raum zwischen zwei Nervenzellen, dem so genannten synaptischen Spalt, nicht in ausreichender Menge zur Verfügung steht. Die Unterversorgung mit diesem Botenstoff führt zu einer gestörten Informationsweiterleitung zwischen den Nervenzellen. Reize werden nur schlecht und unzureichend gefiltert.
Ergebnisse neuroanatomischer Studien sprechen dafür, dass bei ADHS Funktionsstörungen bestimmter neuronaler Regelkreise vorliegen, deren wesentliche Bestandteile das Striatum (ein Teil der Basalganglien) und das Frontalhirn sind. Aber auch im Kleinhirn und anderen Hirnarealen von Kindern mit ADHS wurden Abweichungen gefunden. Die betreffenden Regelkreise sind wesentlich daran beteiligt, das Zusammenwirken von Motivation, Emotion, Kognition und Bewegungsverhalten neuronal zu realisieren bzw. zu steuern. Dysfunktionen (Funktionsstörungen) dieser Regelkreise gehen mit einem Über- oder Unterangebot von Botenstoffen (Neurotransmittern) in bestimmten Gehirnregionen einher.
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Menschen mit ADHS können aufgrund der Stoffwechsel- und Funktionsstörungen in ihrem Gehirn die dauernden neuen Impulse nicht genügend filtern, so dass die Informationsverarbeitung behindert wird. Sie unterliegen einer permanenten Reizüberflutung. Die Betroffenen sind daher nur eingeschränkt in der Lage, ihre Aufmerksamkeit auf eine Sache zu konzentrieren, sie leiden an einer gestörten Selbstregulation. Gleichzeitig ist der Zugriff auf vorhandene Fähigkeiten und Informationen eingeschränkt, so dass eine vorausschauende Handlungsplanung erschwert wird. Sie können wichtige von unwichtigen Wahrnehmungen kaum unterscheiden. Da alle Eindrücke ungefiltert auf sie einstürzen, stehen sie ständig unter einer großen Anspannung.
Umweltfaktoren und ADHS
Neben genetischen Faktoren spielen auch Umweltfaktoren eine Rolle bei der Entstehung von ADHS. Der Konsum von Nikotin, Alkohol oder anderen Drogen während der Schwangerschaft sowie ein Sauerstoffmangel bei der Geburt erhöhen vermutlich das Risiko des Kindes, später an ADHS zu erkranken. Auch zentralnervöse Infektionen während der Schwangerschaft, Schädelhirntraumen oder Verletzungen sowie Komplikationen während Schwangerschaft und Geburt werden mit späteren hyperkinetischen Auffälligkeiten in Verbindung gebracht. Die Mehrzahl der Kinder und Jugendlichen mit ADHS weisen derartige Belastungen jedoch nicht auf.
Die Entwicklung und der Verlauf von ADHS kann durch familiäre und schulische Einflüsse beeinflusst werden. Familiäre Bedingungen, Bedingungen im Kindergarten und in der Schule sind zwar nicht die ausschließliche Ursache der Störung, sie können aber in einem erheblichen Maße die Stärke der Probleme und ihren weiteren Verlauf mitbestimmen. Weisen Eltern Betroffener selbst psychische Probleme auf (z.B. ADHS-Probleme) oder gibt es in der Familie viele Streitereien oder starke finanzielle Belastungen, können dadurch die ADHS-Symptome des Kindes oder Jugendlichen verstärkt werden. Zu den so genannten psychosozialen Risikofaktoren zählen z.B. unvollständige Familien, psychische Erkrankungen der Eltern, familiäre Instabilität, niedriges Familieneinkommen und Inkonsequenz in der Erziehung.
ADHS und moderner Lebensstil
Manche Fachleute vermuten, dass die ADHS-Entwicklung auch durch unseren heutigen modernen Lebensstil ungünstig beeinflusst wird. Statt Wege zur Schule zu Fuß zurückzulegen und täglich im Freien zu spielen, werden die Kinder mit dem Bus oder von den Eltern zur Schule gebracht und meistens wird drinnen gespielt und allzu häufig am PC. Körperliche Aktivität, optische und akustische Wahrnehmung aus der Natur und wirkliches „Begreifen“ mit den Händen findet immer weniger statt. Bewegungsdrang, überschießende Energie und Neugier können kaum ausgelebt werden. Weniger Autorität der Eltern und Lehrer fördert heutzutage zwar die freie Entfaltung gesunder Kinder, schadet aber dem ADHS-Kind, das klare Strukturen, Regeln und Regelmäßigkeit benötigt. Große Gruppenstärken in Kindergärten und Schulen, die individuelle Betreuung nahezu unmöglich machen, verschärfen das Problem, ebenso der sogenannte „offene Kindergarten“, der kaum Strukturen vorgibt.
Diagnose und Subtypen von ADHS
Die Diagnose ADHS soll nicht vor einem Alter von 3 Jahren gestellt werden. Auch im Vorschulalter sollte ADHS nur bei sehr starken Symptomen diagnostiziert werden. Die Diagnose wird anhand von Kriterien der Weltgesundheitsorganisation (ICD) und der US-amerikanischen psychiatrischen Gesellschaft (DSM) gestellt. Die aktuellen Versionen sind ICD-10 und DSM-5.
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Im DSM-5 heißt die Störung einheitlich "Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung“ (ADHS). Es werden verschiedene Erscheinungsformen unterschieden:
- Kombinierter Typus: Symptome von Unaufmerksamkeit und Hyperaktivität/Impulsivität sind vorhanden.
- Vorwiegend unaufmerksamer Typus: Hauptsächlich Symptome von Unaufmerksamkeit.
- Vorwiegend hyperaktiv-impulsiver Typus: Hauptsächlich Symptome von Hyperaktivität/Impulsivität.
Die Symptome müssen über einen längeren Zeitraum (mindestens 6 Monate) bestehen und in mehreren Lebensbereichen auftreten. Es müssen deutliche Hinweise dafür vorhanden sein, dass die Symptome das Funktionieren des Betroffenen im sozialen, schulischen oder beruflichen Bereich stören.
Komorbidität bei ADHS
ADHS wird oft von anderen Störungen oder Krankheiten begleitet, z.B. Depressionen, Angsterkrankungen, Tics, Autismus oder Epilepsie, sog. Komorbiditäten. Manchmal wird ADHS wegen einer begleitenden Erkrankung nicht erkannt. Umgekehrt können die Auswirkungen anderer Störungen oder Krankheiten auch mit ADHS verwechselt werden.
ADHS im Erwachsenenalter
ADHS ist keine Störung, die man als Erwachsener erwirbt oder entwickelt. Erwachsene, die mit ADHS diagnostiziert werden, litten bereits als Kinder oder Heranwachsende daran, jedoch ohne dass das Syndrom als solches erkannt wurde. Bei den meisten ADHS-Patienten und -Patientinnen ändern sich die Symptome allerdings, wenn sie erwachsen werden: Während sich ADHS bei Kindern oft vor allem durch Impulsivität und motorische Unruhe, also Zappeln oder starken Bewegungsdrang äußert, nimmt die hyperaktive Komponente im Erwachsenenalter in der Regel ab. Erwachsene Betroffene haben stattdessen vor allem mit Konzentrationsproblemen, Vergesslichkeit und innerer Unruhe zu kämpfen. Es fällt ihnen daher schwer, strukturiert oder lange an einer Aufgabe zu arbeiten, Termine oder Absprachen im Kopf zu behalten und äußere Reize wie Lärm auszublenden.
Positive Aspekte von ADHS
Medizinisch gesehen handelt es sich bei ADHS zwar um eine psychische Störung, die mit vielen Defiziten einhergeht. Doch weiß man heute, dass viele Betroffene auch über besondere Ressourcen verfügen, die ebenfalls mit der Störung zusammenhängen. Denn während Unruhe, Vergesslichkeit oder Ungeduld eher zu den Schattenseiten von ADHS zählen, zeichnen sich Patienten und Patientinnen ebenso oft durch Kreativität, Belastbarkeit, Empathie, Energie und Enthusiasmus aus. Zudem ist es ihnen unter bestimmten Umständen durchaus möglich, sich länger hoch konzentriert einer Tätigkeit zu widmen. Wenn ADHS-Patienten und -Patientinnen mit Hyperfokussierung an einer Aufgabe arbeiten, vergessen sie oft alles um sich herum, können problemlos lange Zeiträume ohne Pausen verbringen und auf diese Weise beeindruckende Leistungsergebnisse erzielen.
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Behandlung von ADHS
ADHS ist zwar nicht heilbar, lässt sich heute jedoch durch verschiedene Therapiemöglichkeiten effektiv behandeln. Eine frühzeitige, korrekte Diagnose ist für Betroffene der wichtigste Schritt, um gezielt Hilfe zu erhalten. Zu den gängigsten Therapie-Ansätzen gehören medikamentöse Behandlungen, etwa der Einsatz von Stimulanzien oder nicht-stimulierenden Medikamenten, welche die Konzentration und Impulskontrolle verbessern sollen. Ergänzend zur medikamentösen Therapie wird meist eine Verhaltenstherapie empfohlen. Diese vermittelt ADHS-Patienten und -Patientinnen Strategien, um ihren Alltag besser zu organisieren, Stress abzubauen und individuelle Herausforderungen meistern zu können. Auch spezielles Coaching für Erwachsene mit ADHS kann hilfreich sein, um praktische Lösungen für berufliche und private Probleme zu entwickeln. Manche Betroffene profitieren zudem von der Teilnahme an Selbsthilfegruppen, in denen sie sich mit anderen Betroffenen austauschen können. Doch auch ein gesunder Lebenswandel kann den Therapieerfolg maßgeblich unterstützen: So können sich eine ausgewogene Ernährung und ausreichend Schlaf positiv bei ADHS auswirken. Regelmäßige körperliche Aktivität gilt ebenfalls als förderlich, da sie die Dopamin-Ausschüttung fördert und Erwachsene mit ADHS häufig einen Dopamin-Mangel haben.
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