ADHS: Eine Stoffwechselstörung im Gehirn als Ursache?

ADHS, die Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung, ist ein komplexes neurologisches Syndrom, das durch Unaufmerksamkeit, Hyperaktivität und Impulsivität gekennzeichnet ist. Lange Zeit als bloße "Modekrankheit" abgetan, hat die Forschung in den letzten Jahren deutliche Fortschritte im Verständnis der Ursachen und Mechanismen von ADHS gemacht. Heute gilt als gesichert, dass ADHS zu einem hohen Prozentsatz erblich ist und eine Störung bzw. Normvariante des Frontalhirns darstellt. Dieser Artikel beleuchtet die aktuellen Erkenntnisse über die Stoffwechselstörungen im Gehirn, die als Hauptursache für ADHS angesehen werden, sowie weitere Faktoren, die zur Entstehung der Erkrankung beitragen können.

ADHS - Ein Überblick

ADHS ist eine psychische Störung, die meist im frühen Kindesalter auftritt und nicht selten bis ins Erwachsenenalter anhalten kann. Rund fünf Prozent aller Kinder leiden an ADHS, wobei Jungen häufiger betroffen sind als Mädchen. Die Störung kann sich in zwei Hauptausprägungen zeigen:

  • Unaufmerksamer Typ: Betroffene haben Schwierigkeiten, die Aufmerksamkeit zu fokussieren, sind leicht ablenkbar und vergesslich.
  • Hyperaktiv-impulsiver Typ: Betroffene sind übermäßig aktiv, unruhig und handeln impulsiv, ohne über die Konsequenzen nachzudenken.

In einigen Fällen treten beide Symptomgruppen gleichzeitig auf oder können sich im Laufe der Zeit verändern. Kinder mit ADHS haben aufgrund ihrer Konzentrationsstörung schlechtere Noten in der Schule und stören oft den Unterricht. Ihre Reizbarkeit und Impulsivität erschweren soziale Bindungen, wodurch viele Kinder wenige oder im schlimmsten Fall gar keine Freunde haben. Häufig leiden auch Erwachsene an ADHS, ohne von der Krankheit zu wissen. Wenn die Störung im Kindesalter nicht erkannt wird, kann ADHS Erwachsene in ihrem sozialen und beruflichen Leben negativ beeinflussen. Erwachsene mit ADHS sind einem höheren Risiko von Arbeitslosigkeit und Suchtverhalten ausgesetzt. Eine unbehandelte ADHS-Störung bei Erwachsenen kann zu Kontaktstörungen und Depressionen führen.

Die Rolle des Frontalhirns und der Informationsverarbeitung

Sicher ist heute, dass die ADHS eine Störung bzw. Normvariante des Frontalhirns darstellt, welches für die Verhaltensregulierung, aber auch für Entscheidungen, Auswertung von Erfahrungen und für die gesamte Steuerung des Organismus zuständig ist. Das Frontalhirn steuert die Informationsverarbeitung all der Millionen Reize, die jede Sekunde auf uns einströmen. Es muss diese Reize mit Hilfe untergeordneter Hirnzentren filtern, sortieren, ablegen, löschen oder weiterleiten. Das setzt voraus, dass in unserem Gehirn eine Informationsverarbeitung und Selektion nach Prioritäten stattfindet. Medizinisch hat man durch neue PET-Untersuchungen (Positronen-Emissions-Tomographie) eindeutig nachweisen können, dass die vorderen Hirnabschnitte beim ADHS- Betroffenen weniger stark durchblutet sind. Auch konnte eine geringere Nervenaktivität in bestimmten Hirnregionen nach-gewiesen werden. Darüber hinaus werden Nebenregionen des Gehirns aktiviert, die eine genaue Zuordnung beziehungsweise Verarbeitung der eingehenden Informationen erschweren. Man fand außerdem in den vorderen Hirnabschnitten und den Hirnkernen Größen- Veränderungen.

Neurotransmitter-Ungleichgewicht: Dopamin im Fokus

Das wichtigste Hormon bei der Entstehung der ADHS ist das Dopamin. Dieser Neurotransmitter steuert die Aktivität, den Antrieb und die Motivation. Gesichert ist, dass Dopamin zu schnell im synaptischen Spalt, seinem Wirkort, abgebaut wird. Dopamin und Noradrenalin sorgen als sogenannte Neurotransmitter dafür, dass Signale von einer Nervenzelle zur anderen weitergeleitet werden. Die Folge des Dopaminmangels: Signale werden nicht mehr richtig übertragen, Reize unzureichend gefiltert. Die Wissenschaft geht davon aus, dass im Raum zwischen den Nervenzellen, dem sogenannten synaptischen Spalt, zu wenig Dopamin zur Verfügung steht. Der Grund: Das Dopamin wandert zum Teil wieder zurück in die Präsynapse, wo es herkommt und wird dort abgebaut. Es kommt also nie am Zielort an. Die Folge: Reize werden nur schlecht gefiltert. Es herrscht eine ständige Reizüberflutung.

Lesen Sie auch: Epilepsie und ADHS: Was Sie wissen sollten

Das wissenschaftlich begründete Erklärungsmodell für die Entstehung der ADHS legt eine fehlerhafte Informationsverarbeitung zwischen bestimmten Hirnabschnitten zugrunde, welche für die Konzentration, Wahrnehmung und Impulskontrolle zuständig sind. Diese Störung ist wiederum durch ein Ungleichgewicht der Botenstoffe (Neurotransmitter) in diesen Hirnbereichen - vor allem von Dopamin und Noradrenalin - bedingt, die eine wichtige Rolle bei der Signalübertragung von einer Nervenzelle zur anderen spielen. Man geht u.a. davon aus, dass bei ADHS-Patienten Dopamin im Raum zwischen zwei Nervenzellen, dem so genannten synaptischen Spalt, nicht in ausreichender Menge zur Verfügung steht. Die Unterversorgung mit diesem Botenstoff führt zu einer gestörten Informationsweiterleitung zwischen den Nervenzellen. Reize werden nur schlecht und unzureichend gefiltert. Mit modernen bildgebenden Methoden wie der Positronen-Emissions-Tomografie (PET), die eine Darstellung von Stoffwechselvorgängen des Gehirns ermöglicht, und der Single-Photon-Emissions-Computertomografie (SPECT) konnten bei ADHS-Patienten zudem Funktionsstörungen in einzelnen Hirnabschnitten (Stammganglien und Frontalhirn) sowie Veränderungen in der „Gehirnarchitektur“ sichtbar gemacht werden. Auf diese Weise wurde festgestellt, dass z.B. der Hirnvorderlappen, d.h. Menschen mit ADHS können aufgrund der Stoffwechsel- und Funktionsstörungen in ihrem Gehirn die dauernden neuen Impulse nicht genügend filtern, so dass die Informationsverarbeitung behindert wird. Sie unterliegen einer permanenten Reizüberflutung. Die Betroffenen sind daher nur eingeschränkt in der Lage, ihre Aufmerksamkeit auf eine Sache zu konzen¬trieren, sie leiden an einer gestörten Selbstregulation. Gleichzeitig ist der Zugriff auf vorhandene Fähigkeiten und Informationen eingeschränkt, so dass eine vorausschauende Handlungsplanung erschwert wird. Sie können wichtige von unwichtigen Wahrnehmungen kaum unterscheiden. Da alle Eindrücke ungefiltert auf sie einstürzen, stehen sie ständig unter einer großen Anspannung.

Genetische Veranlagung und weitere Risikofaktoren

Eine genetische Veranlagung führt zu dieser neurobiologischen Störung, denn 10 bis 15% der nächsten Familienangehörigen von Kindern mit ADHS sind ebenfalls betroffen. Die Wahrscheinlichkeit für Kinder eine ADHS zu haben, wenn ein Elternteil betroffen ist, liegt bei 20-30%. Zwillingsstudien zeigen, dass gut 80% der Eineiigen und knapp 30% der Zweieiigen die gleiche Symptomatik aufweisen. Neuere Forschungsergebnisse gehen sogar davon aus, dass nahezu 80% aller ADHS-Erkrankungen erblich bedingt sind. Mehrere veränderte Gene (polygener Erbgang), die alleine kaum Störungen bewirken, sind aber im Zusammenspiel ursächlich für die fehlerhafte Informationsübertragung im Gehirn verantwortlich. Das erklärt dann auch das breite Spektrum möglicher Begleitstörungen (Komorbidität) wie Lerndefizite oder emotionale Störungen sowie das unterschiedliche Ansprechen auf die Medikation.

Neben der genetischen Veranlagung spielen auch weitere Faktoren eine Rolle bei der Entstehung von ADHS. Zu den äußeren Risikofaktoren gehören Schwangerschafts- und Geburtskomplikationen, ein geringes Geburtsgewicht, Infektionen und Toxine, wie Alkohol- oder Nikotinmissbrauch, und Erkrankungen des zentralen Nervensystems. Der Konsum von Nikotin, Alkohol oder andere Drogen während der Schwangerschaft sowie ein Sauerstoffmangel bei der Geburt erhöhen vermutlich das Risiko des Kindes, später an ADHS zu erkranken. Auch zentralnervöse Infektionen während der Schwangerschaft, Schädelhirntraumen oder Verletzungen sowie Komplikationen während Schwangerschaft und Geburt werden mit späteren hyperkinetischen Auffälligkeiten in Verbindung gebracht. Die Mehrzahl der Kinder und Jugendlichen mit ADHS weisen derartige Belastungen jedoch nicht auf.

Psychosoziale Faktoren und moderner Lebensstil

"Schlechte Erziehung” oder “negative Kindheitserfahrungen” können als eigentliche Ursachen einer ADHS ausgeschlossen werden. Ungünstige Familienverhältnisse können die betroffenen Kinder in ihrer Persönlichkeitsentwicklung jedoch zusätzlich belasten und sich auf den Schweregrad, den Krankheitsverlauf und die Entwicklung von begleitenden Störungen (z.B. Aggressivität, Angst) negativ auswirken. Zu den so genannten psychosozialen Risikofaktoren zählen z.B.:

  • Unvollständige Familie, d.h. Aufwachsen mit einem alleinerziehenden Elternteil oder ohne Eltern
  • Psychische Erkrankung eines Elternteils, vor allem antisoziale Persönlichkeitsstörung des Vaters und Alkoholkonsum in der Familie
  • Familiäre Instabilität, ständiger Streit zwischen den Eltern
  • Niedriges Familieneinkommen, sehr beengte Wohnverhältnisse
  • Inkonsequenz in der Erziehung, fehlende Regeln
  • Häufige Kritik und Bestrafungen
  • Unstrukturierter Tagesablauf

Manche Fachleute vermuten, dass die ADHS-Entwicklung auch durch unseren heutigen modernen Lebensstil ungünstig beeinflusst wird. Statt Wege zur Schule zu Fuß zurückzulegen und täglich im Freien zu spielen, werden die Kinder mit dem Bus oder von den Eltern zur Schule gebracht und meistens wird drinnen gespielt und allzu häufig am PC. Körperliche Aktivität, optische und akustische Wahrnehmung aus der Natur und wirkliches „Begreifen“ mit den Händen findet immer weniger statt. Bewegungsdrang, überschießende Energie und Neugier können kaum ausgelebt werden. Weniger Autorität der Eltern und Lehrer fördert heutzutage zwar die freie Entfaltung gesunder Kinder, schadet aber dem ADHS-Kind, das klare Strukturen, Regeln und Regelmäßigkeit benötigt. Große Gruppenstärken in Kindergärten und Schulen, die individuelle Betreuung nahezu unmöglich machen, verschärfen das Problem, ebenso der sogenannte „offene Kindergarten“, der kaum Strukturen vorgibt.

Lesen Sie auch: Methoden zum Nachweis von ADHS im Gehirn

Diagnose und Behandlung von ADHS

Zu den typischen Symptomen des ADHS zählen Hyperaktivität, Impulsivität und Aufmerksamkeitsprobleme. Ob wirklich ADHS vorliegt, ist nicht immer so leicht zu beantworten. Daher beziehen Ärzte und Psychologen bei der Diagnosestellung immer andere mögliche Ursachen für die sozialen Schwierigkeiten ein, also die Gefährdung der schulischen Laufbahn und des Freizeitlebens. Die Diagnostik der ADHS bei Erwachsenen ist recht umfangreich und zeitaufwendig. Entscheidend ist, dass die zentralen Symptome schon vor dem 12. Lebensjahr bestanden haben und Schwierigkeiten bereits in der Grundschulzeit aufgetreten sind. Nun wird geschaut, ob Ihre Symptome die Kriterien des weltweit anerkannten Klassifikationssystems ICD-10 erfüllen. Außerdem werden andere Erkrankungen festgestellt bzw. Ein ausführliches Gespräch mit Ihnen gibt dem erfahrenen Facharzt oder Psychotherapeuten dabei gute Hinweise zu Ihrer Erkrankung. Ergänzende Diagnostik mit dem ADHS-Selbstbeurteilungsbogen (ADHS-SB) hilft, die aktuelle Ausprägung sowie den Grad Ihrer Belastung durch die ADHS zu erfassen.

Die Grundzüge der wirksamen Therapie sind in Leitlinien für Behandler:innen festgelegt, die von den wissenschaftlichen Fachgesellschaften herausgegeben werden. Die wirksamen Säulen der Behandlung sind Beratung des Umfeldes und der Patient:innen, Verhaltenstherapie und Medikamente. Da ADHS durch eine Stoffwechselstörung im Gehirn entsteht, kann mit einer medikamentösen Behandlung genau hier angesetzt werden. In Deutschland zugelassene ADHS-Medikamente für Kinder und Jugendliche sind zum Beispiel Ritalin® oder Strattera®. Behandlungen mit diesen Medikamenten zielen darauf ab, die Symptome der Krankheit, die durch die Stoffwechselstörung im Gehirn entstehen, zu reduzieren. In vielen ADHS-Studien wurde belegt, dass eine Behandlung mit Medikamenten die Konzentration und Aufmerksamkeit fördern kann. Eine weitere Behandlungsmöglichkeit ist eine Psychotherapie, z.B. in Form einer Verhaltenstherapie. In einer Therapie lernt der Betroffene, negative Verhaltensweisen abzulegen. Gleichzeitig werden neue Verhaltensweisen antrainiert.

ADHS im Erwachsenenalter

Die ADHS-Störung verschwindet auch im Erwachsenenalter nicht. Zwar lässt mit der Reifung des Gehirns die Hyperaktivität nach, doch Impulsivität und Unkonzentriertheit bleiben häufig bestehen. Typisch für Erwachsene mit ADHS ist, dass sie ständig dazwischenreden und schwer konzentriert arbeiten können. Erst seit einigen Jahren wird die ADHS auch als eine Erkrankung des Erwachsenenalters wahrgenommen. Man geht davon aus, dass bei ca. 60 Prozent der betroffenen Kinder die Störung mit dem 18. Die Symptomatik im Erwachsenenalter verändert sich allerdings in ihrer Art und Ausprägung: So kann der motorische Bewegungsdrang bei Kindern einer ständig vorhandenen inneren Unruhe bei Erwachsenen weichen. Verminderte Aufmerksamkeit mit Desorganisation, „Aufschieberitis“ oder Stimmungsschwankungen hingegen können eine stärkere Relevanz bekommen. Ob eine ADHS behandelt werden muss, hängt immer vom individuellen Leidensdruck der Betroffenen ab.

Lesen Sie auch: ADHS: Die Rolle der rechten Gehirnhälfte

tags: #adhs #stoffwechselstörung #im #gehirn #ursachen