Die Parkinson-Krankheit ist eine neurodegenerative Erkrankung, die sich durch motorische und nicht-motorische Symptome manifestiert. Obwohl es Behandlungen gibt, die die motorischen Symptome lindern, besteht ein dringender Bedarf an Therapien, die das Fortschreiten der Krankheit verlangsamen oder sogar aufhalten können, insbesondere im Prodromalstadium. In diesem Zusammenhang hat eine aktuelle Studie der Klinik für Neurologie der Philipps-Universität Marburg in Kooperation mit der Klinik für Neurologie an der LMU München unter der Leitung von Prof. Wolfgang Oertel vielversprechende Ergebnisse mit der modifizierten Aminosäure Acetyl-DL-Leucin (ADLL) gezeigt.
Neue Hoffnung im Prodromalstadium: Acetyl-DL-Leucin
Eine internationale Arbeitsgruppe hat in der Fachzeitschrift „Nature Communications“ eine Arbeit veröffentlicht, die international für Aufsehen sorgt. Die Studie beschreibt zwei Patientenfälle, bei denen die Therapie mit der modifizierten Aminosäure Acetyl-DL-Leucin (ADLL) im Prodromalstadium der Parkinson-Krankheit die Progression unterbinden konnte. Wesentliche Krankheitsmarker gingen nach Gabe von ADLL zurück.
Fallstudien mit iRBD-Patienten
In der Studie wurden zwei Personen (eine weiblich, eine männlich) mit einer isolierten REM-Schlafverhaltensstörung (iRBD) 22 Monate lang mit 5 g ADLL pro Tag behandelt. Die Traum-Schlafstörung iRBD gilt als Vorläufer einer Parkinson-Krankheit. Menschen mit iRBD haben ein Risiko von mehr als 85 Prozent, in den folgenden zehn bis 15 Jahren an der Parkinson-Krankheit oder einer Lewy-Körperchen-Demenz zu erkranken. Nur etwa 15 Prozent der von iRBD Betroffenen entwickeln diese neurodegenerativen Erkrankungen nicht.
Vor der Behandlung mit ADLL zeigte die Dopamin-Transporter SPECT-Untersuchung bei beiden Patienten bereits einen pathologischen Befund. Auch litten beide schon unter einer Riechstörung, einem weiteren Parkinson-Frühsymptom.
Beeindruckende Ergebnisse: Verlangsamung und Umkehrung der Neurodegeneration
Die Ergebnisse der Behandlung sind bemerkenswert: Unter der Therapie mit ADLL konnte die Krankheitsprogression nicht nur gestoppt werden, auch pathologische Veränderungen, die durch Bildgebungsverfahren und Scoring-Systeme nachgewiesen wurden, bildeten sich zum Teil zurück.
Lesen Sie auch: Aminosäuretherapie bei Epilepsie
Dr. Annette Janzen, Ko-Autorin und Oberärztin an der Marburger Klinik, ergänzt: „Das wirklich Eindrucksvolle an den beiden Fallberichten ist, dass die neurodegenerativen Veränderungen hin zu einer klinisch manifesten Parkinson-Krankheit nicht nur verlangsamt werden konnten, sondern dass sich die Krankheitszeichen in der Bildgebung unter der Behandlung sogar zurückbildeten.“
Prof. Dr. Michael Strupp, Senior-Autor der Publikation, von der Klinik für Neurologie der LMU München betont: „Das leistet bisher noch kein einziger Therapieansatz. Und wir reden hier über eine einfache und gut verträgliche modifizierte Aminosäure. Seit geraumer Zeit weiß man, dass Acetyl-L-Leucin auch bei anderen neurodegenerativen Krankheiten wie z. B. der Niemann-Pick-Krankheit Typ C, einer Erkrankung des lysosomalen Systems, einen günstigen Effekt besitzt.“
Untersuchung der Krankheitsmarker
In der aktuellen Publikation wurden folgende drei Kriterien untersucht:
- Der Schweregrad der REM-Schlafverhaltensstörung (RBD-SS-3).
- Die Dopamin-Transporter-Einzelphotonen-Emissions-Computertomographie (DAT-SPECT) als Maß für den Verlust der dopaminergen Fasern von der Substantia nigra zum Streifenkörper.
- Der metabolische „Parkinson’s Disease-related-Pattern (PDRP)“-z-Score in der 18F-Fluorodesoxyglucose-Positronen-Emissions-Tomographie (FDG-PET) als Maß für Parkinson-typische pathologische Hirnaktivität.
Bereits nach drei Wochen der Behandlung sank der RBD-SS-3-Wert bei beiden Studienteilnehmenden deutlich ab und blieb über die 18 Monate der ADLL-Behandlung reduziert. Bei Patientin 1 war die DAT-SPECT Putaminal Binding Ratio (PBR) in den fünf Jahren vor der Behandlung von normal (1,88) auf pathologisch (1,22) gesunken und der FDG-PET-PDRP-z-Score von 1,72 auf einen krankhaften Wert von 3,28 gestiegen. Nach 22 Monaten ADLL-Behandlung verbesserte sich der DAT-SPECT-PBR auf 1,67 als Hinweis auf Erholung des dopaminergen Systems und der FDG-PET-PDRP-z-Score lag bei 3,18 als Zeichen der Stabilisierung der Hirnaktivität.
Ähnliche Ergebnisse wurden bei Patient 2 beobachtet: Sein DAT-SPECT-PBR stieg von einem Vorbehandlungswert von 1,42 auf einen fast normalen Wert von 1,72 und der FDG-PET-PDRP-z-Score sank nach 18 Monaten ADLL-Behandlung von 1,02 auf 0,30 als Zeichen des Rückgangs der Parkinson-typischen pathologischen Hirnaktivität.
Lesen Sie auch: Überblick: Aminosäuren bei Demenz
Wirkmechanismen von Acetyl-DL-Leucin
Zu den Wirkmechanismen von Acetyl-DL-Leucin gehören Effekte auf das lysosomale System sowie auf die Zellatmung. Acetyl-L-Leucin erhöht die Produktion von ATP, dem zentralen Energieträger der Zelle. Störungen des lysosomalen Systems sind bei der Parkinson-Krankheit im Gehirn beschrieben, und aktuelle Forschungsergebnisse zeigen, dass im Frühstadium der Erkrankung sowohl der Energiehaushalt als auch die lysosomale Funktion in den geschädigten dopaminergen Neuronen stark beeinträchtigt ist.
Acetyl-DL-Leucin: Eine Mischung zweier Formen
Chemisch liegt Acetyl-Leucin in zwei Konfigurationen vor: als Acetyl-D-Leucin und als Acetyl-L-Leucin. Die Mischung beider Formen wird als Acetyl-DL-Leucin (ADLL) bezeichnet. Und nur diese Mischung ADLL stand für den individuellen OFF-Label Einsatz bei den beschriebenen zwei Patienten mit iRBD als Medikament zur Verfügung. Aus der Grundlagenforschung an Tiermodellen gibt es aktuelle Hinweise, dass von dem Gemisch ADLL nur die L-Form, also Acetyl-L-Leucin, wirksam ist. Zukünftige Studien werden demnach vorzugsweise mit Acetyl-L-Leucin durchgeführt werden.
Thiamin, Aminosäuren und nicht-motorische Symptome
Morbus Parkinson geht häufig mit nicht-motorischen Symptomen wie Depression, Apathie und kognitiven Einschränkungen einher, die auf dysfunktionale dopaminerge Bahnen außerhalb des motorischen Systems zurückzuführen sind. Zahlreiche Aminosäuren beeinflussen diese Prozesse direkt oder über Neurotransmitter-, Redox- und Methylierungswege. Die hochdosierte Thiamintherapie (HDT) zeigt klinisch vielversprechende Effekte, deren Mechanismen bislang unzureichend geklärt sind.
Die Hypothese zur synergistischen Wirkung von Thiamin und Aminosäuren
Eine Hypothese schlägt vor, dass HDT durch Wiederherstellung mitochondrialer Enzymaktivität die Nutzung dopaminrelevanter Aminosäuren wie Tyrosin, Methionin und Glycin verbessert und damit die dopaminerge Funktion in nicht-motorischen Netzwerken reaktiviert. Die Wirkung ergibt sich aus einer Synergie von Energieoptimierung, Reduktion von nitrosativem Stress und Wiederherstellung des Neurotransmittergleichgewichts. Dies könnte die Grundlage für neue, metabolisch orientierte Therapieansätze bei Parkinson schaffen.
Einfluss Aminosäure-assoziierter Stoffwechselprozesse auf das nicht-motorische dopaminerge System
Morbus Parkinson ist nicht nur eine Bewegungsstörung, sondern betrifft zahlreiche nicht-motorische Funktionsbereiche - darunter Depression, Apathie, Schlafstörungen, kognitive Defizite und emotionale Dysregulation. Diese Symptome sind teilweise auf eine dysfunktionale dopaminerge Transmission in mesolimbischen und mesokortikalen Bahnen zurückzuführen. Zahlreiche Aminosäuren, sowohl direkte Dopaminvorstufen (z. B. Tyrosin, Phenylalanin) als auch modulierende Substrate (z. B. Glycin, Serin, Arginin), interagieren mit diesem System. Parallel berichten mehrere Fallstudien über signifikante klinische Verbesserungen bei Parkinson-Patienten unter hochdosierter Thiamintherapie (HDT) - jedoch sind die biochemischen Wirkmechanismen bislang unzureichend erklärt.
Lesen Sie auch: Gehirnleistung durch Aminosäuren
Zielsetzung der Forschung
Ziel dieses Projekts ist es, eine plausible, biochemisch fundierte Hypothese zu formulieren, die erklärt, wie HDT über die Wiederherstellung kritischer enzymatischer Funktionen eine Funktionalisierung dopaminrelevanter Aminosäurewege ermöglicht - mit klinisch beobachtbarer Besserung nicht-motorischer Symptome.
Methode
Basierend auf einer systematischen Analyse publizierter Humanstudien zu 15 proteinogenen Aminosäuren und ihrer Interaktion mit dem dopaminergen System (außerhalb des motorischen Kortex) wurde eine funktionelle Matrix erstellt. Die Rolle von Thiamin wurde anhand enzymatischer Targets (PDH, KGDH, Transketolase) in Beziehung gesetzt zu bekannten Engpässen im Aminosäurestoffwechsel. Die Hypothese wurde modular aufgebaut entlang folgender Achsen:
- Dopaminvorstufen: Tyrosin, Phenylalanin - Synthesepotential nur bei aktiver PDH/KGDH
- Neuroinflammation: Arginin/NO, Glutamat - durch HDT antioxidativ gebremst
- Neurotransmitter-Modulation: Glycin, Serin, Methionin - durch HDT reaktiviert (NADPH, SAMe)
- Transporter-Interferenzen: BCAA - Kontext von Ernährung + L-Dopa-Resorption
- Stoffwechsel-Entgleisung: Methionin → Homocystein → kognitive Defizite bei L-Dopa
- Thiamin-abhängige Energieachsen: mitochondrialer Reset → Reaktivierung vorhandener neuronaler Substrate
Zentrale Hypothese
Die klinisch beobachtete Symptomverbesserung unter High-Dose-Thiamin beruht auf einer funktionellen Reaktivierung dopaminerg relevanter Stoffwechselpfade, insbesondere:
- Verbesserung der Substratnutzung (Tyrosin, Phenylalanin)
- Reduktion von NO- und Glutamat-vermitteltem Stress
- Normalisierung der Neurotransmitterbalance (Glycin, D-Serin, SAMe)
- Metabolische Entlastung über Transketolase- und Methylierungswege
Diese synergistische Wirkung erlaubt es, noch vorhandene dopaminerge Netzwerke optimal zu nutzen, ohne Neurogenese - ein Paradigmenwechsel in der Betrachtung symptomorientierter Parkinson-Therapie.
Innovationspotenzial
- Bietet eine mechanistische Brücke zwischen klinischer Erfahrung (HDT) und biochemischer Grundlagenforschung
- Erklärt nicht-motorische Symptomverbesserung durch Kombination aus Metabolismus, Neurotransmission und Neuroprotektion
- Stellt Aminosäurestoffwechsel als dopaminergen Regulator in den Fokus
- Regt kontrollierte Studien zu Kombinationstherapien (HDT + Aminosäurenmodulation) an
Einschränkungen und Ausblick
Prof. Oertel betont: „Wir sehen Hinweise dafür, dass Acetyl-DL-Leucin das Fortschreiten der Erkrankung verhindern kann. Die Parkinson-typischen Muster in der Bildgebung sind sogar reversibel - und es scheint: Je besser die Ausgangswerte oder je leichter ausgeprägt die Krankheitswerte zu Behandlungsbeginn, desto effektiver ist möglicherweise die Therapie. Wir müssen betonen, dass es sich bisher nur um zwei Patientenbeschreibungen handelt, mit allen Limitationen wie Nicht-Verblindung, fehlende Placebogruppe etc. Randomisierte Placebo-kontrollierte Langzeitstudien sind in Planung. Was uns optimistisch stimmt und besonders fasziniert, sind die Bildgebungsdaten, da die Verbesserung der Hirnpathologie nicht mit einem Placebo-Effekt erklärt werden kann.“
Viele Errungenschaften in der Medizin gehen auf Zufallsbeobachtungen zurück, wie z. B. die Entdeckung des Penicillins. Bestätigen große klinische Studien das, was hier an zwei Patienten beobachtet werden konnte, nämlich dass Acetyl-DL-Leucin eine beginnende Parkinson-Krankheit zum Stillstand bringen kann, stellt diese Entdeckung einen bedeutsamen Meilenstein in der Medizingeschichte dar.
Prof. Dr. Peter Berlit, Generalsekretär der Deutschen Gesellschaft für Neurologie, mahnt: „Bis dahin ist es allerdings noch ein weiter Weg und wir müssen bei aller Euphorie besonnen bleiben und möglichst schnell kontrollierte Studien auflegen, die evidenzgebend sind.“
Fazit
Die Ergebnisse dieser Fallstudien sind vielversprechend und deuten darauf hin, dass Acetyl-DL-Leucin eine potenziell wirksame Therapie zur Verlangsamung oder Aufhaltung des Fortschreitens der Parkinson-Krankheit im Prodromalstadium sein könnte. Es handelt sich jedoch um erste Beobachtungen, die keinen Anspruch auf hohe Evidenz haben. Die Ergebnisse sind aber so eindrucksvoll, dass zügig klinische Studien folgen werden. Bis dahin ist es wichtig, die Ergebnisse mit Vorsicht zu interpretieren und sich auf evidenzbasierte Behandlungen zu konzentrieren.
Das Projekt wurde vom ParkinsonFonds Deutschland, der Stichting ParkinsonFonds, Niederlande, sowie über die Hertie-Senior-Forschungsprofessur von Prof. gefördert.
tags: #Aminosäuren #bei #Parkinson #Therapie