Das Kleinhirn, lateinisch Cerebellum, ist ein akkurat gegliederter Bereich des Gehirns, der hinten im Schädel liegt. Es spielt eine entscheidende Rolle bei der Koordination von Bewegungen und anderen kognitiven Prozessen.
Anatomie des Kleinhirns
Das Kleinhirn befindet sich hinten im Schädel, unterhalb des Großhirns und hinter dem Hirnstamm. Von außen sind seine beiden Hälften gut zu erkennen, die - wie die Hälften des Großhirns - als Hemisphären bezeichnet werden. Verbunden sind sie über den wulstförmigen Vermis, den Kleinhirnwurm.
Das Kleinhirn wiegt nur etwa ein Zehntel des gesamten Gehirns und nimmt etwa ein Sechstel des Volumens ein. Es ist jedoch reich an Neuronen; obwohl es nur etwa ein Sechstel des Volumens des Großhirns besitzt, verfügt das Kleinhirn über fünfmal mehr Neurone. Um so viel Nervenmasse auf so kleinem Raum unterzubringen, ist die Kleinhirnrinde, der äußere Mantel des Kleinhirns, stark gefaltet. Die dadurch entstehenden horizontalen Fältchen werden als Blätter (Foliae) bezeichnet.
Zerteilt man eine der Kleinhirnhemisphären längs, erkennt man den Grund für diese Bezeichnung: Wie das Geäst eines Baumes verzweigt sich im Inneren die weiße Substanz aus Nervenfasern. Die Anatomen bezeichnen sie als Lebensbaum, als Arbor vitae. Und an dessen Zweigen scheinen die Falten der Kleinhirnrinde wie Blätter zu hängen. Die Wurzeln des Baumes bilden die Kleinhirnstiele, die vom Kleinhirn zum Hirnstamm ziehen. Über diese Fasern empfängt und sendet das Kleinhirn Information. Eingefasst wird der Lebensbaum von der grauen Substanz der Nervenzellen. Und wie sich auf mikroskopischer Ebene zeigt, ist auch diese außerordentlich akkurat strukturiert. In der gesamten Kleinhirnrinde finden sich die gleichen drei Zellschichten: die Molekularschicht, die Purkinjezellschicht und die Körnerzellschicht, von außen nach innen betrachtet. Besonders auffällig ist die mittlere Schicht - in ihr liegen die großen Purkinjezellen, ordentlich nebeneinander wie eine Schicht Kirschen in der Torte. Sie sind die zentralen Schaltstellen der Kleinhirnrinde: Mit ihren weitverzweigten Dendritenbäumen empfangen sie erregende und hemmende Informationen von fast allen anderen Rindenneuronen. Dabei können sich bis zu 200.000 Synapsen an einem Dendritenbaum befinden. Ihre Signale leiten die Purkinjezellen zu den Kleinhirnkernen, Ansammlungen von Nervenzellen tief in der weißen Substanz.
Die weiße Substanz enthält Nervenfasern und Leitungsbahnen, die Signale von Neuronen an den Gehirnstamm und damit in das Rückenmark leiten oder aufnehmen. Die über die Kleinhirnrinde aufgenommenen Informationen werden durch diese drei Schichten der grauen Substanz weitergeleitet. Besonders hervorheben muss man dabei die Pukinjezellschicht (mittlere Schicht). Innerhalb dieses Abschnitts befinden sich die sogenannten Dendritenbäume. Wenn man das Kleinhirn quer in zwei Teile schneiden würde, könnte man die weiße Substanz wie eine Art Baum wahrnehmen, welcher in alle Bereiche des Kleinhirns verästelt ist. Daher wird zu dieser Struktur auch häufig als Lebensbaum (Arbor vitae) bezeichnet. Die weiße Subtanz bildet den Stamm und die Äste, während die graue Substanz das Laub darstellt.
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Funktionelle Unterteilung des Kleinhirns
Funktional unterteilen die Anatomen das Cerebellum in drei Bereiche, die unterschiedliche Aufgaben erfüllen: Das Vestibulocerebellum, das Spinocerebellum und das Pontocerebellum.
Vestibulocerebellum: Entwicklungsgeschichtlich betrachtet ist das Vestibulocerebellum am ältesten. Beim Menschen besteht das Vestibulocerebellum im Wesentlichen aus den anatomischen Strukturen Nodulus und Flocculus - zusammengefasst als Lobus flocculonodularis - und wie der Name bereits vermuten lässt, ist es funktionell verbunden mit dem Vestibularapparat, also dem Gleichgewichtsorgan des Innenohres. Dass wir balancieren können, oder aufrecht gehen, verdanken wir dem Vestibulocerebellum. Weiter ist es an der Steuerung der Augenbewegungen beteiligt. Der Funktionsbereich des Vestibuloceberellum sitzt im hintersten Bereich des Kleinhirns, dem Lobus flocculonodularis. Dieser Bereich beeinflusst unsere Körperhaltung, Feinabstimmung unserer Augenbewegungen und das Gleichgewicht, da es über die Nervenfaserbahnen mit dem Gleichgewichtsorgan im Innenohr verbunden ist. Diese Verbindung führt dann bis zum Nervenkern der Augenmuskeln.
Spinocerebellum: Der Kleinhirnwurm und ein jeweils etwa fingerbreiter Rand rechts und links bilden gemeinsam das Spinocerebellum. Es sorgt dafür, dass wir gehen und stehen können, ohne darüber nachdenken zu müssen. Vom Rückenmark erfährt das Spinocerebellum, in welcher Position sich Arme, Beine und Oberkörper befinden, aber auch welche Muskeln angespannt und welche entspannt sind. Diese Information verarbeitet es und sendet sie an den Hirnstamm. Der Funktionsbereich des Spinoceberellum ist der größte im Kleinhirn und wird vom Kleinhirnwurm gebildet. Hier werden Bewegungsabfolgen beeinflusst und vor allem aber die Bein- und Hüftposition angepasst und kontrolliert.
Pontocerebellum: Das Pontocerebellum besteht aus den beiden Hemisphären. Über die Brückenkerne im Hirnstamm ist es eng mit dem Großhirn verbunden. Wann immer wir willentlich etwas bewegen, ist das Pontocerebellum beteiligt: Seine Aufgaben reichen vom präzisen Greifen bis zur Koordination der Kehlkopfmuskeln beim Sprechen. Dabei kann man das Pontocerebellum mit einem Dirigenten vergleichen. Statt Musik studiert es Bewegungen ein, stimmt sie auf seine Musiker - die Muskeln - ab und koordiniert deren Zusammenspiel. Die Noten entsprechen einem groben Bewegungsplan, der vom Großhirn geliefert wird. Läuft etwas schief, greift es ein: erweist sich zum Beispiel der Boden als unerwartet uneben oder ist die Kaffeetasse leer und deshalb leichter als gedacht. Korrekturschleifen wie diese sind auch ausgesprochen wichtig, um Bewegungen zunächst zu erlernen. Der Funktionsbereich des Pontoceberellum wird durch die beiden Kleinhirnhemisphären gebildet. Hier werden motorische Bewegungen erlernt, ausgeführt, abgespeichert und präzisiert. Zum Beispiel wird geplant, wie weit etwa der Arm ausfahren muss, um zur Tasse zu gelangen.
Aufgaben des Kleinhirns
Das Cerebellum ist primär für die Steuerung unseres Körpers zuständig. Dabei übernimmt es die Verantwortung in verschiedenen Bereichen und Formen von Koordination, Planung, Feinmotorik, Feinabstimmung von Bewegungen, Lernvorgängen und Gleichgewicht.
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Als 1917 der englische Neurologe Gordon Holmes (1876−1965) Soldaten mit Kleinhirnverletzungen untersuchte, erkannte er: „Das Kleinhirn kann als ein Organ gesehen werden, das Bewegung unterstützt.“ Tatsächlich bestätigen bildgebende Verfahren mittlerweile, dass das Kleinhirn Bewegungen koordiniert und moduliert: Ob man zur Kaffeetasse greift, Klavier spielt oder einen Salto macht - im Kleinhirn feuern die Neurone.
Neuere Studien lassen vermuten, dass das Kleinhirn nicht nur für Motorik zuständig ist. Die Neurologin Catherine Limperopoulos und ihre Kollegen von der McGill University in Montréal untersuchten im Jahr 2005 Kinder, die mit Kleinhirnverletzungen geboren wurden. Neben motorischen Problemen hatten die kleinen Patienten auch Schwierigkeiten mit kognitiven Prozessen wie der Kommunikation, sozialem Verhalten und der visuellen Wahrnehmung. Zudem zeigen bildgebende Verfahren, dass bei einer Vielzahl von Tätigkeiten Aktivität im Kleinhirn aufleuchtet: Zum Beispiel bei Kurzzeitgedächtnisaufgaben, der Kontrolle impulsiven Verhaltens, beim Hören und Riechen, Schmerz, Hunger, Atemnot und vielem mehr. Noch wissen die Neurowissenschaftler nicht, welche Rolle das Kleinhirn bei diesen verschiedenen Aufgaben spielt. Eine verbreitete Hypothese lautet, dass das Kleinhirn für zeitliche Koordination zuständig ist.
Aus der Studie geht hervor, dass das Kleinhirn auch eine wichtige Rolle in der Emotions- und Gedächtnisgestaltung spielt. Die Forscher zeigten Testpersonen neutrale sowie emotionale Bilder und maßen ihre Gehirnaktivitäten. Dabei stellten sie fest, dass neben den bekannten Großhirnbereichen auch Bereiche im Kleinhirn kommunizierten. Dabei wurden Informationen vom Großhirn ans Kleinhirn und Informationen vom Cerebellum an den Hippocampus, sowie Amygdala gesendet. Diese Bereiche sind essenziell für die Emotionswahrnehmung und das Gedächtnis.
Das Kleinhirn spielt eine wichtige Rolle beim Erlernen einer Konditionierung, zum Beispiel einer Spinnenphobie. Doch spielt es auch beim Verlernen eine Rolle? Die Rolle des Kleinhirns beim Erlernen von Konditionierungen ist gut erforscht: Gesunde Menschen lernen schnell die sogenannte Blinkreflex-Konditionierung: Ein Luftstoß ins Auge wird mit einem Ton gekoppelt. Schnell lernen die Probanden, die Augen schon zu schließen, wenn nur der Ton zu hören ist. Menschen, deren Kleinhirn geschädigt ist, lernen diesen Ton als Reflex auslösenden Reiz selten. Inwiefern das Kleinhirn auch beim Verlernen dieser Konditionierung eine Rolle spielt - also der Extinktion -, ist noch unklar. Forscher der Universitätsklinik Duisburg-Essen untersuchen Aktivierungen des Kleinhirns beim Verlernen durch Magnetresonanztomografie, künstliche Inaktivierung und eine Blinkreflex-Konditionierung.
Auswirkungen von Kleinhirnschäden
Trotz der genannten kognitiven Defizite stehen bei Kleinhirnverletzungen motorische Probleme im Vordergrund. Sie entsprechen weitestgehend dem, was schon Holmes bei seinen Patienten beobachtet hat und was Neurologen als unterschiedliche „Ataxien“ bezeichnen: Die Betroffenen haben Probleme beim Gleichgewicht und der Koordination, der Gang ist schwankend und ähnlich dem eines stark Betrunkenen. Greifen diese Patienten nach etwas, zittert ihre Hand stärker, je näher sie dem Objekt kommt. Auch schießen die Bewegungen oft über das Ziel hinaus. Ihre Sprache klingt abgehackt. Die Spannung ihrer Muskeln ist häufig vermindert, so dass der Körper schlaff wirkt. Auffällig sind auch die Augenbewegungen der Patienten. Ohne Kleinhirn wäre der Mensch ein in sich zusammengefallener, schlaffer Körper.
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Eine Schädigung des Kleinhirns hat häufig sehr ernste Konsequenzen. Diese können vielfältig sein. Die meisten Erkrankungen machen sich vor allem im Bereich des Gleichgewichtsausgleichs und Körperhaltung bemerkbar. Patienten schaffen es in der Regel nicht mehr aufrecht zu gehen oder aufrecht zu sitzen, da das Kleinhirn Informationen nicht mehr richtig verarbeiten und weiterleiten kann. Neben diesen Symptomen gibt es weitere, die sich vor allem im Bereich der Sprache sowie Einschätzung von Entfernung und Muskelkontrolle zeigen. Durch die Störung im Cerebellum wird die Sprache teilweise schwieriger verständlich und kann nicht mehr klar kontrolliert werden. Bewegungen von Körperteilen wie Armen oder Beinen leiden auch häufig. Muskelpartien werden entweder zu stark oder zu leicht beansprucht.
Der Kleinhirnwurm (Vermis cerebelli)
Der Kleinhirnwurm, auch Vermis cerebelli genannt, ist ein wichtiger Teil des Kleinhirns. Er liegt mittig zwischen den beiden Kleinhirnhemisphären.
Der Vermis cerebelli ist, wie die Neuropathologen sagen “selektiv vulnerabel gegenüber dem äthyltoxischen Insult” - zu deutsch: man kann ihn sich wegsaufen, er reagiert auf Alkohol empfindlicher als viele andere Hirnareale. Was da im wesentlichen kaputt geht zeigt das folgende Bildpaar. Mikroskopische Schnitte durch die Hirnrinde des Oberwurms, Pigment-Nissl-Färbung. (A) Gesunde Kontrolle. Die Schichten der Rinde sind benannt, der Pfeil weist auf eine der grossen Purkinje-Zellen in der gleichnamigen Schicht. (B) Wurmatrophie. Die Purkinje-Zellen sind sämtlich geschwunden, aber auch die Dicke der anderen Schichten hat sich reduziert. In der Folge schrumpft der Wurm… Es sind mikroskopische Bilder, sie zeigen die Rinde des Wurmes des Kleinhirns. Dort gibt es - auf dem linken Bild sieht man es gut - sehr grosse Nervenzellen (tatsächlich die grössten Nervenzellen des menschlichen Leibes, zumindest die mit dem mächtigsten Zellleib). Sie heissen, nach ihrem Entdecker, Purkinje-Zellen (3). Und - man weiss nicht genau warum - die vertragen, wie auch andere grosse Nervenzellen, den Alkohol nicht gut. Kurzfristig stellen sie ihre Funktion ein, langfristig sterben sie. Auf dem rechten Bild sind sie schlicht weg. Der Wurm schrumpft, er atrophiert, das kann man dann sogar mit blossem Auge sehen. Nicht der ganze Wurm aber schrumpft - sondern nur der Oberwurm. Und die Folgen der Atrophie des Wurmberges lehren uns, was der normalerweise tut - es kommt zu Gangstörungen, allgemeinem Geschwanke, und hin wieder fällt man um. Und das, im Falle des Purkinje-Zelltodes, auch in nüchternem Zustand. Der Oberwurm ist also für die (unwillkürliche) Koordination der Motorik des Rumpfes zuständig. Tatsächlich ist er über eine Vielzahl von neuronalen Bahnen mit dem Rückenmark verbunden. Das ist der Unterwurm allerdings auch. Nur was der Unterwurm tut - das weiss man nicht. Zumindest nicht so genau. Manche Studien deuten darauf hin, dass er etwas mit kognitiven Prozessen (Lesen, Lernen) zu tun hat.
Wenn man den Kleinhirnwurm mitten längs durchschneidet, wie das in der Abbildung 3 geschehen ist, blickt man auf eine Schnittfläche, die von den Alten sehr treffend als Arbor vitae cerebelli, der Lebensbaum des Kleinhirnes bezeichnet wurde. Wegen der Ähnlichkeit mit den Ästchen des Lebensbaumes, der immergrünen und pflegeleichten Thuja occidentalis (oben links im Bild), die man aber - Lebensbaum hin oder her - bei uns vor allem auf Friedhöfen anpflanzt. Naja… Innen, im Mark des Cerebellums (die Ästchen des Lebensbaumes), ist weisse Substanz, Nervenfasern also, die gefältete Oberfläche (die Blättchen des Lebensbaumes) sind von dunkler Hirnrinde, vom Cortex cerebelli überzogen. Dort liegen die Nervenzellen, die im mikroskopischen Bild weiter oben gezeigt wurden. Der Lebensbaum hat nun aber viele von diesen Ästchen, zwischen denen viele, mehr oder weniger tiefe Einschnitte liegen. Andersherum könnte man sagen, dass der Wurm aus vielen Zweigen des Lebensbaumes besteht. Es sind nicht weniger als neun. Lingula, Lobulus centralis, Culmen, Declive, Folium, Tuber, Pyramis, Uvula und Nodulus.
Lingula, Lobulus centralis und Culmen bilden zusammen den Wurmberg. Von dessen Funktion war oben die Rede. Was Folium, Tuber, Pyramis und Uvula im Unterwurm treiben, weiss man nicht so recht. Auch das wurde oben erwähnt. Bleibt der Nodulus. Was sich dort tut, weiss man (Gleichgewichtssinn, er ist mit dem Innenohr verbandelt), deswegen lernt man noch seinen Namen. Die anderen Abteilungen des Wurmes - geschenkt. Berg und Tal: Das reicht.