Mit der steigenden Lebenserwartung nimmt auch die Zahl der Menschen mit Demenz stetig zu. Architektonische Lösungen für Pflegeeinrichtungen müssen daher nicht nur körperliche, sondern auch kognitive Einschränkungen berücksichtigen, um Sicherheit, Orientierung und Wohnlichkeit zu gewährleisten. Dieser Artikel beleuchtet die spezifischen Anforderungen an die Architektur für Menschen mit Demenz und gibt praktische Empfehlungen für eine demenzgerechte Gestaltung von Wohnräumen und Pflegeeinrichtungen.
Demenz: Eine wachsende Herausforderung
Die Deutsche Alzheimer Gesellschaft rechnet mit einer Steigerung von derzeit 1,7 Millionen auf fast 3 Millionen Erkrankte im Jahr 2050. Die Alzheimer-Krankheit ist mit etwa 60 % die häufigste Ursache für Demenz, gefolgt von der vaskulären Demenz. Demenz führt zu einem allmählichen Abbau von Nervenzellen im Gehirn, was sich in Störungen des Kurz- und Langzeitgedächtnisses, der Aufmerksamkeit, Orientierung, Sprache und des zielorientierten Handelns äußert. Viele Betroffene haben Schwierigkeiten, sich in ihrer Umwelt zurechtzufinden, was architektonische Anpassungen unerlässlich macht.
Barrierefreiheit und kognitive Einschränkungen
Die DIN 18040, die Norm für barrierefreies Bauen, dient oft als Grundlage für die Planung von Pflegeeinrichtungen. Jedoch sind diese Vorgaben nicht immer hilfreich für Menschen mit kognitiven Einschränkungen. Es bestehen Zielkonflikte zwischen den Bedürfnissen verschiedener Nutzergruppen wie Demenzkranken, Pflegekräften, Rollstuhlfahrern und Besuchern. Die DIN 18040 thematisiert motorische und sensorische Einschränkungen, formuliert Schutzziele und gibt klare Richtlinien für barrierefreie Gebäude und Freiflächen. Das Zwei-Sinne-Prinzip, das Informationen über mindestens zwei Sinne vermitteln soll, ist ein wichtiger Bestandteil.
Zielkonflikte und individuelle Lösungen
Die in der DIN 18040 formulierten Ziele müssen für ältere Menschen und Menschen mit Demenz differenziert betrachtet werden. Eine Überforderung und Reizüberflutung können entstehen, wenn zu viele Informationen gleichzeitig gegeben werden. Beispielsweise können kontrastierende Türen mit taktilen Elementen verwirrend wirken. Auch bei Greif- und Bedienhöhen gibt es Konflikte: Die Norm verlangt 85 cm für Rollstuhlnutzer, was für ältere, passive Rollstuhlfahrer oft zu hoch ist. Bodenindikatoren können bei kognitiven Einschränkungen Fehlinterpretationen verursachen und ein Sturzrisiko darstellen.
Im Anwendungsbereich der DIN 18040 besteht Gestaltungsspielraum. Schutzziele können auch anders als in der Norm festgelegt erreicht werden. Ein Beispiel sind Duscharmaturen in einer Pflegeeinrichtung, die auf 105 cm Höhe angeordnet wurden, um die Bedienung für Pflegekräfte zu erleichtern, während ein horizontaler Haltegriff auf 85 cm Höhe den wenigen selbständig duschenden Bewohnern half. Es ist entscheidend, die bestehenden Zielkonflikte konkret zu benennen, im Hinblick auf die künftigen Nutzergruppen abzuwägen und mit allen Beteiligten abzustimmen. Ein Leitfaden zum Normentransfer auf Schutzzielbasis mit konkreten Fallbeispielen wäre ein hilfreiches Werkzeug.
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Grundregeln der Raumgestaltung für Demenzerkrankte
Die oberste Grundregel ist die übersichtliche und einfache Einrichtung des Wohnraums. Zu viele Sinneseindrücke überfordern Betroffene und erschweren die Orientierung. Türen können die räumliche Orientierung beeinflussen. Offene Türen sind klar als Durchgänge erkennbar. Türen, die wichtig sind, wie zum Beispiel die zum Badezimmer, sollten mit Schildern gekennzeichnet werden. Fenster bieten die Möglichkeit zur räumlichen Orientierung, wenn draußen markante Gebäude oder Landschaftsmerkmale zu sehen sind. Geräusche von außerhalb können verwirrend sein. Kaltweißes Licht ist für ältere Menschen besser zu sehen als warmweißes. LED-Nachtlichter mit Bewegungsmelder helfen bei der nächtlichen Orientierung. Spiegelndes Licht sollte vermieden werden, da es zu Verwirrung führen kann.
Hilfsmittel zur zeitlichen Orientierung
Die zeitliche Orientierung kann mit einfachen Hilfsmitteln gestärkt werden. Ein Kalender mit extra großen Zahlen, ausgeschriebenem Monat und Jahr sowie einem Symbol für die Jahreszeit erleichtert die Orientierung. Fenster mit Blick in die Natur können einen ähnlichen Effekt haben.
Farbgestaltung und Kontraste
Personen mit Demenz reagieren sehr sensibel auf Farben. Farbakzente sollten behutsam und gezielt eingesetzt werden. Dunkle Töne sollten vermieden werden, da sie negative Gefühle auslösen können. Eine dunkle Fußmatte kann als Loch im Boden wahrgenommen werden. Großflächige Muster sind anstrengend. Kontraste sind wichtig, um Details schnell wahrzunehmen. Ein Tisch ist besser erkennbar, wenn der Rand eine kontrastierende Farbe zur Tischfläche hat. Runde oder abgerundete Tische sind leichter optisch zu erfassen als eckige Möbel. "Verbotene" Türen können mit dunklen Vorhängen verhängt werden, um das Interesse daran zu mindern.
Sicherheit im Alltag
Zunehmende Desorientierung und Vergesslichkeit bringen viele Risiken im Alltag mit sich. Herd oder Putzmittel werden zu potenziellen Gefahren. Für die Sturzprophylaxe sollten Stolperfallen wie lose Kabel und Teppiche entfernt werden. Eine gute Beleuchtung ist wichtig. Schlösser mit Not- und Gefahrenfunktion sind hilfreich. Anti-Rutsch-Matten und Haltegriffe im Badezimmer erhöhen die Sicherheit.
Umgang mit innerer Unruhe und Bewegungsdrang
Innere Unruhe äußert sich oft durch einen akuten Bewegungsdrang. Das Herumräumen von Dingen ist harmlos, solange keine wichtigen Gegenstände verloren gehen. Ein offenes Regal mit Dingen, die nach Belieben hin- und hergeräumt werden können, kann helfen. Schubladen mit wichtigen Sachen können mit einem Schubladenschutz versehen werden. Um dem Hinlaufen vorzubeugen, kann das Interesse von der Haustür abgelenkt werden. Rundwege innerhalb der Wohnung, des Gebäudes oder des Grundstücks bieten eine gefahrlose Möglichkeit zum Herumlaufen. Ausgänge können mit Klingeln versehen werden, die einen Ton erzeugen, wenn eine Person hinausgeht.
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Technische Hilfsmittel
Elektronische Geräte stellen eine Gefahr dar. Herdschutzknöpfe erschweren das Einschalten des Herds. Rauchmelder in allen Räumen sind unerlässlich.
Erinnerungen bewahren
Vieles in einer demenzgerechten Wohnung sollte zweckdienlich sein. Auf Überflüssiges sollte verzichtet werden. Bilder und andere Dinge können wertvolle Anker für lebendige Erinnerungen sein. Eine ruhige Ecke kann als Aufbewahrungsort für diese Gegenstände dienen.
Behutsame Veränderungen
Jede Veränderung kann eine Person mit Demenz stören und verwirren. Bei der Umgestaltung sollte behutsam vorgegangen und die betroffene Person an den Veränderungsprozessen teilhaben. Die individuellen Vorlieben und Abneigungen sind zu berücksichtigen.
Alltags- und Orientierungshilfen
Es gibt zahlreiche Alltags- und Orientierungshilfen, die den Umgang mit Demenz erleichtern. Helle und freundliche Farben sind angenehm. Starke Muster wirken verwirrend. Ältere Menschen benötigen viel mehr Licht. Wichtig ist, die Zahl der Gegenstände zu reduzieren, für viel Licht zu sorgen und Gefahrenquellen zu beseitigen.
Demenzsensible Architektur im Krankenhaus
Architektur hat eine besondere Bedeutung für Menschen mit Demenz, insbesondere im Krankenhaus. Viele Betroffene können ihren Aufenthaltsort nicht selbstständig verlassen und sind auf eine bauliche Umwelt angewiesen, die ihre Anforderungen berücksichtigt. Krankenhäuser sehen sich einer steigenden Anzahl von Patientinnen und Patienten mit demenziellen Veränderungen gegenüber. Um eine angemessene Versorgung zu gestalten, sind sowohl räumliche Gestaltungskonzepte als auch pflegerische und soziale Betreuungsmöglichkeiten zu berücksichtigen.
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Eine Tagung zum Thema "Architektur für Menschen mit Demenz" thematisierte neue Planungs- und Gestaltungsansätze und die Frage, wie Räume und Prozesse miteinander in Einklang gebracht werden können. Wesentliche Ziele einer demenzsensiblen baulichen Gestaltung sind die Förderung der Selbstständigkeit, die Anregung zur Mobilität und Aktivität, die physische und emotionale Sicherheit sowie die Unterstützung der Pflegekräfte.
Ein Leitfaden mit Planungshinweisen für eine alters- und demenzsensible Architektur von Akutkrankenhäusern wurde veröffentlicht. Dieser soll dazu beitragen, eine Umgebung zu schaffen, die die abnehmenden kognitiven und körperlichen Fähigkeiten älterer Patienten so weit wie möglich ausgleicht. Der Leitfaden liefert eine wissenschaftliche, systematische und umfassende Hilfestellung für Architekten, Bauträger, Angehörige und Entscheidungsträger.
Demenzfreundliches Wohnen und Wohnumfeld
Kleine Wohngruppen können die Lebensqualität von Menschen mit Demenz positiv beeinflussen. Das eigene Zuhause hat eine hohe emotionale Bedeutung. Ein Umzug sollte so lange wie möglich vermieden werden. Mit dem Fortschreiten der Krankheit steigt das Risiko einer Selbst- oder Fremdgefährdung, umso wichtiger ist es, den Wohnraum möglichst demenzfreundlich zu gestalten. Dies kann durch verschiedene Anpassungen, die auf die Förderung geistiger Fähigkeiten, Sicherheit und Unterstützung der Selbständigkeit und Kompetenz ausgerichtet sind, geschehen.
Während sich Wohnraumgestaltung mit dem eigenen Zuhause beschäftigt, zielt die Gestaltung des Wohnumfeldes auf den Außenbereich ab. Ein speziell auf die Erkrankung Demenz ausgerichtetes Pflegekonzept sollte häufige Wechsel der Betreuungspersonen vermeiden und die Biografiearbeit einbeziehen.
Demenzdörfer und ambulant betreute Wohngemeinschaften stellen bereits demenzfreundliche Wohnangebote dar. Im Bereich von Versorgungsmanagement und Öffnung in die Gemeinde besteht jedoch noch großer Handlungsbedarf.
Architektur als unterstützende Maßnahme
Architektur ist eine wichtige unterstützende Maßnahme für Menschen mit Demenz. Es ist wichtig, eine Umgebung zu schaffen, die Sicherheit, Orientierung und Wohlbefinden fördert. Dies kann durch eine sorgfältige Planung und Gestaltung von Wohnräumen und Pflegeeinrichtungen erreicht werden, die die spezifischen Bedürfnisse von Menschen mit Demenz berücksichtigt.
Vertrautes neu denken
Vertrautes neu zu denken ist eine der wichtigsten Aufgaben von Architekten beim Entwerfen von Pflegeheimen für Menschen mit Demenz. Wenn die kognitiven Fähigkeiten krankheitsbedingt versagen und die Menschen ihren Alltag nicht mehr alleine bewältigen können, ist oft der Umzug in eine Einrichtung für betreutes Wohnen erforderlich. Das ist meist eine gravierende Veränderung - gerade für Personen mit Demenz. Architektur, die Senioren mit Demenzdiagnose unterstützt, wird immer mehr nachgefragt. Hier ist insbesondere von Würde, Lebensqualität und Respekt für die älteren Menschen die Rede. Die Bauplanung nimmt ihren Ausgangspunkt im Individuum und zeigt Verständnis für dessen Lebenssituation und Bedürfnisse.
Das Individuum verstehen
„Das Verstehen des Individuums ist ganz entscheidend, wenn man Entwürfe für diese Zielgruppe macht. Wir müssen in Rahmen einer Architektur denken, die unterstützt und nicht stigmatisiert. In der Vergangenheit wurden Gebäude für Menschen mit Demenz versteckt, während heute mehr Wert darauf gelegt wird, sie als natürlichen Teil der übrigen Gesellschaft zu integrieren“.
Lebensgeschichten berücksichtigen
„Gute Architektur für Menschen mit Demenz muss in der Lage sein, die Lebensgeschichten und den Alltag, den die Bewohner mitbringen, zu berücksichtigen. Zu viele neue Eindrücke können bei Menschen mit Demenz Unruhe und Unsicherheit hervorrufen. Wir versuchen, so weit wie möglich mit wiedererkennbaren Materialien mit haptischer Struktur zu arbeiten, die den sterilen Eindruck einer Pflegeeinrichtung abschwächen und stattdessen ein Gefühl von Zuhause vermitteln. Anstatt im blauen Flur zu wohnen, wohnt man viel besser am großen Baum oder Teich“.
Materialien und Akustik
„Materialien können viele Funktionen haben. Wenn man sich zum Beispiel die Frage der Akustik ansieht, sind Schall und Geräusche etwas, was die Bewohner stark beeinflusst. Die Akustik spielt also eine zentrale Rolle in einem Gebäude, in dem einige Bewohner manchmal laut werden. Mit den Akustikplatten können wir die Schallwellen einfangen, die Nachhallzeit begrenzen und diejenigen vom Lärm abschirmen, die sehr geräuschempfindlich oder hörgeschädigt sind“.
Gesamteindruck und Farbgebung
„Damit ein Sicherheitsgefühl entsteht, kommt es auf den Gesamteindruck an. Somit haben auch Farbgebung und Einrichtungsgegenstände eine Wirkung auf die Bewohner. In Schweden werden solche Interieurs oft weiß und sehr klinisch gestaltet, weil die Frage der Hygiene eine große spielt. Die Konzepte basieren darauf, wie Formen, Materialien, Möbel und Textilien jeweils dazu beitragen, eine ganzheitliche Umgebung zu schaffen“.
Barrierefreiheit und Benutzerfreundlichkeit
„Es liegt auf der Hand, dass dies Anforderungen an die Architektur stellt, wenn man älteren Menschen mit erhöhtem Pflegebedarf gerecht werden will. Barrierefreiheit und Benutzerfreundlichkeit werden zu entscheidenden Faktoren. Wir sollten uns bemühen, ein wohnliches Umfeld für Bewohner und Angehörige zu schaffen. Das wird in Dänemark etwas besser gelöst als in Schweden, wo Senioren- und Pflegeheime oft sehr krankenhausähnlich gestaltet sind“.
Arbeitsabläufe und Logistik
„Bei dieser Art von Gebäuden beginnen wir immer damit, Konzepte für Arbeitsabläufe und Logistik festzulegen. Hierunter fallen beispielsweise Lebensmittel, Medikamente, Kleidung, Bettwäsche und sonstige Vorräte. Solche praktischen Dinge spielen immer eine Rolle. Es geht ja nicht nur um das Zuhause der Bewohner, sondern auch um einen Arbeitsplatz, der funktionieren muss. Indem wir die Logistik so weit wie möglich abseits der Wohneinheiten ansiedeln, sorgen wir für sehr wenige Störungen für die Bewohner“.
Bedürfnisse in den Mittelpunkt stellen
„Politik und Gesellschaft haben erkannt: Wenn wir uns um den wachsenden Anteil älterer Menschen kümmern wollen, müssen wir bald loslegen. Es gibt keine feste Vorlage dafür, wie Seniorenwohnungen aussehen sollten, aber wir haben viele gute Elemente, auf denen wir aufbauen können. Das Wichtigste ist jedoch, dass wir uns daran erinnern, bei der Gestaltung unserer Architektur die Bedürfnisse von älteren Menschen in den Mittelpunkt zu stellen“.
Aktivierung und Mobilisierung im Krankenhaus
Forschungsergebnisse der letzten dreißig Jahre aus der stationären Altenpflege weisen auf einen positiven Einfluss räumlicher Eigenschaften auf Menschen mit Demenz hin. Verschiedene Dimensionen einer barrierefreien, sicheren, orientierungsgebenden und anregenden Umwelt wurden dabei als wesentlich für die Unterstützung von Patienten mit Demenz identifiziert. Die Ergebnisse einer Untersuchung zeigen, dass die Einrichtung eines zentral gelegenen Aufenthaltsbereichs auf einem Stationsflur und die Ausstattung mit vielfältigen Beschäftigungsangeboten zu einer signifikanten Steigerung der Aktivitäten und Interaktionen von Patienten mit Demenz führte. Die räumliche und visuelle Nähe zum Dienstzimmer der Pflegekräfte und die Ausgestaltung des Aufenthaltsbereichs als räumlichen Ankerpunkt stellten zentrale architektonische Parameter dar. Des Weiteren wird in der Untersuchung deutlich, dass die Architektur einen Beitrag zur Steigerung der Arbeitszufriedenheit von Pflegekräften und folglich zu einer ganzheitlichen Verbesserung der Versorgungssituation von Patienten mit Demenz leisten kann.
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