Ärztliches Gutachten und Führerschein bei Epilepsie: Ein umfassender Überblick

Die Frage der Fahrtauglichkeit bei Epilepsie ist komplex und von großer Bedeutung für Betroffene. Dieser Artikel beleuchtet die verschiedenen Aspekte, die bei der Beurteilung der Fahrtauglichkeit eine Rolle spielen, und gibt einen Überblick über die rechtlichen Rahmenbedingungen und Begutachtungsleitlinien.

Entscheidungsgewalt liegt bei der Fahrerlaubnisbehörde

Es ist wichtig zu betonen, dass nicht das ärztliche Gutachten allein über die Fahrtauglichkeit bei Epilepsie entscheidet. Vielmehr ist es die Fahrerlaubnisbehörde, die auf Basis des Gutachtens eine rechtliche Bewertung vornimmt. Die Behörde berücksichtigt dabei sowohl medizinische Aspekte als auch die Straßenverkehrsordnung (StVO) und die Fahrerlaubnis-Verordnung (FeV).

Ein konkretes Beispiel verdeutlicht dies: Im Juli 2019 verursachte ein Antragsteller einen Verkehrsunfall. Sein Sohn wies darauf hin, dass sein Vater an Epilepsie erkrankt sei, jedoch mit dem Hinweis, dass der letzte Anfall Jahre zurückliege. Die Fahrerlaubnisbehörde forderte daraufhin ein Attest eines Facharztes für Nervenheilkunde an. Dieses Attest bestätigte die Epilepsie mit seltenen Anfällen und führte aus, dass zum Zeitpunkt des Unfalls wahrscheinlich eine Bewusstseinsstörung aufgrund eines epileptischen Anfalls vorgelegen habe. Der Gutachter sprach dem Antragsteller die Fahrtauglichkeit für seine Fahrerlaubnis für Lastkraftwagen ab, begründet durch den aktuellen Anfall, das pathologische EEG sowie die Notwendigkeit einer weiteren Medikation. Für Fahrzeuge bis 3,5 Tonnen schlug der Gutachter eine quartalsweise nervenärztliche Verlaufsuntersuchung und eine Nachuntersuchung der Fahrtauglichkeit in zwei Jahren vor.

Der Antragsteller argumentierte, dass der Gutachter die Nichteignung zum Führen von Fahrzeugen nicht explizit festgestellt habe und auch nicht mit Sicherheit feststellen konnte, dass der Unfall auf einem epileptischen Anfall beruhte. Das Oberverwaltungsgericht (OVG) stellte jedoch klar, dass für die LKW-Führerscheinklassen eine Fahreignung bei Epilepsie nur dann ausnahmsweise angenommen wird, wenn kein wesentliches Risiko von Anfällen mehr besteht, etwa bei einer seit fünf Jahren ohne Therapie bestehenden Anfallsfreiheit. Da aus dem Gutachten nicht von einer Anfallsfreiheit ohne die Einnahme von Medikamenten ausgegangen werden konnte, und es für die rechtliche Bewertung irrelevant war, dass der Gutachter die Unfallursache nicht sicher festgestellt hatte, wurde die Fahrtauglichkeit für LKW verneint.

Die Rolle des ärztlichen Gutachtens

Viele Menschen mit Epilepsie, die bei der Beantragung ihrer Fahrerlaubnis eine Bescheinigung ihres behandelnden Facharztes vorlegen, werden von ihrer Fahrerlaubnisbehörde aufgefordert, ein Gutachten eines anderen Facharztes vorzulegen. Für Menschen mit Epilepsie ist diese Vorgabe sachlich nicht immer gerechtfertigt. Im Gegensatz zu anderen Krankheitsbildern, bei denen sich ein Arzt, der die/den Betroffene/n nicht kennt, ein eigenständiges Urteil bilden kann, ist eine Beurteilung des Behandlungsstandes bei Epilepsie ausschließlich aus dem ärztlich begleiteten Krankheitsverlauf möglich. Nur die/der behandelnde Fachärztin/Facharzt ist in der Lage, aufgrund der persönlichen Kenntnisse z. B. der Anfallsformen oder der Verlässlichkeit der Medikamenteneinnahme und der Anfallsdokumentation zu beurteilen, ob die gesundheitlichen Voraussetzungen zum Erwerb (oder zum Weiterbestehen) der Fahreignung bestehen.

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Gesetzliche Grundlagen und Begutachtungsleitlinien

Die Straßenverkehrsordnung (StVO) und die Fahrerlaubnis-Verordnung (FeV) bilden die rechtliche Grundlage für die Beurteilung der Fahrtauglichkeit. Die FeV enthält in Anlage 4 eine Auflistung von Krankheiten, die die Fahreignung beeinträchtigen können, darunter auch Epilepsie.

Für Ärzte sind die "Begutachtungs-Leitlinien zur Kraftfahrereignung" von entscheidender Bedeutung bei der Beurteilung der Fahrtauglichkeit von Menschen mit epileptischen Anfällen und Epilepsien. Diese Leitlinien, die zuletzt im Juni 2022 aktualisiert wurden, geben detaillierte Empfehlungen und Kriterien vor. Sie haben in der Praxis einen nahezu verbindlichen Charakter.

Inhalt der Begutachtungsleitlinien

Die Begutachtungsleitlinien legen fest, dass Personen, die an epileptischen Anfällen leiden, grundsätzlich nicht in der Lage sind, den Anforderungen zum Führen von Kraftfahrzeugen gerecht zu werden, solange ein wesentliches Risiko von Anfallsrezidiven besteht. Dies gilt auch für andere anfallsartig auftretende Störungen mit akuter Beeinträchtigung des Bewusstseins, der Motorik oder anderer handlungsrelevanter Funktionen.

Die Leitlinien berücksichtigen verschiedene Aspekte, darunter:

  • Anfallsfreiheit: Eine bestimmte Zeitspanne der Anfallsfreiheit ist in der Regel Voraussetzung für die Wiedererlangung der Fahrtauglichkeit. Die Dauer dieser Frist variiert je nach Führerscheingruppe und individueller Situation.
  • Anfallsart: Die Art der Anfälle (z.B. Anfälle im Schlaf, einfach-fokale Anfälle ohne Bewusstseinsstörung) spielt eine Rolle bei der Beurteilung.
  • Medikation: Eine bestehende antiepileptische Medikation darf die Fahrtüchtigkeit nicht herabsetzen.
  • Zusätzliche Faktoren: Assoziierte körperliche oder psychische Störungen müssen berücksichtigt werden.

Führerscheingruppen

Die Begutachtungsleitlinien unterscheiden zwischen zwei Führerscheingruppen:

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  • Führerscheingruppe 1: Beinhaltet im Wesentlichen Motorräder und PKW (Klassen A und B).
  • Führerscheingruppe 2: Beinhaltet Lastkraftwagen und Fahrgastbeförderung (Klassen C und D).

Für die Führerscheingruppe 2 gelten strengere Bestimmungen als für die Führerscheingruppe 1, da hier ein höheres Risiko anfallsbedingter Unfälle und eine größere Unfallschwere bestehen.

Regelungen für die Führerscheingruppe 1

  • Erstmaliger Anfall: Nach einem unprovozierten, erstmaligen Anfall kann die Kraftfahreignung nach einer anfallsfrei gebliebenen Beobachtungszeit von 6 Monaten wieder bejaht werden, wenn die fachneurologische Abklärung keine Hinweise auf ein grundsätzlich erhöhtes Anfallsrisiko im Sinne einer beginnenden Epilepsie ergeben hat. Bei einem provozierten oder akuten symptomatischen Anfall kann die Kraftfahreignung nach einer anfallsfrei gebliebenen Beobachtungszeit von 3 Monaten wieder bejaht werden, wenn die auslösende Bedingung nicht mehr gegeben ist.
  • Epilepsien: Wird die Diagnose einer Epilepsie gestellt, ist eine mindestens 1-jährige Anfallsfreiheit die Voraussetzung für das Erlangen der Kraftfahreignung.
  • Anfälle im Schlaf: Eine Fahreignung ist gegeben, wenn ausschließlich an den Schlaf gebundene Anfälle auftreten. Hierfür ist eine mindestens 3-jährige Beobachtungszeit erforderlich.
  • Einfach-fokale Anfälle: Die Fahreignung ist auch gegeben, wenn ausschließlich einfach-fokale Anfälle auftreten, die ohne Bewusstseinsstörung und nicht mit motorischer, sensorischer oder kognitiver Behinderung für das Führen eines Kraftfahrzeug einhergehen. Hierzu ist eine mindestens einjährige Beobachtungszeit notwendig.
  • Anfallswiederkehr: Kommt es nach langjähriger Anfallsfreiheit zu einem Anfall, so kann die Kraftfahreignung schon nach einer Fahrpause von 6 Monaten wieder bejaht werden, wenn eine fachneurologische Abklärung keine Aspekte ergibt, die ein erhöhtes Rezidivrisiko bedingen würden.
  • Beendigung der antiepileptischen Therapie: Bei schrittweiser Beendigung einer antiepileptischen Therapie ist die Fahreignung für die Dauer der Reduzierung des letzten Medikamentes sowie für die ersten 3 Monate ohne medikamentöse Therapie nicht gegeben.

Regelungen für die Führerscheingruppe 2

  • Erstmaliger Anfall: Nach einem unprovozierten erstmaligen Anfall kann die Fahreignung nach einer anfallsfrei gebliebenen Beobachtungszeit von 2 Jahren wieder bejaht werden, wenn die fachneurologische Abklärung keine Hinweise auf ein grundsätzlich erhöhtes Anfallsrisiko im Sinne einer beginnenden Epilepsie ergeben hat. Bei einem provozierten Anfall kann die Kraftfahreignung nach einer anfallsfrei gebliebenen Beobachtungszeit von 6 Monaten wieder bejaht werden, wenn die auslösende Bedingung nicht mehr gegeben ist.
  • Epilepsien: Wird die Diagnose einer Epilepsie gestellt, bleibt die Kraftfahrereignung dauerhaft ausgeschlossen. Als Ausnahme gilt eine 5-jährige Anfallsfreiheit ohne antiepileptische Behandlung.

Eigenverantwortung und ärztliche Pflichten

Die Beurteilung der Fahrtauglichkeit bei Epilepsie erfordert ein hohes Maß an Eigenverantwortung seitens des Patienten. Der Arzt ist auf die Angaben des Patienten und seiner Angehörigen angewiesen, um die Anfallshäufigkeit und -form zu beurteilen.

Der Arzt hat die Pflicht, den Patienten entsprechend den Begutachtungsleitlinien zu beraten und dies in der Akte zu dokumentieren. Ist die Fahrtauglichkeit nicht gegeben, so muss er dies dem Patienten in klarer und eindeutiger Weise mitteilen. Grundsätzlich besteht ärztliche Schweigepflicht, aber es besteht ein Melderecht, wenn ein höheres Rechtsgut bedroht wird.

Neuerwerb des Führerscheins

Bei der Beantragung eines Führerscheins sollte die Frage nach dem Vorliegen einer Epilepsie oder einer anders gearteten chronischen Krankheit auf dem Antragsformular der Straßenverkehrsbehörde bejaht werden. Zu früheren Zeitpunkten stattgehabte provozierte Anfälle brauchen nicht angegeben werden. Die Straßenverkehrsbehörde entscheidet darüber, ob ein Fahrtauglichkeitsgutachten notwendig ist.

Begutachtung durch die Straßenverkehrsbehörden

Seit dem 01.01.1999 werden Fahrtauglichkeitsgutachten durch entsprechend vorgebildete Ärzte angefertigt. Hierfür zugelassen sind Ärzte mit verkehrsmedizinischer Qualifikation (zumeist Neurologen oder Psychiater), Ärzte des Gesundheitsamtes, Ärzte der öffentlichen Verwaltung oder Ärzte mit der Gebietsbezeichnung „Arbeitsmedizin“.

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Fahrverbot und seine Aufhebung

Ein Fahrverbot kann für unterschiedliche Ordnungswidrigkeiten ausgesprochen werden. Bei Epilepsie kann ein ärztliches Fahrverbot ausgesprochen werden, wenn die Anfälle regelmäßig und unkontrolliert auftreten. Dieses Fahrverbot ist zwar rechtlich nicht bindend, aber es kann zu großen Problemen führen, wenn es wegen eines epileptischen Anfalls zum Unfall kommt und die Krankheit bekannt war.

Bleiben Betroffene länger anfallsfrei und kann eine Fahrtauglichkeit bescheinigt werden, kann das Fahrverbot wieder aufgehoben werden.

Unterstützung und Beratung

Neben der medizinischen Betreuung durch den behandelnden Arzt gibt es weitere Anlaufstellen für Menschen mit Epilepsie und ihre Angehörigen. Dazu gehören Selbsthilfegruppen, Beratungsstellen und Verkehrspsychologen.

Epilepsie und Schwerbehinderung

Ab einer mittleren Anfallshäufigkeit mit einem Grad der Behinderung (GdB) ab 70 bekommen Menschen mit Epilepsie meist das Merkzeichen G und das Merkzeichen B und bei sehr häufigen Anfällen mit einem GdB von 100 das Merkzeichen H. Diese Merkzeichen ermöglichen unter anderem Ermäßigungen bei öffentlichen Verkehrsmitteln und die kostenfreie Mitfahrt einer Begleitperson.

Finanzielle Unterstützung

Unter bestimmten Umständen können Menschen mit Epilepsie finanzielle Unterstützung für Fahrten erhalten, z.B. durch einen Zuschuss zu Taxifahrten oder Fahrtkosten. Die Voraussetzungen und Zuständigkeiten für diese Zuschüsse sind jedoch komplex und bedürfen einer individuellen Prüfung.

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