Gerhard Roth: Einblicke in die Hirnforschung und ihre Bedeutung für die Psychotherapie

Gerhard Roth, ein promovierter Biologe und Philosoph, war Professor für Verhaltensphysiologie und Entwicklungsneurobiologie am Institut für Hirnforschung der Universität Bremen. Bekannt für seine Arbeit und seine Veröffentlichungen wie "Wie das Gehirn die Seele macht", hat Roth wesentlich zur neurowissenschaftlichen Diskussion im deutschsprachigen Raum beigetragen. Dieser Artikel beleuchtet Roths Forschungsschwerpunkte, seine Ansichten zur Rolle der Hirnforschung in der Psychotherapie und seine kritischen Anmerkungen zu traditionellen Therapieansätzen.

Hirnforschung als Hilfswissenschaft für die Psychotherapie

Roth sah die Neurobiologie als eine wichtige Hilfswissenschaft für die Psychotherapie. Psychotherapeuten interessieren sich besonders für die Hirnabläufe und -funktionen, die ihre Arbeit aus neurobiologischer Sicht plausibel machen. Es geht darum, zu verstehen, was im Gehirn passiert, wenn Psychotherapie erfolgreich ist, aber auch, warum sie manchmal nicht erfolgreich ist. Die Kompliziertheit in den Passungsprozessen zwischen Therapeut und Klient rückt dabei in den Fokus.

Positives Echo und wachsende Bedeutung

Das Interesse von Psychologen an neurobiologischen Erkenntnissen ist in den letzten zehn Jahren stark gewachsen. Roth betonte, dass die Neurobiologie zwar eine Hilfswissenschaft ist, aber dennoch eine wichtige.

Kritische Anmerkungen zu Therapieschulen

Roth wies darauf hin, dass Psychotherapeuten zwar in ihrer Wirkung durchaus erfolgreich sind, oft sogar langfristig erfolgreicher als die Behandlung mit Psychopharmaka, der Erfolg aber gleichzeitig bescheidener ist, als er oft von Psychotherapeuten dargestellt wird. Er erwähnte die Drei-Drittel-Regel: Bei einem Drittel ist die Psychotherapie sehr erfolgreich, bei einem Drittel stabilisiert sie den Klienten, ändert aber längerfristig nicht viel, und bei einem Drittel ist sie weitgehend wirkungslos.

Überholungsbedürftige theoretische Grundannahmen

Kritisch äusserte sich Roth zu den theoretischen Grundannahmen der verschiedenen Therapieschulen, die oft zu wenig empirisch überprüft und daher überholungsbedürftig seien. Annahmen von vor fünfzig oder hundert Jahren, wie in der Psychoanalyse, sind heute anders prüfbar.

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Psychoanalyse im Wandel

In der Psychoanalyse lassen sich die Freud’schen Vorstellungen der Funktion des Unbewussten und des Zugangs zu ihm, die Traumdeutung oder der Ödipuskomplex nicht mehr aufrechterhalten. Diese Konzepte können allenfalls noch zur Hypothesenbildung oder als Gesprächsanlässe dienen, aber nicht mehr als Wirkungsmodelle. Auch für die Komponenten Ich, Es und Über-Ich lassen sich neuronal keine „Orte“ oder Funktionen im Gehirn nachweisen.

Verhaltenstherapie und Lernmodelle

Die Verhaltenstherapie muss sich von älteren Lernmodellen verabschieden, insbesondere von solchen, die noch von „Löschungsprozessen“ im Gehirn ausgingen. Im Gehirn kann nichts „gelöscht“, sondern bestenfalls überlernt werden.

Notwendigkeit einer neuen Therapiewirkungsforschung

Roth forderte eine neue Therapiewirkungsforschung, die die Neurobiologie stärker einbezieht, um neue Wirkungsmodelle zu entwickeln. Dies erfordert die Abkehr von traditionellen Annahmen, insbesondere angesichts neuer Erkenntnisse durch bildgebende Verfahren.

Bedeutung der Kenntnisse über das limbische System

Psychotherapeuten sollten Kenntnisse darüber haben, wie Teile des limbischen Systems unsere Affekte und unser Temperament prägen. Vulnerabilität und Resilienz sind neurobiologisch verankert, auch wenn sie eng mit Umwelteinflüssen zusammenhängen. Dies kann helfen, die Erfolgschancen einer Psychotherapie realistisch einzuschätzen.

Plastizität des Gehirns und ihre Grenzen

Obwohl sich neuronale Besonderheiten lebensgeschichtlich verändern können, ist diese Veränderbarkeit nicht grenzenlos. Neuromodulatoren wie Dopamin, Serotonin, Noradrenalin und Acetylcholin sowie Neuropeptide und Neurohormone (Cortisol, Oxytocin) prägen unsere neuronalen Abläufe weitgehend autonom. Das Gehirn ist selbstreferenziell.

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Das Rätsel des Transfers von neuronalen Abläufen zu psychischen Inhalten

Roth räumte ein, dass bisher nicht gezeigt werden kann, wie der Transfer von neuronalen Abläufen und Funktionen hin zum psychischen Inhalt verlaufen könnte. Er betonte die Notwendigkeit, ehrlich zu sein und keine Kausalitäten zu behaupten, wo sie nicht nachweisbar sind.

Kritik an der Zusammenarbeit mit der Pharmaindustrie

Roth wies den Vorwurf zurück, dass die Neurowissenschaften vorrangig der Pharmaindustrie zuarbeiten. Er betonte, dass Psychotherapie, wenn sie wirkt, im Gehirn wirkt und dass auch Psychopharmaka biologisch und chemisch wirken müssen. Allerdings funktionieren auch Psychopharmaka nur bei einem Drittel der Klienten wirklich, was zeigt, dass eine gute Beziehung zwischen Therapeut und Klient unerlässlich ist. Die Bindungsforschung und das Peptid Oxytocin spielen dabei eine wichtige Rolle.

Wertschätzung für schulenübergreifende Ansätze

Roth zeigte Hochachtung vor Psychotherapeuten, die ein gesundes schulenübergreifendes Mixtum betreiben, das er als „Bindungsorientierte emotional-kognitive psychodynamische Verhaltenstherapie“ bezeichnete. Er sah die Zukunft in einem klugen Mixtum aus unterschiedlichen Ansätzen, angewendet auf den individuellen Klienten.

Das Ich und seine Vielfalt

Roth betonte, dass wir nicht ein einziges Ich sind, sondern mehrere Ich-Zustände haben. Er argumentierte, dass der Versuch, sein wahres Ich zu erkennen, aussichtslos ist. Handlungen werden primär von unbewussten Gehirnprozessen ausgelöst, weshalb ein bewusster Vorsatz wenig hilft, wenn er nicht zu den unbewussten Motiven passt.

Gehirn und Geist

Roth thematisierte die Beziehung von Gehirn und Geist. Er erklärte, dass das Gehirn Körperempfinden, die Welt der Dinge und das geistige Erleben streng getrennt verarbeitet.

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Roths Vermächtnis und Einfluss

Gerhard Roth war einer der renommiertesten Streiter gegen die alten metaphysischen Menschenbilder im Zeitalter der Neurowissenschaften. Seine Arbeit thematisierte philosophische Fragen, die sich aus neurobiologischen Erkenntnissen ergeben, insbesondere die Frage der Willensfreiheit. Er regte weitreichende Reformen in der Schule an und warnte vor der Überschwemmung der Schule mit elektronischen Geräten.

Neurowissenschaftliche Erkenntnisse für Therapie und Beratung

Roth fasste die Erkenntnisse seiner wissenschaftlichen Laufbahn zusammen und gab neurowissenschaftlich fundierte Antworten auf zentrale Fragen für Therapie und Beratung: Warum sind Menschen so, wie sie sind und warum tun sie das, was sie tun? Wie kann man Klienten dabei unterstützen, sich dauerhaft zu verändern?

Tod und Würdigung

Gerhard Roth verstarb am 25. April 2023 im Alter von 80 Jahren. Die Universität Bremen würdigte ihn als einen beeindruckenden Forscher und seine wissenschaftlichen Verdienste. Roth war maßgeblich am Aufbau der Neuro- und Kognitionswissenschaften an der Universität Bremen beteiligt und engagierte sich für die Gründung des Instituts für Hirnforschung, des Zentrums für Kognitionswissenschaften und für den DFG-Sonderforschungsbereich „Neurokognition“.

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