Die auditive Verarbeitung im Gehirn ist ein komplexer Prozess, der es uns ermöglicht, Schallwellen zu interpretieren und zu verstehen. Dieser Artikel beleuchtet die Mechanismen der auditiven Verarbeitung, die verschiedenen Arten von auditiven Verarbeitungsstörungen (AVWS) und die verfügbaren Therapieansätze.
Einführung in die auditive Wahrnehmung
Die auditive Wahrnehmung ist die neuronale Verarbeitung von Schallwellen, die vom Ohr aufgenommen und in elektrische Signale umgewandelt werden. Dieser Prozess beginnt im Ohr, wo mechanische Schwingungen in elektrische Impulse umgewandelt werden, und setzt sich im Gehirn fort, wo Frequenzen, Lautstärken und Klangmuster analysiert werden. Eine präzise Verarbeitung akustischer Reize ist essenziell für Kommunikation, Orientierung und die Erkennung von Gefahren.
Im Gegensatz zum bloßen Hören, das die reine Detektion von Schall umfasst, ermöglicht die auditive Wahrnehmung eine differenzierte Interpretation von Klangmerkmalen wie Tonhöhe, Lautstärke, Klangfarbe und räumlicher Herkunft.
Das Hörsystem: Vom Ohr zum Gehirn
Das Hörsystem besteht aus dem äußeren Ohr, dem Mittelohr, dem Innenohr und den neuronalen Strukturen der Hörbahn.
- Äußeres Ohr: Es umfasst die Ohrmuschel und den Gehörgang. Es leitet Schallwellen gebündelt zum Trommelfell und moduliert diese, indem es bestimmte Frequenzen verstärkt.
- Mittelohr: Es überträgt die Schwingungen des Trommelfells über die Gehörknöchelchen - Hammer, Amboss und Steigbügel - an das Innenohr.
- Innenohr: Hier wandelt die Cochlea, ein spiralig gewundener Hohlraum, die mechanischen Schwingungen in elektrische Impulse um. Die inneren Haarzellen wandeln mechanische Schwingungen in neuronale Signale um, während die äußeren Haarzellen die Schallverarbeitung durch aktive Verstärkung optimieren. Hohe Töne werden an der Basis der Cochlea verarbeitet, tiefe Töne eher an der Spitze.
Über den Hörnerv (Nervus vestibulocochlearis) gelangen die Signale zum Hirnstamm, wo erste Verarbeitungsprozesse stattfinden. Der Thalamus filtert die Reize, bevor sie den auditorischen Kortex im Schläfenlappen erreichen.
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Neuronale Verarbeitung von Schall
Die auditive Wahrnehmung basiert auf der Umwandlung von Schallwellen in elektrische Signale und deren Verarbeitung im Gehirn. Schallwellen setzen das Trommelfell in Schwingung. Die Gehörknöchelchen im Mittelohr verstärken diese mechanische Bewegung und übertragen sie auf das ovale Fenster der Cochlea. Die Flüssigkeit in der Cochlea gerät in Bewegung und versetzt die Basilarmembran in Schwingung. Die Haarzellen auf der Basilarmembran reagieren je nach Position auf unterschiedliche Frequenzen.
Neben den passiven Bewegungen der Basilarmembran spielen die äußeren Haarzellen eine aktive Rolle. Sie verstärken die Schwingungen durch eine elektromechanische Rückkopplung, indem sie ihre Länge verändern und so die Schallwahrnehmung präzisieren. Die Haarzellen setzen durch mechanische Reize Neurotransmitter frei, die Aktionspotenziale im Hörnerv auslösen und an das Gehirn weiterleiten. Die Signale erreichen über den Hörnerv den Hirnstamm, wo erste Verarbeitungsprozesse stattfinden.
Räumliches Hören
Das Gehirn nutzt verschiedene Informationen, um Schallquellen im Raum zu lokalisieren:
- Interaurale Zeitunterschiede (ITD): Tiefe Frequenzen unter 1,5 Kilohertz treffen zu leicht unterschiedlichen Zeitpunkten auf beide Ohren.
- Interaurale Pegelunterschiede (ILD): Hohe Frequenzen über drei Kilohertz werden durch den Kopf abgeschirmt, sodass das Schallsignal auf der gegenüberliegenden Seite abgeschwächt ankommt.
Sprachverarbeitung im Gehirn
Die Verarbeitung von Sprache erfolgt in spezialisierten Hirnregionen. Der primäre auditorische Kortex im Schläfenlappen analysiert Frequenz, Lautstärke und Klangfarbe. Sprache wird im Wernicke-Areal interpretiert, während das Broca-Areal für die Sprachproduktion zuständig ist. Zusätzlich spielt der Thalamus eine entscheidende Rolle. Das Corpus geniculatum mediale filtert eingehende Höreindrücke und moduliert relevante Signale, bevor sie den auditorischen Kortex erreichen.
Der McGurk-Effekt
Der McGurk-Effekt ist eine auditive Illusion, die zeigt, wie stark das Hören von visuellen Informationen beeinflusst wird. Wenn eine Person den Laut "ba" hört, aber gleichzeitig das Lippenbild für "ga" sieht, nimmt das Gehirn stattdessen "da" wahr. Diese Täuschung entsteht, weil das Gehirn widersprüchliche sensorische Signale integriert und eine mittlere Wahrnehmung konstruiert.
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Anpassungsfähigkeit des Gehirns
Das Gehirn besitzt die Fähigkeit, sich an veränderte akustische Bedingungen anzupassen. Bei Hörverlust übernehmen andere Sinne, wie das Sehen, eine verstärkte Rolle. Menschen mit Hörschädigung nutzen beispielsweise das Lippenlesen oder verarbeiten Töne durch eine verstärkte Aktivität in benachbarten Hirnregionen.
Individuelle Unterschiede und Veränderungen im Laufe des Lebens
Die auditive Wahrnehmung variiert individuell und verändert sich im Laufe des Lebens. Das Hörvermögen ist nicht bei allen Menschen gleich. Einige Personen nehmen hohe oder tiefe Töne empfindlicher wahr als andere. Auch die Fähigkeit, Sprache in lauter Umgebung zu verstehen, unterscheidet sich individuell. Mit zunehmendem Alter lässt das Hörvermögen oft nach.
Auditive Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörung (AVWS)
Eine auditive Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörung (AVWS) bezeichnet eine Störung der zentralen Hörverarbeitung und Wahrnehmung, bei der das Hören an sich nicht beeinträchtigt ist, sondern die Verarbeitung der akustischen Informationen im Gehirn gestört ist. Die Problematik liegt in der Weiterleitung und Vorbereitung der akustischen Signale auf den zentralen Hörbahnen und/oder bei der Verarbeitung und Auswertung im Gehirn.
Professor Dr. Rainer Schönweiler, Leiter der Sektion für Phoniatrie und Pädaudiologie am Universitätsklinikum Schleswig-Holstein, erklärt: "Ein deutliches Anzeichen für eine AVWS ist, wenn Kinder neue Wörter oder Anweisungen falsch verstehen und dadurch wie schwerhörig oder gar ein bisschen dumm erscheinen. Sie begreifen nicht sofort, was vor sich geht."
Ursachen von AVWS
Die genauen Ursachen für eine AVWS sind nicht immer eindeutig. Es ist eine Entwicklungsstörung, die jeden treffen kann, so wie zum Beispiel auch eine feinmotorische Entwicklungsstörung. Manchmal muss man einfach hinnehmen, dass nicht alles erklärbar ist - es gibt einen großen Anteil bei AVWS, bei dem sich konkrete Ursachen nicht nachweisen lassen.
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Eine potenzielle Fremdverursachung sind inkonsequent behandelte Mittelohrprobleme. Kinder, die im Kleinkindalter sehr viele Hörstörungsepisoden haben, beispielsweise durch Paukenergüsse, sind bedroht, an AVWS zu erkranken.
Symptome von AVWS
Typische Anzeichen einer AVWS können sein:
- Schwierigkeiten, sich lange auf akustische Reize zu konzentrieren
- Probleme, Anweisungen in lauten Umgebungen zu verstehen
- Schwierigkeiten, sich auditive Informationen zu merken (z.B. Telefonnummern oder Einkaufslisten)
- Missverständnisse aufgrund der Verwechslung ähnlich klingender Wörter (z.B. Tanne-Kanne)
- Unsicherheiten in der Grammatik
- Probleme, Sprache aus Hintergrundgeräuschen herauszuhören
- Verwechseln ähnlich klingender Laute oder Silben
- Auffällige Aussprachefehler
- Schwierigkeiten beim Erlernen des Schreibens, Laute korrekt in Schrift umzusetzen
Die Symptome zeigen sich häufig erst dann, wenn sich das betroffene Kind in einer unruhigen Umgebung mit vielen Schallquellen und Störgeräuschen befindet, etwa im Kindergarten oder in der Schule.
Diagnose von AVWS
Die Diagnose einer AVWS können Phoniater und Pädaudiologen anhand spezieller Tests stellen. Man muss phasengerecht untersuchen: Was müsste das Kind im entsprechenden Alter können und was kann es tatsächlich? Hat das Kind einen Rückstand? Wichtig ist auch, auszuschließen, dass etwas anderes vorliegt, was die Symptome schlüssig erklärt - zum Beispiel eine geistige Behinderung.
Ab einem Alter von etwa sechs bis sieben Jahren lassen sich die für AVWS charakteristischen Merkmale gut erkennen. Aber auch schon an vierjährigen Kindern kann man testen, ob sie bestimmte Sprachlaute auseinanderhalten können.
Therapie von AVWS
Durch die verschiedenen Untersuchungen wird ermittelt, welche Störungen aus dem AVWS-Spektrum tatsächlich vorliegen. Dann können die einzelnen Punkte direkt angegangen werden. Wenn ein Kind beim Lautunterscheidungstest mehr Fehler macht als andere Kinder, kann man die Fähigkeit zur Lautunterscheidung trainieren, weil das eine Großhirnleistung ist.
Mit einer sogenannten rezeptiven Sprachtherapie lassen sich Lautunterscheidungsstörungen gut behandeln. Schon nach 20 Therapiestunden kommt es zu einer signifikanten Verbesserung der relevanten medizinstatistischen Werte. Neben Lautunterscheidung kann auch das Heraushören von Buchstaben gut geübt werden oder die Wahrnehmung und Verarbeitung von mehreren gleichzeitigen Sprechern.
Das Ultrakurzzeitgedächtnis oder Arbeitsgedächtnis, also der Anteil des Gedächtnisses, das der kurzfristigen Speicherung und Verarbeitung von Informationen dient, lässt sich weniger gut trainieren. Weil sie weniger robust gegen Störschall sind, beseitigt man den Störschall. Das geschieht durch Funkhörsysteme, sog. Übertragungsanlagen. Mittels Funkübertragung des Signals eines Ansteckmikrofons zu einer Art Hörgerät bringt man deshalb den Schall des Lehrers ohne Störschall direkt ans Ohr des Kindes.
Flexibilität der auditiven Wahrnehmung
Die menschliche Wahrnehmung zeichnet sich durch hohe Flexibilität aus. Das erlaubt uns, gleichartige Ereignisse in verschiedensten Kontexten oder Situationen gleichartig zu erleben. Tagtäglich befinden wir uns in wechselnden akustischen Situationen.
Prozesse innerhalb des Gehirns können mithilfe der Elektroenzephalografie (EEG) oder der Magnetenzephalografie (MEG) gemessen werden. Beide Messverfahren nutzen die elektrische Aktivität von Nervenzellen (Neuronen). Das EEG-Verfahren misst direkt die elektrische Aktivität der Neuronen. Mit der MEG-Messung wird das Magnetfeld gemessen, das durch die elektrische Aktivität der Neuronen im Gehirn erzeugt wird.
Die neurale Aktivität in der Hörrinde verändert sich nicht nur abhängig von der Frequenzspanne, sondern passt sich auch an rhythmische Strukturen der akustischen Umwelt an. Die im EEG/MEG gemessenen neuralen Oszillationen synchronisierten sich mit dem Rhythmus des akustischen Signals („neurales Entrainment“).
Aus diesen beispielhaften Studien lässt sich schließen, dass gleichartige, unveränderte Umweltreize die neurale Aktivität nicht notwendigerweise prototypisch und in immer gleicher Art und Weise beeinflussen. Vermutlich ist es genau diese dynamische Ultra-Kurzzeit-Plastizität des Gehirns, die es uns ermöglicht, flexibel auf verschiedene Situationen gleichwertig zu reagieren.
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