Das autonome Nervensystem (ANS) spielt eine entscheidende Rolle bei der Steuerung lebenswichtiger Körperfunktionen, die außerhalb unserer willentlichen Kontrolle liegen. Dazu gehören Herzschlag, Blutdruck, Atmung, Verdauung, Blasen- und Darmfunktion sowie der Tag-Nacht-Rhythmus. Störungen dieses Systems können vielfältige Beschwerden verursachen und die Lebensqualität erheblich beeinträchtigen. Die autonome Testung in der Neurologie dient dazu, diese Störungen zu erkennen, ihre Ursachen zu ermitteln und die Grundlage für eine gezielte Behandlung zu schaffen.
Bedeutung der autonomen Testung
Erkrankungen des zentralen Nervensystems, wie Multiple Sklerose (MS), Multisystematrophie, aber auch Polyneuropathien, die durch Diabetes mellitus, Amyloidose, Porphyrie oder Urämie verursacht werden, sowie das Guillain-Barré-Syndrom oder hereditäre Neuropathien können mit Störungen des autonomen Nervensystems einhergehen. Diese Störungen können sich in orthostatischer Hypotonie, Hitzeintoleranz, veränderter Schweißsekretion, Durchfall oder Verstopfung, Inkontinenz, erektiler Dysfunktion, Akkommodations- oder Pupillenstörungen äußern.
Bei Patienten mit MS können autonome Funktionsstörungen bereits in Ruhe auftreten, werden aber oft deutlicher unter leichter Belastung, wie z. B. langsames und tiefes Atmen, Faustschluss oder Stehen. Die frühzeitige Erkennung dieser Störungen ist wichtig, da sie Herz, Blutdruck und andere Organe daran hindern können, sich angemessen an Alltagssituationen anzupassen. Dies kann die Lebensqualität beeinträchtigen und möglicherweise die Lebenserwartung verkürzen. Darüber hinaus können Blasenfunktionsstörungen zu wiederkehrenden Harnwegsinfekten und sexuelle Funktionsstörungen zu einer erheblichen Einschränkung der Lebensqualität führen.
Untersuchungsmethoden im neurovegetativen Labor
Im neurovegetativen Labor stehen verschiedene spezielle Untersuchungsmethoden zur Verfügung, um die unterschiedlichen Anteile des autonomen Nervensystems zu erfassen. Diese Tests helfen, die spezifische Art und den Schweregrad der autonomen Dysfunktion zu bestimmen.
Kardiovaskuläre Tests
Kardiovaskuläre Tests untersuchen die Funktion des autonomen Nervensystems bei der Steuerung von Herzfrequenz und Blutdruck.
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Blutdruckverhalten beim Aufstehen (Orthostasebelastung)
Bei diesem Test wird der Blutdruck wiederholt oder kontinuierlich aufgezeichnet, nachdem der Patient 20 Minuten in Ruhe gelegen hat. Eine orthostatische Hypotonie liegt vor, wenn der systolische Blutdruck innerhalb von 3 Minuten um mehr als 20 mmHg abfällt. Bei autonomer Dysregulation fehlt zusätzlich die kompensatorische Erhöhung der Pulsfrequenz.
Blutdruckverhalten bei anhaltendem Faustschluss
Der Patient schließt die Faust für 3-5 Minuten mit 30 % seiner maximalen Kraft. Dabei wird der Blutdruck aufgezeichnet. Ein normaler diastolischer Blutdruckanstieg beträgt mehr als 15 mmHg. Ein Anstieg zwischen 11 und 15 mmHg gilt als grenzwertig, während ein Anstieg von weniger als 11 mmHg als pathologisch angesehen wird.
Kipptischuntersuchung
Bei der Kipptischuntersuchung wird der Patient zunächst in entspannter Atmosphäre auf dem Kipptisch gelagert. Die Kreislaufwerte werden durch ein automatisches Blutdruckmessgerät und ein EKG registriert. Nachdem sich der Körper an die Ruhebedingungen gewöhnt hat, wird der Patient gebeten, in einem vorgegebenen Rhythmus zu atmen. Im Anschluss wird er, nach einer erneuten Ruhephase, zusammen mit dem Kipptisch langsam in eine 70°-Position aufgerichtet und durch Haltegurte gesichert. Während der gesamten Untersuchung sollte der Patient entspannen und Gespräche auf ein Minimum reduzieren, aber jegliche Änderungen des Befindens (z. B. Schwindel, Hitzegefühl) mitteilen. Die maximale Untersuchungsdauer in aufrechter Position beträgt 45 Minuten. Die Untersuchung wird beendet, wenn die Symptome unerträglich stark werden oder eine Bewusstlosigkeit auftritt.
Herzfrequenzvariabilität (HFV)
Die Herzfrequenzvariabilität (HFV) ist ein Maß für die Schwankungen in den Zeitintervallen zwischen Herzschlägen. Eine normale HFV zeigt eine gute Anpassungsfähigkeit des autonomen Nervensystems an verschiedene Belastungen. Eine verminderte HFV kann auf eine autonome Dysfunktion hinweisen, wie sie beispielsweise beim Guillain-Barré-Syndrom beobachtet wird.
Tests zur Schweißsekretion
Die Schweißsekretion wird vom sympathischen Nervensystem gesteuert. Tests zur Beurteilung der Schweißsekretion können helfen, Störungen des autonomen Nervensystems zu erkennen.
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Sympathische Hautantwort (SSR)
Bei der Sympathischen Hautantwort (SSR) werden differente Elektroden auf Handinnenflächen bzw. Fußsohlen und indifferente Elektroden auf Hand- bzw. Fußrücken platziert. Ein sensibler Nerv wird stimuliert, und die Latenz der SSR wird gemessen. Normale Latenzwerte betragen <1,9 ms für die Hand und <2,4 ms für den Fuß. Es ist wichtig zu beachten, dass Habituation oder zu niedrige Stimulusintensität falsch-pathologische Befunde ergeben können.
Thermoregulatorischer Schweißtest nach Minor
Bei diesem Test trinkt der Patient 1 l Lindenblütentee + 1 g ASS per os. Anschließend wird die Körperoberfläche mit einer jodhaltigen Tinktur eingepinselt und nach dem Antrocknen mit Kartoffelstärkemehl bepudert. Unter einem Lichtkasten wird die Haut belichtet. Anhidrotische Bezirke bleiben ohne Farbreaktion, während übrige Bezirke blauviolett werden (Jod-Stärke-Reaktion). Dieser Test eignet sich besonders gut zur Beurteilung von Schweißsekretionsstörungen am Rumpf.
Ninhydrintest nach Moberg
Hierbei wird ein Hand- oder Fußabdruck auf Papier erstellt. Das Papier wird in 1 % Ninhydrin in Aceton mit Eisessig eingelegt. Bei in Schweiß vorhandenen Aminosäuren kommt es zu einem Ninhydrinfarbumschlag. Normale Bezirke des Schwitzens verfärben sich violett. Dieser Test ist hilfreich in der Differenzialdiagnose zwischen Plexusläsionen (bei denen sympathische Fasern mitbetroffen sind) und anderen Ursachen.
Quantitativer sudomotorischer Axonreflex-Test (QSART)
Der Quantitative Sudomotorische Axonreflex-Test (QSART) ist ein spezialisiertes Verfahren zur Untersuchung der Schweißdrüsenfunktion. Da das Schwitzen über das autonome Nervensystem gesteuert wird, kann eine gestörte Schweißsekretion auf eine Small Fiber Neuropathie oder andere autonome Funktionsstörungen hinweisen. Bei der QSART-Messung wird die Schweißproduktion an mehreren Körperstellen nach gezielter Nervenstimulation quantitativ erfasst. Im Unterschied zu den galvanischen Untersuchungsmethoden wird die Testantwort beim QSART durch den natürlichen Botenstoff Acetylcholin ausgelöst. Dieser wird an bis zu vier Hautarealen aufgetragen.
QSWEAT (Quantitative Sudomotor Axon Reflex Testung)
Die QSWEAT (Quantitative Sudomotor Axon Reflex Testung) ist ein spezialisiertes Verfahren zur Untersuchung der Schweißdrüsenfunktion und damit ein wichtiger Bestandteil der Diagnostik autonomer Neuropathien. Da das Schwitzen über das autonome Nervensystem gesteuert wird, kann eine gestörte Schweißsekretion auf eine Small Fiber Neuropathie oder andere autonome Funktionsstörungen hinweisen. Bei der QSWEAT-Messung wird die Schweißproduktion an mehreren Körperstellen nach gezielter Nervenstimulation quantitativ erfasst. Diese Untersuchung hilft, das Ausmaß einer autonomen Dysfunktion zu bestimmen und unterstützt die Differenzierung verschiedener Erkrankungen des autonomen Nervensystems.
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Sudoscan und EzScan
Der Sudoscan gibt eine wichtige Kurzinformation über die Schweißdrüsenfunktion (sudomotorische Funktion). Der Test dauert nur etwa 5 Minuten und ermöglicht ein Screening der Funktion von sogenannten Small Fibres in der Haut. Mit dem Sudoscan werden die sudomotorischen Nervenfasern elektrisch stimuliert, welche Signale an die Schweißdrüsen übertragen. In Antwort auf einen einzigen kaum spürbaren elektrischen Reiz an der Hautoberfläche erhalten die Schweißdrüsen das Signal zur Schweißausschüttung. Die entstehende geringfügige Änderung der Hautfeuchtigkeit wird als Hautwiderstandsänderung vom Gerät registriert. Mit einer Weiterentwicklung der Stimulationsmethode, dem EzScan, kann eine Vorhersage getroffen werden, wie hoch das Risiko ist, in den kommenden Jahren an einer stoffwechselbedingten Erkrankung wie Diabetes zu erkranken.
Quantitative sensorische Testung (QST)
Mittels QST kann die Funktion der dünnen Nervenfasern (sog. Small Fibers) untersucht werden, welche insbesondere für die Wahrnehmung von Schmerz- und Temperatur sowie die Steuerung autonomer Funktionen verantwortlich sind. Diese lassen sich durch andere elektrophysiologische Verfahren wie beispielsweise durch Messung der Nervenleitgeschwindigkeit oder somatosensorisch evozierte Potentiale (SEP) nicht erfassen. Durch gezielte Temperaturreize und mechanische Reize (z.B. durch Berührung mit einem Wattebausch oder Pinsel) können Wahrnehmung- und Schmerzschwellen erfasst werden und somit ein gestörtes Temperatur- oder Schmerzempfinden erfasst werden, etwa bedingt durch den Untergang der kleinen Nervenfasern. Die Untersuchung gibt Auskunft über die Funktion des somatosensorischen Systems, also der Gefühlsnerven - von der Funktion der Nervenfasern in den Geweben des Körpers bis zu deren Projektionswegen ins Gehirn. Die QST kann aufzeigen, welche Arten von Nervenfasern geschädigt sind und ob diese Schädigung eher im Gewebe oder zentral in Rückenmark oder Gehirn liegt.
Weitere Untersuchungen
Neben den oben genannten Tests können auch weitere Untersuchungen durchgeführt werden, um die Funktion des autonomen Nervensystems zu beurteilen.
Pupillenfunktion
In einer kurzen Untersuchung wird die Pupillenfunktion geprüft. Dabei werden die Patienten gebeten, auf einen entfernten Punkt zu blicken und dabei nach Möglichkeit nicht zu häufig zu blinzeln. Danach werden mit einem Gerät fünf geringe Lichtreize auf das Auge gegeben und dabei die Geschwindigkeit gemessen, mit der sich die Pupille zunächst verengt und danach wieder erweitert. Die Messung des Pupillen-Licht-Reflexes erlaubt die Beurteilung der Nervenzellen und Nervenfasern, die an der Steuerung des Pupillendurchmessers beteiligt sind, sowie der Muskeln innerhalb des Auges, die zum Zusammenziehen oder zur Erweiterung der Pupille beitragen.
Blasenfunktion
Die Funktion der Harnblase kann mittels Ultraschall und Uroflowmetrie untersucht werden. Wenn die Patienten Harndrang verspüren, wird mittels Ultraschall äußerlich über die Bauchdecke der Füllungszustand der Harnblase aufgezeichnet. Danach werden die Patienten gebeten, in einen Trichter zu urinieren. Über eine elektronische Messvorrichtung wird erfasst, wie viel Urin die Patienten pro Zeiteinheit entleeren können, d.h. wie schnell sie ihre Blase entleeren können. Anschließend erfolgt nochmals die Bestimmung des Füllungszustandes der Harnblase mittels Ultraschall.
Noradrenalin-Messung im Liegen und Stehen
Einige Kreislaufstörungen weisen Veränderungen der Noradrenalinwerte beim Vergleich zwischen Liegen und nach 10-minütiger Stehzeit auf. So sind die Noradrenalinwerte beim sog. hyperadrenergen POTS im Stehen um >600pg/nl erhöht, wohingegen sie bei anderen Formen des POTS oder einer neuropathischen Orthostatischen Hypotonie häufig nicht oder nur sehr gering ansteigen. Daher wird Noradrenalin bei besonderen Fragestellungen im Liegen und nach 10-minütiger Stehzeit untersucht. Die Blutabnahme erfolgt unter standardisierten Bedingungen (nüchtern ohne Medikation oder vorherigen Alkohol/Koffeinkonsum). Hierzu wird die Vene im Liegen punktiert und nach der ersten Blutabnahme erfolgt eine Spülung der Kanüle mit Kochsalz, sodass die Kanüle in der Vene verweilen kann und für die zweite Blutentnahme in der Regel keine erneute Venenpunktion notwendig ist.
Wichtige Hinweise vor der Untersuchung
Vor der autonomen Testung sollten einige wichtige Punkte beachtet werden:
- Medikation: Medikamente, die sich auf das Herzkreislaufsystem auswirken können, sollten vor der Untersuchung vermieden werden. Welche Medikamente dies betrifft, sollte mit dem behandelnden Arzt besprochen werden.
- Nahrung: Mindestens 6 Stunden vor der Untersuchung sollte nichts mehr gegessen werden.
- Getränke: Am Morgen der Untersuchung sollte auf koffeinhaltige Getränke wie Tee, Kaffee und Cola sowie auf Alkohol verzichtet werden.
- Rauchen: Rauchen sollte am Morgen der Untersuchung vermieden werden.
- Kleidung: Bequeme Kleidung und feste Schuhe sollten zur Untersuchung getragen werden.
- Stützstrümpfe/Korsagen: Morgens sollten keine Stützstrümpfe oder Korsagen angezogen werden, falls diese im Alltag getragen werden.
- Infektionen/Fieber/Unterzuckerung: Bei einer schweren Infektion, Fieber oder Unterzuckerung am Tag der Untersuchung sollte diese abgesagt werden.
Autonome Testung bei Multipler Sklerose (MS)
Störungen des autonomen Nervensystems treten häufig bei Patienten mit Multipler Sklerose (MS) auf und können die Lebensqualität der Patienten erheblich einschränken. Parameter, die die Funktion des autonomen Nervensystems beurteilen, können zur Beurteilung der Schwere der Erkrankung beitragen und möglicherweise die Einschätzung der Prognose der Patienten verbessern.
Studien zur autonomen Testung bei MS
Um die klinische Evaluation und die Langzeit-Überwachung von MS-Patienten zu verbessern, ist eine leicht verfügbare standardisierte Batterie autonomer Tests notwendig. Studien untersuchen, ob eine Batterie von leicht durchzuführenden autonomen Tests und Fragebögen dazu geeignet ist, autonome Störungen adäquat zu diagnostizieren, welche zu sekundären Komplikationen, wie etwa kardiovaskulären-, Blasenfunktions-, oder Seh-Störungen führen.
Studienziele
- Korrelationen zwischen autonomen Funktionsparametern und klinischen Parametern des MS-Schweregrades prospektiv über einen Zeitraum von 36 Monaten prüfen.
- Vergleich der klinischen MS-Schwere mit ANS-Funktionen während einer 3-Jahres-Follow-up-Studie unter Verwendung der Expanded Disability Status Scale (EDSS) und des Multiple Sclerosis Functional Composite (MSFC).
- Vergleich der autonom gesteuerten Pupillenfunktion mit dem Fortschreiten der Erkrankung und der Krankheits-Schwere mittels Infrarot-Pupillographie.
- Vergleich kardiovaskulär autonomer Funktionen mit dem Fortschreiten der Erkrankung und der Erkrankungs-Schwere anhand nicht-invasiver Verfahren.
- Vergleich der autonomen Blasenfunktion mit dem Fortschreiten der Erkrankung und der Erkrankungs-Schwere mit Hilfe von Blasen-Sonographie und Uroflowmetrie.
- Vergleich autonomer Sexual-Funktionen mit dem Fortschreiten der Erkrankung und der Erkrankungs-Schwere anhand einer Batterie standardisierter sowie selbst entwickelter Fragebögen.
Autonome Parameter bei MS
- Pupillenfunktion: Lichtreflex-Amplitude, Konstriktions- und Redilatations-Geschwindigkeiten (mittels Infrarot-Pupillographie).
- Kardiovaskuläre Funktionen: Herzfrequenz, kontinuierlicher Blutdruck, Atemfrequenz, Anpassung der Herzfrequenz und des Blutdrucks, autonom-vermittelte spektrale Leistungen der autonomen Modulation in Ruhe, während aktiven Aufstehens, während wiederholter Valsalva-Manöver, während 3-minütiger metronomischer Atmung und während des sustained handgrip Tests.
- Blasenfunktion: Restharnbestimmung (mittels Blasen-Sonographie), Uroflowmetrie-Messung zur Bewertung des Blasenentleerungs-Profils, Fragebogen zur Diagnose von Dranginkontinenz, Detrusor-Hyperreflexie, Detrusor-Sphinkter-Dsyssynergie und Detrusor-Hyporeflexie, Urin-Teststreifen zur Diagnose von Harnwegsinfekten.
- Sexuelle Funktionen: Erhebung der Sexual-Funktionen bei männlichen und weiblichen MS-Patienten anhand einer Batterie standardisierter sowie selbst entwickelter Fragebögen.
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