Ludwig van Beethoven ist eine Ikone der Musikgeschichte, bekannt für seine bahnbrechenden Kompositionen wie die "Schicksalssinfonie" (Anfang mit "Tatatatahhh!") und die "Ode an die Freude". Ein weit verbreitetes Bild des Komponisten ist jedoch, dass er trotz vollständiger Taubheit weiterhin genial komponierte. Diese Vorstellung wird nun durch neue Forschungsergebnisse in Frage gestellt.
Beethovens fortschreitende Schwerhörigkeit
Historische Belege zeigen, dass Beethovens Gehör ab 1798 nachließ. Ab 1816 begann er, Konversationen mit Besuchern schriftlich festzuhalten. Diese "Konversationshefte" dienten als Kommunikationsmittel, in dem Besucher ihre Fragen und Anmerkungen notierten, während Beethoven mündlich antwortete. Das Jahr 1818 gilt gemeinhin als das Jahr, in dem Beethoven sein Gehör fast vollständig verlor.
Die Konversationshefte als Schlüssel zur Wahrheit
Der Musikwissenschaftler Theodore Albrecht von der Kent State University in Ohio hat diese Konversationshefte genauer untersucht. Er übersetzte sie ins Englische und ordnete ihren Inhalt. Dabei entdeckte er Hinweise darauf, dass Beethoven entgegen der landläufigen Meinung nicht vollständig taub war.
Albrecht fand insgesamt 23 Hinweise in den Heften, die belegen, dass Beethoven zumindest bis kurz vor seinem Tod stark schwerhörig war, aber eben nicht komplett taub. So übersetzte Albrecht im Jahr 2010 Heft 28, in dem Beethoven einem Leidensgenossen den Rat gab, mit Hörrohren vorsichtig zu sein, da er sein linkes Ohr durch deren Vermeidung "so ziemlich erhalten" habe.
Weitere Beweise für Beethovens Restgehör
Neben den Konversationsheften gibt es weitere Dokumente, die Albrechts These stützen. Der englische Dirigent Sir George Smart besuchte Beethoven im September 1825 in Wien und notierte in seinem Tagebuch, dass der Komponist noch immer ein wenig hören konnte, wenn man laut nahe seinem linken Ohr sprach. Der Arzt Gerhard von Breuning berichtete, dass Beethoven etwa ein Jahr vor seinem Tod den Schrei einer seiner kleinen Schwestern gehört habe und darüber sehr erfreut gewesen sei.
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Implikationen der neuen Erkenntnisse
Die Erkenntnis, dass Beethoven nicht vollständig taub war, hat weitreichende Implikationen. Sie könnte erklären, wie er bis fast zum Ende seines Lebens weiterhin hochqualitative Kompositionen schuf und diese teilweise sogar selbst dirigierte, wie beispielsweise seine 9. Sinfonie im Jahr 1824.
Die Vorstellung von Beethovens vollständiger Taubheit beruht laut Albrecht auf Aussagen von Leuten, die ihn nicht gut kannten und Umschreibungen wie "komplett taub" oder "stocktaub" verwendeten, weil sie ihn so wahrnahmen. Beethoven war in seinem sozialen Leben zwar schwer eingeschränkt, aber seine technische Kompositionsfähigkeit wurde dadurch nicht wesentlich beeinträchtigt.
Beethovens Leiden unter der Schwerhörigkeit
Trotz der neuen Erkenntnisse über sein Restgehör bleibt Beethovens Leiden unter der Schwerhörigkeit unbestritten. In seinem Heiligenstädter Testament aus dem Jahr 1802 beschreibt er seine Verzweiflung über den fortschreitenden Hörverlust. Er schildert Symptome wie Schwerhörigkeit mit Hochtonverlust und Sprachverständlichkeitsverlust, quälende Ohrgeräusche (Tinnitus), Verzerrungen (Recruitment) und Überempfindlichkeit für Schall (Hyperakusis).
Beethoven zog sich aufgrund seiner Schwerhörigkeit aus der Gesellschaft zurück und litt unter sozialer Isolation. Er hatte sogar Suizidgedanken, wurde aber durch seine Kunst gerettet.
Die medizinischen Ursachen von Beethovens Schwerhörigkeit
Um Beethovens Schwerhörigkeit und spätere Taubheit zu verstehen, ist es wichtig, die Funktionsweise des Ohrs zu kennen. Das Ohr wandelt Schallwellen in elektrische Signale um, die vom Gehirn interpretiert werden. Dieser Prozess hängt von der Funktion der Haarzellen im Innenohr ab.
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Beethovens Symptome deuten darauf hin, dass er unter einem Ausfall der äußeren Haarzellen litt. Diese Zellen sind für die Verstärkung der Schallwellen und die selektive Wahrnehmung von Tonhöhen verantwortlich. Ein Verlust der äußeren Haarzellen führt zu einer verminderten Sprachverständlichkeit und einer Beeinträchtigung der Fähigkeit, Tonhöhen zu unterscheiden.
Die Behandlung von Beethovens Ohrenleiden begann im Jahr 1800. Er unterzog sich verschiedenen Therapien, darunter Mandelöl-Ohrentropfen, Meerrettich-Baumwolle, bestimmte Teesorten und Vesikatorien. Johann Melzel, der Erfinder des Metronoms, versorgte Beethoven 1814 mit einem Hörrohr.
Beethovens kompositorisches Schaffen trotz Schwerhörigkeit
Trotz seiner fortschreitenden Schwerhörigkeit schuf Beethoven weiterhin Meisterwerke. Er komponierte seine Sinfonien, Klaviersonaten und Streichquartette. Seine Fähigkeit, Musik im Kopf zu erschaffen, ermöglichte es ihm, auch ohne perfektes Gehör weiterhin zu komponieren.
Ein wichtiger Aspekt von Beethovens Kompositionsweise war sein musikalisches Gedächtnis. Er hatte in seinen frühen Jahren als Hörender eine umfangreiche musikalische Ausbildung genossen und konnte Töne, Melodie- und Harmonie-Strukturen in seinem Gehirn abspeichern. Dies ermöglichte es ihm, auch in seiner späteren Taubheit weiterhin Musik zu komponieren.
Beethovens Vermächtnis
Ludwig van Beethoven war ein Ausnahmekünstler, der trotz seiner gesundheitlichen Probleme die Musikwelt nachhaltig prägte. Seine Werke sind bis heute unvergessen und werden weltweit aufgeführt. Die neuen Erkenntnisse über sein Restgehör relativieren zwar das Bild des vollständig tauben Komponisten, schmälern aber nicht seine Leistung und seinen Einfluss auf die Musikgeschichte.
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Weitere gesundheitliche Probleme Beethovens
Neben seiner Schwerhörigkeit litt Beethoven auch unter anderen gesundheitlichen Problemen. Er hatte Masern und Pocken, rheumatische Beschwerden, Infekte der Nase, Nasenbluten und Asthma bronchiale. Er war kurzsichtig und litt unter Unterleibskrämpfen und Unterleibserkrankungen.
Eine Haaranalyse ergab, dass Beethoven einen erhöhten Bleigehalt im Körper hatte. Dies könnte auf seinen Alkoholkonsum zurückzuführen sein, da im 19. Jahrhundert dem Wein häufig Blei beigemischt wurde.
Beethovens Tod
Ludwig van Beethoven starb am 26. März 1827 in Wien im Alter von 56 Jahren. Eine Obduktion ergab, dass er an einer Leberzirrhose litt.