Alkoholismus ist eine komplexe Erkrankung, die durch eine Vielzahl neurobiologischer Veränderungen im Gehirn gekennzeichnet ist. Die Disposition zur Alkoholabhängigkeit resultiert nicht aus Willensschwäche oder Genusssucht, sondern oft aus der Fähigkeit, große Mengen Alkohol ohne unangenehme Nebenwirkungen zu konsumieren. Die zunehmende Kenntnis der neurobiologischen Grundlagen der Alkoholabhängigkeit eröffnet neue Möglichkeiten für gezielte medikamentöse Behandlungen in integrierten Therapieprogrammen, um die hohe Rückfallquote zu senken.
Genetische Faktoren und Disposition zur Alkoholabhängigkeit
Studien zeigen, dass genetische Faktoren einen erheblichen Beitrag zur Entwicklung einer Alkoholabhängigkeit leisten. Dieser genetische Einfluss scheint bei Patienten mit besonders schwerem Krankheitsverlauf am stärksten ausgeprägt zu sein und könnte dort bedeutsamer sein als Umwelteinflüsse. Diese Patienten erkranken oft schon vor dem 25. Lebensjahr.
Toleranz gegenüber akuten Alkoholwirkungen
Ein unscheinbareres Merkmal, das maßgeblich an der Disposition zur Alkoholabhängigkeit beteiligt ist, ist eine teilweise genetisch bedingte, schwache Auswirkung akuten Alkoholkonsums. Personen, die akut nur geringe Auswirkungen des Alkohols verspüren, wie Sedierung oder Ataxie, sind besonders gefährdet. Bei diesen Menschen ruft Alkoholkonsum kaum unangenehme Wirkungen hervor, sodass ein natürliches Warnsignal fehlt. Aktuelle Studien deuten darauf hin, dass die erhöhte Alkoholtoleranz Folge einer Unterfunktion der serotonergen Neurotransmission sein könnte, die genetisch bedingt ist oder als Folge früher sozialer Stressbedingungen auftritt.
Einfluss sozialer Isolation
Studien mit Rhesusaffen, die ohne Mütter aufwachsen mussten, zeigten als erwachsene Tiere einen exzessiven Alkoholkonsum. Diese Tiere wiesen eine persistierende serotonerge Funktionsstörung auf, die mit der Schwere der Aggressivität und dem Alkoholkonsum korrelierte. Möglicherweise konsumieren diese Tiere exzessiv Alkohol, weil dessen sedierende Wirkung dem Gefühl der Bedrohung und Angst entgegenwirkt. Auch Adoptionsstudien zeigen, dass Menschen, die in ihrer frühen Kindheit lange in Heimen leben mussten, als Erwachsene häufig exzessiv Alkohol konsumieren und ein erhöhtes Risiko aufweisen, alkoholabhängig zu werden.
Weitere Faktoren
Es ist bekannt, dass weitere individuelle, soziale und kulturelle Faktoren entscheidend zur Entwicklung einer Alkoholabhängigkeit beitragen. Dazu gehören persönliche Einstellungen, kulturelle Trinkgepflogenheiten und Zwänge, das Konflikterleben und andere aktuelle Belastungen.
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Neurobiologische Korrelate des chronischen Alkoholmissbrauchs
In den aktuellen Klassifikationssystemen psychiatrischer Krankheiten wird der Alkoholmissbrauch nicht durch die Menge des konsumierten Alkohols, sondern durch die aufgrund von Alkoholkonsum auftretenden Folgeschäden definiert. Zu diesen zählen körperliche oder seelische Folgeschäden wie beispielsweise eine depressive Episode nach exzessivem Alkoholkonsum.
Alkoholassoziierte Hirnatrophie
Einer der wichtigsten Schäden infolge von Alkoholkonsum ist die alkoholassoziierte Hirnatrophie, die die graue und weiße Substanz betrifft und sich als Ventrikelerweiterung und Verbreiterung der Sulci in bildgebenden Verfahren darstellen lässt. Frauen sind von einer Hirnatrophie stärker betroffen als Männer. Die Hirnatrophie ist im frontalen Kortex und Zerebellum besonders ausgeprägt, findet sich aber auch im anterioren Hippocampus alkoholabhängiger Patienten. Das Ausmaß der alkoholassoziierten Hirnatrophie im frontalen und temporalen Kortex ist klinisch besonders wichtig, da eine Störung der genannten Hirnareale die längerfristige Handlungsplanung und das Arbeitsgedächtnis beeinträchtigen und einen auf kurzfristige Belohnung angelegten Alkoholkonsum verstärken kann. Bei langfristiger Abstinenz bildet sich die Atrophie zumindest partiell zurück.
Aufrechterhaltung der Alkoholabhängigkeit
Zu den Symptomen der Alkoholabhängigkeit zählen die Toleranzerhöhung, Entzugssymptome bei Beendigung des Konsums, ein Verlangen nach Alkohol, die Kontrollminderung beim Alkoholkonsum, ein anhaltender Missbrauch trotz schädlicher Folgen und ein Vorrang des Alkoholkonsums vor anderen Aktivitäten und Verpflichtungen.
Toleranzentwicklung und Entzugssymptomatik
Bedeutsame Merkmale für ein neurobiologisches Verständnis der Alkoholabhängigkeit sind einerseits die zunehmende Toleranz gegenüber den Auswirkungen des exzessiven Alkoholkonsums und das Auftreten von Entzugserscheinungen bei Unterbrechung der Alkoholzufuhr und andererseits eine Sensitivierung gegenüber den verhaltensmodulierenden Wirkungen des Alkoholkonsums. Die Toleranzentwicklung und das Auftreten von Entzugssymptomen wurden von Edwards in das Zentrum des modernen Abhängigkeitskonzepts gesetzt. Um das Konzept der Toleranzentwicklung zu verstehen, muss man sich vergegenwärtigen, dass das Gehirn als autoregulatives Organ auf die Beibehaltung einer Homöostase eingerichtet ist. Wird diese beispielsweise durch die alkoholbedingte Sedierung aus dem Gleichgewicht gebracht, reagiert das Gehirn mit einer gegenregulatorischen Verminderung der GABA-Rezeptoren, über die ein wichtiger Teil der sedativen Wirkungen des Alkohols vermittelt wird. Zudem blockiert Alkohol die Übertragung am glutamatergen NMDA-Rezeptor. Die Kehrseite der Medaille ist die erhöhte Empfindlichkeit gegen eine Unterbrechung der Alkoholzufuhr.
Konditionierter Entzug
Wenn eine Alkoholabhängigkeit eingetreten ist, wird der chronische Alkoholkonsum oft beibehalten, um das Auftreten von unangenehmen und körperlich bedrohlichen Entzugserscheinungen zu vermeiden. Entzugserscheinungen können aber auch als konditionierte Reaktionen auftreten. Dann lösen Umweltreize, die bisher mit dem Alkoholkonsum assoziiert waren, im Organismus die Erwartung aus, dass jetzt der Alkoholkonsum unmittelbar bevorsteht.
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Die Rolle des Belohnungssystems
Unser Gehirn verfügt über ein Belohnungssystem, das angenehme Gefühle vermittelt und unser Verhalten lenkt. Dieses System, das seinen Ursprung in der grauen Vorzeit hat, lenkt uns zu Dingen, die für unser Überleben wichtig sind, wie beispielsweise die Nahrungsbeschaffung. Schmackhafte Nahrung, aber auch so elementare Dinge wie Körperkontakt und Sexualität werden in der Wissenschaft daher als primäre Verstärker bezeichnet.
Entdeckung und Funktion
Die Entdeckung des Belohnungssystems geht zurück auf ein Experiment aus dem Jahre 1954. Tierstudien haben auch zu der Erkenntnis geführt, dass es Belohnungsregelkreisläufe im Gehirn gibt, die vom entwicklungsgeschichtlich alten Mittelhirn ausgehen und unterschiedliche Areale miteinander verbinden. Einer der wichtigsten Botenstoffe in diesen Regelkreisläufen ist der Neurotransmitter Dopamin. Dopamin wird vor allem dann ausgeschüttet, wenn eine Belohnung überraschend kommt oder wenn Reize auftreten, die eine Belohnung anzeigen. Dopamin erzeugt die Vorfreude auf eine Belohnung und die mit der Erwartung einhergehenden positiven Gefühle.
Drogen und das Belohnungssystem
Neben den primären Verstärkern aktivieren Substanzen wie Alkohol, Kokain und andere Drogen ebenfalls das Belohnungssystem. Im Vergleich zu den primären Verstärkern können Drogen eine besonders starke Freisetzung von Dopamin auslösen. Der starke Anstieg der Dopaminausschüttung wird vom Organismus als eine besonders hohe Belohnung wahrgenommen, die „besser ist als erwartet“.
Veränderungen durch Drogenkonsum
Durch wiederholten Drogenkonsum verändert sich die Aktivität des Belohnungssystems. Es reagiert bevorzugt nur noch auf Drogen und andere Reize, die mit Drogenkonsum in Zusammenhang stehen. Während die Aufmerksamkeit der Person sich immer mehr auf die Droge hin ausrichtet, verlieren primäre Verstärker ihren Reiz. In späteren Phasen der Abhängigkeit entwickelt sich schließlich eine starke Verbindung zwischen Drogenreizen und den dazugehörigen Verhaltensreaktionen, die zum Konsum führen. Der Drogenkonsum wird immer mehr zur Gewohnheit, die sich willentlich kaum noch steuern lässt.
Was Alkohol im Gehirn anrichtet
Alkohol und andere Drogen stören die Balance der Neurotransmitter und wirken auf die Informationsübertragung im Gehirn. Alkohol beispielsweise hemmt bestimmte Glutamatrezeptoren, während Substanzen wie Kokain sie blockieren. Allen gemeinsam ist, dass sie Gehirnmasse verändern, das Gehirnvolumen wird kleiner. Alkohol verstärkt die Grundstimmung, in der sich jemand befindet. Ist man also depressiv und trinkt, verbessere das nicht die Laune, sondern verstärke die Depression.
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Auswirkungen auf Jugendliche
Bei Jugendlichen verändern Drogen Wachstumsfaktoren im Gehirn und steuern zum Beispiel die Plastizität. Je früher jemand Drogen konsumiert, umso größere Probleme wird er haben.
Alkohol als Nervengift
Alkohol ist ein Nervengift. Jede Droge kann zu Veränderungen im Körper und im Gehirn führen - in welchem Ausmaß lässt sich nicht pauschal sagen, es hängt unter anderem vom Gesundheitszustand des Einzelnen ab.
Sucht: Warum es uns das Gehirn so schwer macht
Drogenabhängigkeit und andere Süchte belasten Körper und Psyche. Ein wichtiges Kriterium für Suchtverhalten ist aus medizinischer Sicht neben der psychischen und oft auch physischen Abhängigkeit von einer bestimmten Substanz oder einer bestimmten Verhaltensweise die Schädlichkeit für den Einzelnen und sein Umfeld. Überdies entsteht oft ein innerer Druck, welcher Suchtdruck oder fachsprachlich auch Craving genannt wird.
Rolle des Gehirns
Die neuere Forschung betrachtet Sucht auch als körperliche Erkrankung, bei der das menschliche Gehirn im Zentrum steht. Bis heute wird weiter erforscht, warum verschiedene Substanzen oder Verhaltensweisen unterschiedlich schnell süchtig machen oder warum manche Menschen schneller abhängig werden als andere.
Suchtgedächtnis
Unser Gehirn speichert nicht nur schöne Urlaubserinnerungen oder den Geschmack von Lieblingsgerichten. Leider merkt sich das Gehirn auch, welche Stoffe oder Verhaltensweisen zu einer besonderen Belohnung geführt haben. Das Verlangen danach wird stärker, besonders das Vorderhirn wird dabei durch neuronale Anpassungsprozesse nachhaltig verändert. Das enge Zusammenspiel von Reizverarbeitung, Kognition, Gedächtnis und Emotion führen - etwa bei einer Drogenabhängigkeit - zu einem Suchtverhalten, das nach und nach erlernt wird.
Folgen für Betroffene
Je häufiger zum Beispiel Alkohol, illegale Drogen, oder auch Glücksspiel als Problemlöser dienen, desto stärker verfestigen sich diese Verhaltensmuster. Gleichzeitig wird die suchterkrankte Person immer sensibler für Reize, die mit der Aufnahme bestimmter Suchtstoffe in Verbindung stehen. Diese Reize werden auch Trigger genannt.
Behandlung von Suchterkrankungen
Die Therapie einer Suchterkrankung ist abhängig von der Art der Sucht und der Ausprägung bei jedem oder jeder Einzelnen. Entsprechend unterscheiden sich auch die Vorgehensweisen bei einer stoffgebundenen und bei einer Verhaltenssucht. Ein wichtiges Ziel der Behandlung ist, neuen Lebensmut zu bekommen und dank neuer Strategien und Verhaltensmustern abstinent zu bleiben.
Vorzeitiges Altern: Das Gehirn schrumpft
Schon eine Flasche Bier am Tag lässt die graue sowie die weiße Substanz im Gehirn schrumpfen, wenn Sie über einen langen Zeitraum regelmäßig konsumieren. Die Veränderungen, die Alkohol in den Gehirnsubstanzen verursacht, sind jedoch nicht linear: Je mehr man trinkt, desto schneller schrumpft das Gehirn.
Erhöhtes Demenzrisiko
Im Gehirn verursacht ein regelmäßiger Konsum hoher Alkoholmengen außerdem Veränderungen, die das Risiko einer Demenzerkrankung stark erhöhen. Studien zeigen, dass sich das Demenzrisiko deutlich erhöht, wenn man regelmäßig viel Alkohol trinkt. Personen ab 45 Jahren, die mehr als 24 Gramm reinen Alkohol (ca. 250 ml Wein) am Tag trinken, sind besonders gefährdet.
Ursachen und Risikofaktoren für Alkoholabhängigkeit
Eine Alkoholabhängigkeit entwickelt sich schleichend. Jeder Mensch kann durch häufigen Alkoholkonsum allmählich süchtig werden. Die folgenden Faktoren können aus riskanten Trinkgewohnheiten mit der Zeit eine Alkoholabhängigkeit werden lassen:
- Körperliche Gewöhnung
- Entzugssymptome
- Verstärkereffekte
- Soziale Akzeptanz
Symptome einer Alkoholstörung
Entscheidend ist, ob der Alkoholkonsum schon die Gesundheit gefährdet oder bereits Schäden vorliegen. Warnsignale sind beispielsweise, wenn Menschen:
- das Gefühl haben, zu oft oder zu viel zu trinken,
- Schuldgefühle aufgrund des eigenen Alkoholkonsums haben,
- das Gefühl haben, mit dem Trinken nicht mehr aufhören zu können,
- den täglichen Anforderungen nicht mehr nachkommen können,
- jemanden unter Alkoholeinfluss verletzt haben,
- von Dritten auf das eigene Trinkverhalten angesprochen wurden oder
- Zweifel haben, ob sie unter einer Alkoholerkrankung leiden.
Beratung und Hilfen
Jede, die* sich unsicher ist, ob ihr Alkoholtrinken bereits seine Gesundheit gefährdet, kann sich in einer psychotherapeutischen Sprechstunde beraten lassen. Bei einer Alkoholabhängigkeit ist eine intensivere Hilfe notwendig, in der Regel eine Behandlung in einer speziellen Suchtklinik.
Therapie
Die Behandlung beginnt mit dem körperlichen Entzug, der meist in einem Krankenhaus durchgeführt wird. Nach dem Entzug lernt eine Patient*in, dauerhaft keinen Alkohol zu trinken (Abstinenz). Eine solche Entwöhnungsbehandlung dauert in der Regel zwischen acht Wochen und mehreren Monaten und findet in den Rehakliniken der Rentenversicherung statt.
Nachsorge
Auch nach einer Entwöhnung bleibt ein alkoholkranker Mensch noch immer gefährdet. Erfahrungsgemäß dauert es ein weiteres Jahr, bis sie oder er stabil abstinent ist. Deshalb ist es in dieser Zeit ratsam, eine Selbsthilfegruppe zu besuchen und sich auch von einer Psychotherapeutin oder einem Psychotherapeuten weiter behandeln zu lassen.
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