Chorea Huntington (Morbus Huntington, Veitstanz) ist eine autosomal-dominant vererbte, neurodegenerative Erkrankung, die durch den fortschreitenden Untergang von Nervenzellen im Gehirn gekennzeichnet ist. Die Erkrankung manifestiert sich typischerweise im mittleren Erwachsenenalter und führt zu einer Trias aus motorischen, kognitiven und psychiatrischen Symptomen. Ein besonders belastendes Symptom kann Aggressivität sein, welches sowohl für die Betroffenen als auch für ihre Angehörigen eine große Herausforderung darstellt.
Was ist Chorea Huntington?
Die Huntington-Krankheit ist eine genetisch bedingte Erkrankung des zentralen Nervensystems. Sie wird durch eine Mutation im Huntingtin-Gen (HTT) verursacht, das sich auf Chromosom 4 (Genlokus p16.3) befindet. Diese Mutation führt zur Produktion eines abnormalen Proteins, dem Huntingtin-Protein, das sich im Gehirn ansammelt und dort Nervenzellen schädigt. Die Erkrankung wird autosomal-dominant vererbt, was bedeutet, dass bereits ein betroffenes Elternteil ausreicht, um die Krankheit mit einer Wahrscheinlichkeit von 50 % an seine Kinder weiterzugeben.
Benannt wurde die Erkrankung nach dem New Yorker Arzt George Huntington, der das Krankheitsbild 1872 erstmals beschrieb. Der Begriff "Chorea" stammt aus dem Griechischen und bedeutet Tanz, was sich auf die charakteristischen, unwillkürlichen Bewegungsstörungen bezieht.
Ursachen und Vererbung
Ursache der Chorea Huntington ist eine Mutation im Huntingtin-Gen (HTT) auf Chromosom 4. Dieses Gen enthält einen Abschnitt, in dem sich die Basenfolge CAG (Cytosin-Adenin-Guanin) mehrfach wiederholt. Bei gesunden Menschen wiederholt sich diese Sequenz etwa 10 bis 26 Mal. Bei Menschen mit Chorea Huntington ist die Anzahl der CAG-Wiederholungen jedoch deutlich erhöht.
- Wiederholungszahlen und Erkrankungsrisiko:
- 27-35 Wiederholungen: Betroffene erkranken selbst nicht, aber das Erkrankungsrisiko für ihre Kinder ist leicht erhöht (ca. 5 %).
- 36-39 Wiederholungen: Verminderte Penetranz, d.h. nicht alle Betroffenen erkranken. Das Erkrankungsrisiko für Kinder liegt bei 50 %.
- Ab 40 Wiederholungen: Manifeste Erkrankung. Je höher die Anzahl der Wiederholungen, desto früher tritt die Erkrankung auf.
- Ab ca. 60 Wiederholungen: Juvenile Form der Erkrankung mit Beginn vor dem 20. Lebensjahr.
Die erhöhte Anzahl an CAG-Wiederholungen führt zu einer veränderten Form des Huntingtin-Proteins, das toxische Effekte auf die Nervenzellen im Gehirn hat. Besonders betroffen sind die GABAergen Neuronen im Striatum, aber auch andere Hirnregionen wie Thalamus und Kortex werden langfristig geschädigt.
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Die Vererbung der Mutation erfolgt autosomal-dominant. Das bedeutet, dass jedes Kind eines betroffenen Elternteils ein 50%iges Risiko hat, die Mutation zu erben und somit an Chorea Huntington zu erkranken. Bei Vererbung durch den Vater ist die Wahrscheinlichkeit einer stärkeren Zunahme der Triplet-Wiederholungen höher als bei Vererbung durch die Mutter, was zu einem früheren Krankheitsbeginn führen kann.
Symptome von Chorea Huntington
Die Symptome von Chorea Huntington sind vielfältig und können sich von Patient zu Patient unterschiedlich äußern. Typischerweise manifestiert sich die Erkrankung im Alter zwischen 35 und 50 Jahren, wobei es auch juvenile Formen mit einem früheren Beginn gibt. Die Symptome lassen sich in drei Hauptbereiche einteilen:
Motorische Störungen
- Chorea: Unwillkürliche, unkoordinierte Bewegungen der Extremitäten, des Gesichts, des Halses und des Rumpfes. Diese Bewegungen werden oft als "tänzelnd" beschrieben.
- Dystonie: Anhaltende Muskelkontraktionen, die zu abnormalen Körperhaltungen und Bewegungen führen können.
- Bradykinese: Verlangsamung der Bewegungen.
- Rigidität: Muskelsteifheit.
- Okulomotorische Störungen: Probleme mit der Augenbewegung, z.B. vertikale Blickparese.
- Dysarthrie: Sprachstörungen aufgrund von Problemen mit der Artikulation.
- Dysphagie: Schluckstörungen.
Kognitive Störungen
- Exekutive Dysfunktion: Schwierigkeiten bei der Planung, Organisation und Durchführung von Aufgaben.
- Gedächtnisstörungen: Probleme mit dem Kurzzeit- und Langzeitgedächtnis.
- Aufmerksamkeitsdefizite: Schwierigkeiten, die Aufmerksamkeit zu fokussieren und aufrechtzuerhalten.
- Verlangsamte Informationsverarbeitung: Erhöhte Zeit, die benötigt wird, um Informationen zu verarbeiten und darauf zu reagieren.
- Demenz: Im Verlauf der Erkrankung entwickelt sich bei vielen Patienten eine Demenz.
Psychiatrische Störungen
Psychische Veränderungen treten häufig schon früh im Krankheitsverlauf auf, oft sogar vor den motorischen Symptomen. Sie können das Verhalten, die Persönlichkeit und die Stimmung der Betroffenen stark beeinflussen. Zu den häufigsten psychiatrischen Symptomen gehören:
- Depression: Anhaltende Traurigkeit, Interessenverlust, Schlafstörungen und Müdigkeit.
- Reizbarkeit und Aggressivität: Erhöhte Neigung zu Wutausbrüchen, Ungeduld und feindseligem Verhalten.
- Apathie: Mangel an Interesse und Motivation.
- Angststörungen: Übermäßige Sorgen und Ängste.
- Zwangsstörungen: Wiederholte, aufdringliche Gedanken und Verhaltensweisen.
- Psychose: Realitätsverlust mit Halluzinationen und Wahnvorstellungen (seltener).
- Suizidalität: Erhöhtes Risiko für Suizidgedanken und -versuche.
Aggressivität bei Chorea Huntington
Aggressivität ist ein häufiges und oft sehr belastendes Symptom bei Chorea Huntington. Sie kann sich in verschiedenen Formen äußern, von verbalen Ausbrüchen bis hin zu körperlicher Gewalt. Die Ursachen für Aggressivität bei Chorea Huntington sind vielfältig:
- Neurobiologische Veränderungen: Die Schädigung bestimmter Hirnregionen, insbesondere der Basalganglien und des Frontalhirns, kann zu einer verminderten Impulskontrolle und erhöhten Reizbarkeit führen.
- Psychische Faktoren: Depressionen, Angstzustände und Frustration aufgrund der fortschreitenden Erkrankung können Aggressivität verstärken.
- Soziale Faktoren: Stress, Überforderung und mangelnde Unterstützung können ebenfalls zu aggressivem Verhalten beitragen.
- Medikamentöse Nebenwirkungen: Einige Medikamente, die zur Behandlung anderer Symptome eingesetzt werden, können Aggressivität als Nebenwirkung haben.
Umgang mit Aggressivität
Der Umgang mit Aggressivität bei Chorea Huntington erfordert ein umfassendes und individuelles Behandlungskonzept. Wichtig ist, die Ursachen der Aggressivität zu erkennen und gezielt anzugehen. Folgende Maßnahmen können hilfreich sein:
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- Medikamentöse Therapie:
- Neuroleptika (Antipsychotika): Können helfen, Aggressivität und Reizbarkeit zu reduzieren. Es ist wichtig, das richtige Medikament und die richtige Dosierung zu finden, da einige Neuroleptika auch unerwünschte Nebenwirkungen haben können. Beispiele sind Haloperidol, Olanzapin, Aripiprazol, Risperidon, Quetiapin, Clozapin und Amisulprid. Bei der Wahl des Medikaments sollten mögliche extrapyramidalmotorische Nebenwirkungen berücksichtigt werden, insbesondere bei Patienten mit Bradykinese.
- Antidepressiva (SSRI): Können bei Depressionen und Angstzuständen helfen, die Aggressivität verstärken können.
- Anxiolytika: Können bei Angstzuständen und Unruhe helfen.
- Nicht-medikamentöse Therapie:
- Psychotherapie: Kann den Betroffenen helfen, mit ihren Emotionen umzugehen, Stress abzubauen und konstruktive Konfliktlösungsstrategien zu entwickeln.
- Ergotherapie: Kann helfen, die Selbstständigkeit im Alltag zu erhalten und Frustrationen zu reduzieren.
- Logopädie: Kann bei Sprach- und Schluckstörungen helfen, die zu Frustration und Aggressivität führen können.
- Physiotherapie: Kann die körperliche Fitness verbessern und Stress abbauen.
- Sozialberatung: Kann bei der Bewältigung finanzieller und sozialer Probleme helfen.
- Umfeldgestaltung:
- Routinen und Strukturen: Ein strukturierter Tagesablauf kann Sicherheit und Orientierung geben und Stress reduzieren.
- Reizarme Umgebung: Vermeiden Sie übermäßige Reize wie Lärm, Hektik und grelles Licht.
- Sichere Umgebung: Schaffen Sie eine sichere Umgebung, in der sich der Betroffene frei bewegen kann, ohne sich zu verletzen.
- Kommunikation: Kommunizieren Sie klar, ruhig und respektvoll. Vermeiden Sie es, den Betroffenen zu kritisieren oder zu beschuldigen.
- Unterstützung für Angehörige:
- Selbsthilfegruppen: Bieten eine Möglichkeit, sich mit anderen Betroffenen auszutauschen und Unterstützung zu erhalten.
- Psychologische Beratung: Kann Angehörigen helfen, mit den Belastungen der Pflege umzugehen und Strategien für den Umgang mit aggressivem Verhalten zu entwickeln.
- Entlastungsangebote: Nutzen Sie Entlastungsangebote wie Tagespflege oder Kurzzeitpflege, um sich eine Auszeit von der Pflege zu gönnen.
Es ist wichtig zu beachten, dass die Behandlung von Aggressivität bei Chorea Huntington ein langfristiger Prozess ist, der Geduld und Ausdauer erfordert. Es gibt keineStandardlösung, und es kann notwendig sein, verschiedene Strategien auszuprobieren, um die beste Vorgehensweise für den einzelnen Patienten zu finden.
Diagnose
Die Diagnose von Chorea Huntington basiert auf einer Kombination aus klinischer Untersuchung, Familienanamnese und genetischer Testung.
- Klinische Untersuchung: Der Arzt führt eine neurologische Untersuchung durch, um die motorischen, kognitiven und psychiatrischen Symptome zu beurteilen. Dabei kann die Unified Huntington’s Disease Rating Scale (UHDRS) verwendet werden, um den Schweregrad der Erkrankung zu erfassen.
- Familienanamnese: Eine detaillierte Familienanamnese ist wichtig, um festzustellen, ob andere Familienmitglieder von der Erkrankung betroffen sind.
- Genetische Testung: Die molekulargenetische Untersuchung dient dem Nachweis der Mutation im Huntingtin-Gen. Dabei wird die Anzahl der CAG-Wiederholungen bestimmt. Die genetische Testung kann auch präsymptomatisch durchgeführt werden, um festzustellen, ob eine Person die Mutation trägt, bevor Symptome auftreten. Dies ist jedoch mit ethischen Fragen verbunden und sollte nur nach ausführlicher Beratung erfolgen.
- Bildgebung: In der zerebralen Bildgebung (cMRT oder cCT) kann eine Atrophie des Nucleus caudatus nachgewiesen werden. Auch eine Verbreiterung der Rindenfurchen kann als Zeichen der Hirnatrophie sichtbar sein. Die Bildgebung dient auch dem Ausschluss anderer Erkrankungen, die ähnliche Symptome verursachen können.
Therapie
Bislang gibt es keine Heilung für Chorea Huntington. Die Behandlung zielt darauf ab, die Symptome zu lindern und die Lebensqualität der Betroffenen so lange wie möglich zu erhalten. Die Therapie umfasst in der Regel eine Kombination aus medikamentösen und nicht-medikamentösen Maßnahmen.
Medikamentöse Therapie
- Hyperkinesen: Zur Behandlung der unwillkürlichen Bewegungen können Tiaprid (ein D2/D3-Dopaminrezeptor-Antagonist) und Tetrabenazin eingesetzt werden. Tetrabenazin gilt aufgrund der Studienlage als Mittel der Wahl, kann jedoch Depressionen verstärken. Alternativ können auch Antipsychotika wie Olanzapin oder Haloperidol eingesetzt werden.
- Dystonien: Die Therapie von Dystonien ist schwierig. Tetrabenazin in niedriger Dosierung, Amantadin, Baclofen, Tizanidin und Clonazepam können versucht werden.
- Bradykinesen und Rigidität: In einzelnen Fällen kann eine Besserung unter L-Dopa, Amantadin oder Pramipexol erreicht werden. Dopaminagonisten können insbesondere bei der Westphal-Variante eingesetzt werden.
- Depressionen und Apathie: Depressionen werden nach den üblichen psychiatrischen Therapierichtlinien behandelt, wobei MAO-Hemmer vermieden werden sollten. SSRI (insbesondere Venlafaxin) scheinen bei schweren Depressionen wirksam zu sein. Bei leichten Depressionen kann Sulpirid eingesetzt werden. Bei Schlafstörungen können Mirtazapin oder Melatonin eingesetzt werden. Bislang gibt es keine evidenzbasierte Therapie für Apathie.
- Psychosen: Antipsychotika wie Haloperidol, Olanzapin, Aripiprazol, Risperidon, Quetiapin, Clozapin und Amisulprid können eingesetzt werden. Clozapin kann aufgrund fehlender extrapyramidalmotorischer Nebenwirkungen bei schweren Psychosen in Betracht gezogen werden, insbesondere bei bradykinetisch-juvenilen Patienten.
- Demenz: Bislang gibt es keine validen Behandlungsempfehlungen für Demenz bei Chorea Huntington. Cholinesterase-Inhibitoren sind nicht wirksam.
Nicht-medikamentöse Therapie
- Ernährung: Patienten mit Chorea Huntington haben einen erhöhten Kalorienbedarf und benötigen möglicherweise eine hochkalorische Ernährung mit sechs bis acht Mahlzeiten am Tag. Bei Schluckstörungen kann das Andicken von Flüssigkeiten hilfreich sein. In schweren Fällen kann eine PEG-Sonde erforderlich sein.
- Psychosoziale Maßnahmen: Psychologische, psychosoziale, krankengymnastische, ergotherapeutische und logopädische Betreuung sind wichtig. Krankengymnastik kann die Gangsicherheit verbessern.
Verlauf und Prognose
Chorea Huntington ist eine fortschreitende Erkrankung, die im Laufe der Zeit zu einer zunehmenden Beeinträchtigung der motorischen, kognitiven und psychiatrischen Funktionen führt. Die Lebenserwartung ist verkürzt, wobei die häufigsten Todesursachen Lungenentzündungen, andere Infektionen, Stürze und Suizid sind.
Der Verlauf der Erkrankung kann jedoch von Patient zu Patient sehr unterschiedlich sein. Einige Patienten erleben einen raschen Fortschritt, während andere über viele Jahre hinweg relativ stabil bleiben. Die Anzahl der CAG-Wiederholungen im Huntingtin-Gen korreliert invers mit dem Erkrankungsalter und der Geschwindigkeit des Fortschreitens.
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Leben mit Chorea Huntington
Das Leben mit Chorea Huntington stellt Betroffene und ihre Angehörigen vor große Herausforderungen. Es ist wichtig, sich frühzeitig mit der Erkrankung auseinanderzusetzen und sich professionelle Hilfe und Unterstützung zu suchen.
- Frühzeitige Diagnose: Eine frühzeitige Diagnose ermöglicht es, den Krankheitsverlauf zu verlangsamen und gezielte Therapien einzuleiten.
- Interdisziplinäre Betreuung: Die Betreuung durch ein interdisziplinäres Team aus Neurologen, Psychiatern, Psychologen, Therapeuten und Sozialarbeitern ist entscheidend, um die verschiedenen Aspekte der Erkrankung zu behandeln.
- Selbsthilfegruppen: Der Austausch mit anderen Betroffenen und Angehörigen in Selbsthilfegruppen kann sehr hilfreich sein.
- Anpassung des Lebensstils: Eine gesunde Ernährung, regelmäßige Bewegung und ausreichend Schlaf können dazu beitragen, die Symptome zu lindern und die Lebensqualität zu verbessern.
- Hilfsmittel: Im fortgeschrittenen Stadium der Erkrankung können Hilfsmittel wie Rollstühle, Gehhilfen und Kommunikationshilfen die Selbstständigkeit erhalten.
- Vorsorge: Es ist wichtig, frühzeitig Vorsorgemaßnahmen zu treffen, wie z.B. die Erstellung einer Patientenverfügung und die Regelung finanzieller Angelegenheiten.
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