Das Absolute Gehör: Definition, Merkmale und Kontroversen

Das absolute Gehör, auch Tonhöhengedächtnis genannt, ist eine faszinierende Fähigkeit, die es einer Person ermöglicht, Töne präzise zu identifizieren und zu benennen, ohne auf einen Referenzton angewiesen zu sein. Diese Fähigkeit ist selten und wirft viele Fragen auf, von ihrer Definition und den zugrunde liegenden Mechanismen bis hin zu ihrer Bedeutung und den Möglichkeiten, sie zu erlernen.

Was ist das absolute Gehör? Eine Definition.

Eine Person mit absolutem Gehör kann einen gehörten Ton ohne Vergleich zu anderen Tönen exakt bestimmen und ihn innerhalb eines Notensystems einordnen. Ein Absoluthörer kann beispielsweise sofort erkennen, ob er ein G, ein Gis oder ein A hört. Im Gegensatz dazu benötigen Menschen mit relativem Gehör, das viel häufiger vorkommt, einen Bezugston, um die Tonhöhe eines Tons zu bestimmen.

Man unterscheidet zwischen passivem und aktivem absolutem Gehör. Passive Absoluthörer können "nur" die Tonhöhe eines Tons angeben. Aktive Absoluthörer können zusätzlich gewünschte Töne auf Kommando singen. Sänger besitzen oft unbewusst ein absolutes Gehör und können beispielsweise den Anfang einer Melodie korrekt singen, ohne die entsprechenden Töne benennen zu können. Einige Personen, die über Jahre ein Instrument spielen, können einen oft genutzten Stimmton (z. B. a oder d) ohne Hilfsmittel singen.

Absolute vs. relatives Gehör

Der Hauptunterschied zwischen absolutem und relativem Gehör liegt in der Notwendigkeit eines Referenztons. Während Absoluthörer Töne direkt erkennen, benötigen Relativhörer einen Referenzton, um Intervalle und Tonhöhen zu bestimmen. Mit einem trainierten relativen Gehör lassen sich Melodien leichter nachsingen, was für Musiker unerlässlich ist, die "nach Gehör" spielen.

Verbreitung des absoluten Gehörs

In Europa ist diese Fähigkeit sehr selten. Weniger als 0,001 % der europäischen Bevölkerung besitzen ein echtes absolutes Gehör. In Asien und Afrika ist es jedoch weit verbreiteter. Dort ist jeder Zweite ein Absoluthörer. Forschern zufolge hängt dies mit den dort gesprochenen Sprachen zusammen, die meist sehr tonal sind. Das bedeutet, dass demselben Laut in einer anderen Tonhöhe eine völlig andere Bedeutung zugewiesen wird. Mit dem Erlernen einer tonalen Sprache wird also bereits im frühesten Kindesalter die Tonhöhenerkennung geschult.

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Die Wissenschaft hinter dem absoluten Gehör

Neurologische Grundlagen

Das Rätsel, wie einige Musiker einen Ton ohne einen Referenzton identifizieren können, wurde teilweise gelöst. Eine spezielle Region des Gehirns, das Planum temporale, scheint bei Menschen mit absolutem Gehör vergrößert zu sein. Bei diesen Personen werden die Nerven in diesem Hirnbereich aktiviert, während sie eine Note identifizieren. Bei Menschen mit normalem Gehör ist dieser Bereich inaktiv, wenn sie versuchen, dieselbe Aufgabe zu meistern.

Robert J. Zatorre und seine Kollegen von der McGill University in Montreal, Kanada, benutzten die Positronenemissionstomographie (PET) zur Aufzeichnung der Gehirnaktivität, während Probanden auf Töne lauschten und versuchten, sie zu benennen. Während des Hörvorgangs war kein Unterschied zwischen Menschen mit und ohne absolutem Gehör zu erkennen. Als die Freiwilligen jedoch versuchten, die Töne zu benennen, wurde das Planum temporale nur bei denjenigen mit absolutem Gehör aktiviert. Die Größe dieser Region scheint mit der Fähigkeit zu korrelieren, einen Ton korrekt zu identifizieren.

Genetische und umweltbedingte Faktoren

Die Frage, ob das absolute Gehör angeboren oder erworben ist, ist noch nicht vollständig geklärt. Einige Studien deuten auf eine genetische Komponente hin, da das absolute Gehör in manchen Familien gehäuft auftritt. Andere Studien betonen die Bedeutung der frühkindlichen musikalischen Ausbildung. Kinder, die vor dem Alter von vier Jahren mit dem Musikunterricht beginnen, haben eine höhere Wahrscheinlichkeit, ein absolutes Gehör zu entwickeln.

Diana Deutsch vermutet, dass bei Menschen mit absolutem Gehör im musikalischen Sinn die Phase des absoluten Hörens bis in ein Alter andauerte, in dem sie bereits Musikunterricht genommen hatten. Eine Studie der Universität San Francisco bestätigte diese Annahme, indem sie 600 Musiker nach ihrem Werdegang befragte. Vierzig Prozent aller Musiker, die bereits mit vier Jahren mit der musikalischen Ausbildung begonnen hatten, hörten absolut. Hatten sie dagegen erst mit neun Jahren mit dem Musizieren begonnen, waren es nur noch drei Prozent.

Der Einfluss der Sprache

Versuche von Deutsch und ihren Kollegen mit Menschen, die Tonsprachen sprechen, deuten auf einen engen Zusammenhang zwischen Sprachentwicklung und dem Gedächtnis für Töne hin. In Tonsprachen wie Mandarin entscheidet der Tonhöhenverlauf oder die Tonhöhe selbst über die Bedeutung eines Wortes. Die Psychologen stellten fest, dass Mandarin sprechende Versuchspersonen ihren Wortschatz ebenfalls in absoluten Tonhöhen gespeichert hatten. Da diese Fähigkeit für den Gebrauch ihrer Sprache nützlich war, ist sie ihnen über ihre Kindheitsjahre hinaus erhalten geblieben.

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Kann man das absolute Gehör erlernen?

Bis zum Alter von circa vier Jahren wird der Gehirnteil, welcher für das Hören zuständig ist, entwickelt. Somit können Kinder bis vier Jahre mit einer musikalischen Ausbildung das Tonhöhenerkennen erlernen. Für Jugendliche und Erwachsene ist es fast nicht möglich, ein perfektes absolutes Gehör zu erlernen, auch wenn bestimmte Tonklänge durch Auswendiglernen erkannt werden können. Einige Neurowissenschaftler vermuten, dass die frühe musikalische Ausbildung eine funktionelle Umstrukturierung des Hörzentrums im Gehirn fördern kann.

Eine Studie zum Erlernen des absoluten Gehörs basiert auf dem Zusammenhang von absolutem Gehör und dem auditiven Arbeitsgedächtnis im Gehirn. In einem achtwöchigen Lernprogramm mussten normal hörende Teilnehmende Noten nach dem Hören lernen und identifizieren. Einige Monate später konnten sie die Noten zwar nicht mehr so gut erkennen, aber immer noch besser als vor dem Training. Keiner erreichte allerdings das Niveau von Personen, die seit ihrer Kindheit über ein absolutes Gehör verfügen.

Das absolute Gehör im Alter

Humangenetiker, Epidemiologen und Psychiater der Universität von Kalifornien in San Francisco berichten, dass sich das absolute Gehör mit zunehmendem Alter verstimmt und die Töne höher erscheinen, als sie wirklich sind. In einem Test spielten die Forscher 981 Probanden mit absolutem Gehör 36 Töne vor. Je älter die Teilnehmer waren, desto mehr Fehler machten sie. Sie schätzten die gehörten Töne häufig zu hoch ein.

Der Grund sei, dass die Basilarmembran im Ohr mit zunehmendem Alter elastischer werde. Dadurch lenkt ein Ton mit 440 Schwingungen pro Sekunde Härchen aus, die zuvor erst bei 460 Hertz erregt wurden. "Diese Härchen sind jedoch nach wie vor mit derselben Region im Gehirn verbunden, die für 460 Hertz steht", sagt der Neuropsychologe Lutz Jäncke von der Universität Zürich: "Dass die Haarzelle verrutscht ist, weiß das Gehirn nicht."

Vor- und Nachteile des absoluten Gehörs

Vorteile

  • Präzise Tonerkennung: Absoluthörer können Töne ohne Referenzton exakt bestimmen.
  • Schnelle Tonverarbeitung: Das Gehirn von Absoluthörern erfasst Töne und Tonhöhen sehr viel schneller.
  • Vorteile beim Musizieren: Ein absolutes Gehör kann beim Anstimmen von Liedern in der richtigen Tonlage hilfreich sein.

Nachteile

  • Erhöhte Sensibilität: Viele Menschen mit absolutem Gehör reagieren empfindlich auf "unsaubere" Töne wie ein verstimmtes Instrument.
  • Beeinträchtigung des Zusammenspiels: Bei professionellen Musikern kann ein absolutes Gehör schlimmstenfalls dazu führen, dass ihre Fähigkeit zum Zusammenspiel darunter leidet.
  • Verstimmung im Alter: Mit zunehmendem Alter kann sich das absolute Gehör verstimmen und die Töne höher erscheinen, als sie wirklich sind.
  • Mögliche Verbindung zum Autismus-Spektrum Einige Forscher haben eine mögliche Verbindung zwischen absolutem Gehör und dem Autismus-Spektrum spekuliert, da Absoluthörer oft detailorientiert sind und Schwierigkeiten mit der Integration von Informationen haben. Studien haben gezeigt, dass Absoluthörende mehr autistische Merkmale aufweisen als Relativhörende.

Berühmte Persönlichkeiten mit absolutem Gehör

Einige berühmte Musiker, denen ein absolutes Gehör nachgesagt wird, sind:

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  • Wolfgang Amadeus Mozart
  • Ludwig van Beethoven
  • Johann Sebastian Bach
  • Jimi Hendrix

Es ist jedoch wichtig zu beachten, dass nicht alle musikalisch begabten Menschen ein absolutes Gehör besitzen. Komponisten wie Wagner und Schumann verfügten beispielsweise nicht darüber.

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