Die moderne Gesellschaft stellt unser Gehirn vor enorme Herausforderungen. Leistungsdruck, ständige Erreichbarkeit und eine Flut von Informationen führen dazu, dass viele Menschen sich chronisch erschöpft fühlen. In seinem Buch "Das erschöpfte Gehirn" geht Dr. med. Michael Nehls den Ursachen dieser mentalen Erschöpfung auf den Grund und zeigt, wie wir dem entgegenwirken können. Das Buch, veröffentlicht unter anderem im Heyne Verlag Neumarkter Str., hat seit seinem Erscheinen viele Leserinnen und Leser gefesselt und zu Diskussionen angeregt.
Einleitung: Die erschöpfte Gesellschaft
Jeder kennt das Gefühl, dass es nach einem langen Tag schwerfällt, sich zu konzentrieren, schwierige Entscheidungen zu treffen oder sich in andere hineinzuversetzen. Wir leben in einer Gesellschaft, in der die Kapazität unseres Gehirns scheinbar ständig am Limit ist. Laut Dr. Nehls schrumpft seit Jahren die Kapazität unseres mentalen Akkus. Bewegungsmangel, falsche Ernährung, schädliche Stoffe in der Umwelt, fehlende oder schädliche soziale Interaktion und digitale Dauerbeschallung tragen dazu bei, dass die Leistung unseres Gehirns immer weiter abnimmt.
Die Suche nach der Quelle der mentalen Energie
Dr. Nehls begibt sich auf die Suche nach der Quelle unserer mentalen Energie. Er zeigt, wo unser "Hirn-Akku" sitzt, welche Funktion ihm innerhalb unseres Gehirns zukommt und was das für unser Denken bedeutet. Er beschreibt, welche fatalen Folgen ein schrumpfender mentaler Akku für uns, unsere Gesellschaft und zukünftige Generationen haben kann - und wie wir dem entgegenwirken können.
Das Frontalhirn als Exekutivzentrale
Das Frontalhirn beherbergt die Exekutivzentrale unseres Gehirns. Sie reagiert auf die Umwelt und verändert sie zugleich, indem sie Ideen generiert, Entscheidungen trifft und sie umsetzt. Hierfür nutzt sie zwei unterschiedliche Denksysteme: System I, das schnelle Denken, umfasst das "Abspulen" von erlernten Verhaltensweisen. Damit sind wir zwar reaktionsschnell, machen aber auch leicht Fehler, wenn wir vor völlig neuen Aufgaben stehen. Solche Fehler zu vermeiden ist Aufgabe von System II, dem langsamen Denken, bei dem wir tatsächlich nachdenken.
System I und System II: Zwei Denksysteme im Vergleich
System-II-Denken erfordert viel mentale Energie. Da diese limitiert ist, schaltet unser Gehirn System II nur im Bedarfsfall ein. Für die Entdeckung dieser komplementären Denksysteme wurde im Jahr 2002 der Wirtschaftsnobelpreis verliehen. Bisher war jedoch nicht bekannt, woraus die mentale Energie besteht, die System II benötigt, was sie limitiert und wie sie sich regeneriert.
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Der Hippocampus als Frontalhirn-Akku
Dr. Nehls zeigt, dass das langsame System-II-Denken auf schnell lernenden Synapsen basiert, über die nur der Hippocampus, unser episodischer Gedächtnisspeicher, verfügt. Dieser ist auf eine "Tagesladung" an Informationsspeicherung limitiert, weil er sich im nächtlichen Tiefschlaf regenerieren muss. Diese und einige weitere Kriterien machen den Hippocampus zum besten Kandidaten für den "Frontalhirn-Akku".
Die Auswirkungen einer artfremden Lebensweise
Unsere zunehmend artfremde Lebensweise hemmt die nächtliche Regeneration des Hippocampus und insbesondere sein natürliches, lebenslanges Wachstum. Dies führt dazu, dass es immer mehr Menschen schwerfällt, lebensnotwendige Veränderungen ihres Lebensstils umzusetzen, die richtigen Entscheidungen zu treffen oder diese dann oft nicht umzusetzen.
Zivilisationskrankheiten als Folge menschlichen (Fehl-)Verhaltens
Nicht nur die Zerstörung unserer Umwelt und damit der Lebensgrundlage zukünftiger Generationen ist immer mehr Folge menschlichen (Fehl-)Verhaltens. Auch nahezu alle sogenannten Zivilisationskrankheiten wie Diabetes, Arteriosklerose, Schlaganfall, Herzinfarkt, Alzheimer und viele Arten von Krebs sind weitgehend eine Konsequenz individueller Lebensweisen. Trotz eindeutiger Erkenntnislage führen aber diese Krankheiten nur in seltenen Fällen zu adäquaten Verhaltensänderungen.
Die Angst vor Veränderung
Bewusste Veränderung erfordert ein auf Wissen oder Erfahrung basierendes Überdenken verschiedener Optionen, um alternative Entscheidungen treffen zu können und entsprechend zu handeln. Doch bei immer mehr Menschen herrscht eine Angst vor Neuem und damit auch vor abweichendem Verhalten vom Gewohnten, auch wenn dieses dringend erforderlich wäre. Selbst wenn die Notwendigkeit zu einer Veränderung als unabdingbar erkannt wird, mangelt es häufig an Willensstärke bei der Umsetzung.
Die Natur der mentalen Energie
Die Angst vor Veränderung zu überwinden, benötigt mentale Energie, die offensichtlich viel zu oft nicht aufgebracht werden kann. Bei der Beantwortung der Frage, welche Form von Energie unsere Exekutivzentrale benötigt, hilft uns die Erkenntnis, dass sie zwei unterschiedliche Denksysteme nutzt, System I und System II.
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System I: Das "Abspulen" erlernter Verhaltensweisen
System I entspricht dem "Abspulen" von erlernten, repetitiven Verhaltensweisen, also der Dinge, die wir tagtäglich tun, ohne noch groß darüber nachzudenken. Es umfasst das gesamte Repertoire an stereotypen Denk- und Verhaltensmustern. Diese sind gewissermaßen reine kortikale Reflexe. Sie erfordern in der Regel wenig Konzentration und deshalb auch so gut wie keine mentale Energie. Deshalb kann System I als Default unseres Denkapparats ständig aktiv sein.
System II: Das langsame, nachdenkende System
Um Herausforderungen adäquat zu meistern, nutzt unsere Exekutivzentrale das langsamere, nachdenkende System II. System-II-Denken ist anstrengend und benötigt viel mentale Energie. Diese ist jedoch limitiert, weshalb unser Gehirn System II nur im Bedarfsfall einschaltet.
Die Rolle des Hippocampus bei der Speicherung von Gedanken
Die Nutzung von System II erfordert ein schnelles und effizientes Abspeichern unserer Gedanken. Dafür ist der Hippocampus zuständig. Es ist zu vermuten, dass eine intensive Nutzung von System II den Speicherplatz des Hippocampus an seine Grenzen bringt, schließlich ist seine Aufnahmekapazität limitiert. Je größer sein Volumen, desto mehr Kapazität besitzt sein Speicher.
Die Regeneration des Frontalhirn-Akkus im Tiefschlaf
Wenn es sich beim Hippocampus tatsächlich um den gesuchten Frontalhirn-Akku handelt, dann besteht seine Energie aus den zur Speicherung unserer System-II-Gedanken noch freien hippocampalen Synapsen. Diese sind direkt über einen "Informations-Highway", die superschnellen Von-Economo-Neurone (VENs), mit dem Frontalhirn verbunden. Die freien hippocampalen Synapsen werden durch die gespeicherten Gedanken besetzt. Im Tiefschlaf lädt sich der Akku wieder auf, indem die hippocampal zwischengespeicherten Gedanken auf die neokortikale "Festplatte" übertragen werden, wodurch die hippocampalen Synapsen wieder frei sind für neue System-II-Gedanken.
Die Bedeutung der adulten hippocampalen Neurogenese
Unzählige Studien zeigen, dass wir das genetische Potenzial besitzen, die Speicherkapazität des Hippocampus lebenslang zu steigern. Tatsächlich verfügt er als einzige Hirnregion über die Fähigkeit, bis ins hohe Alter täglich Tausende neuer Hirnzellen zu produzieren. Dieser als adulte hippocampale Neurogenese bezeichnete Vorgang ist von weitreichender Bedeutung, sowohl für uns als Individuen als auch für die Menschheit als Ganzes.
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Die Lebensbedingungen der Altsteinzeit als Vorbild
Unter den Lebensbedingungen in der sehr langen altsteinzeitlichen Phase als Fischer und Sammler entwickelte das Gehirn des Homo sapiens seine höchste Leistungsfähigkeit. Hoher sozialer Selektionsdruck, kombiniert mit einer für das Hirnwachstum optimalen Ernährung, erwirkte letztendlich eine genetische Anpassung an diese geistfördernden Lebensumstände: Pescetarische Ernährung, körperliche Aktivität, soziales Miteinander und einige andere Bedingungen wurden zu Notwendigkeiten, die auch heute noch erfüllt sein müssen, damit sich unser Frontalhirn-Akku optimal entwickeln und lebenslang weiter seine Kapazität steigern kann.
Die moderne Lebensweise als Risikofaktor
Allerdings weicht unsere moderne Lebensweise in allen Lebensbereichen in erheblichem Maß von dem ab, was unser Gehirn zur Entfaltung und Aufrechterhaltung dieser Funktionen benötigt. Dazu gehört ein verbreiteter Mangel an essenziellen Nährstoffen, an körperlicher Aktivität, an ausreichend Tiefschlaf, an sozialen Interaktionen und sogar an Lebenssinn. Hinzu kommt oft ein Zuviel an Stress und an gehirnschädigenden Giftstoffen wie Alkohol, Feinstaub, ungesunden Fetten, Zucker etc.
Die Folgen einer chronischen Ego-Depletion
Infolge einer mittlerweile nahezu völlig artfremden Lebensweise erreicht der Frontalhirn-Akku schon in der Kindheit nicht mehr seine genetisch mögliche Kapazität. Durch die verminderte adulte hippocampale Neurogenese bei gleichzeitig erhöhter Neurodegeneration verliert der Frontalhirn-Akku beim "normalen" Erwachsenen im Durchschnitt 0,8 bis 1,4 % pro Jahr an Volumen und somit an Speichervermögen. Eine von vornherein unterentwickelte und sich im Laufe des Lebens immer weiter abbauende Speicherkapazität des Frontalhirn-Akkus könnte somit die Ursache einer chronischen Ego-Depletion in der breiten Bevölkerung sein - mit dem Resultat einer dauererschöpften Gesellschaft.
Kritik und Diskussion
Obwohl das Buch viele Leserinnen und Leser begeistert hat, gibt es auch kritische Stimmen. Einige bemängeln die polemischen Formulierungen des Autors, insbesondere wenn er politische oder gesellschaftliche Themen anspricht. Andere sehen die dystopischen Szenarien, die Nehls im letzten Kapitel zeichnet, als zu einseitig und subjektiv an.
Eileen Dierner merkt in ihrer Rezension an, dass der Autor sich in vielen Aspekten gegen die Digitalisierung, KI und moderne Technologie an sich ausspricht. Während er für seinen Fachbereich schlüssige Argumente dafür bringt, findet sie seinen Standpunkt zu pessimistisch. Sie betont, dass die Digitalisierung Vorteile bringen kann, wenn sie richtig genutzt wird.
Trotz dieser Kritikpunkte bleibt "Das erschöpfte Gehirn" ein wichtiges Buch, das zum Nachdenken anregt und wertvolle Einblicke in die Funktionsweise unseres Gehirns und die Auswirkungen unserer Lebensweise bietet.
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