Das Gehirn hat sich selbst Gehirn genannt: Herkunft und Funktionsweise eines komplexen Organs

Das menschliche Gehirn ist das komplexeste Organ, das die Natur je hervorgebracht hat. Mit seinen 100 Milliarden Nervenzellen und einem Vielfachen davon an Kontaktpunkten übertrifft es selbst die Fähigkeiten moderner Supercomputer. Es steuert Wahrnehmungen, Handlungen, Gedanken, Gefühle und sogar unseren Charakter. Die Hirnforschung hat in den letzten Jahren enorme Fortschritte gemacht, um die Funktionsweise dieses komplexen Organs zu entschlüsseln.

Methoden der Hirnforschung

Um den Geheimnissen des Gehirns auf die Spur zu kommen, messen Hirnforscher, welche Teile des Gehirns unter welchen Umständen besonders aktiv werden. Dabei kommen verschiedene bildgebende Verfahren zum Einsatz.

Funktionelle Magnetresonanztomographie (fMRT)

Ein wichtiges bildgebendes Verfahren ist die sogenannte funktionelle Magnetresonanztomografie (fMRT), eine Sonderform der gewöhnlichen MRT. Der Proband liegt dabei in einer langen Röhre, in der ein Magnetfeld erzeugt wird. Bei der fMRT messen die Forscher zusätzlich den Sauerstoffgehalt des Bluts im Gehirn. Dadurch machen sie sichtbar, wie und wo das Gehirn gerade arbeitet. Hebt der Proband zum Beispiel eine Hand, wird eine bestimmte Hirnregion aktiv. Mithilfe der fMRT-Bilder können die Wissenschaftler erkennen, welche Hirnareale bei Krankheiten wie Parkinson, Alzheimer oder nach einem Schlaganfall betroffen sind.

Magnetoenzephalographie (MEG)

Bei der Magnetoenzephalographie (MEG) messen Forscher über Sensoren die feinen elektrischen Aktivitäten der Nervenzellen im Gehirn. Auf den dadurch entstehenden Bildern können sie erkennen, wie stark bestimmte Teile des Gehirns beansprucht werden.

Auch wenn die zugrunde liegende Technik solcher Messverfahren hoch kompliziert ist, zeigen bei solchen Verfahren schon einfache Experimente, welche Bereiche des Gehirns für bestimmte Aufgaben verwendet werden. So lässt sich schnell feststellen, ob ein Proband bei einem Experiment starke Gefühle entwickelt, ob er sich Bilder vorstellt oder viel nachdenken muss.

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Gehirn-Computer-Schnittstellen

Die Erkenntnisse der Hirnforschung ermöglichen auch die Entwicklung von Gehirn-Computer-Schnittstellen. Dadurch ist es möglich, einen Computer über gedachte Befehle zu steuern: Sensoren messen zum Beispiel die Hirntätigkeit, die sich einstellt, sobald der Proband sich eine bestimmte Bewegung vorstellt, und setzen diesen Impuls um - beispielsweise um einen Cursor auf dem Monitor zu bewegen oder Geräte zu steuern. Bernhard Schölkopf und sein Team wollen diesen Code entschlüsseln und leistungsfähige Gehirn-Computer-Schnittstellen entwickeln.

Trotz solcher Experimente ist die Wissenschaft aber weit entfernt davon, den Inhalt unseres Bewusstseins auslesen zu können. Wie das Gehirn als Organ funktioniert, unterscheidet sich vollkommen davon, wie wir uns selbst wahrnehmen, wie wir denken und fühlen. Im Gehirn selbst gibt es keine Bilder oder Farben, sondern wie in einem Computer nur bestimmte Schaltzustände. Zwischen diesem neuronalen Zustand und einem einfachen Bewusstseinserlebnis, wie etwa einer Farbempfindung, besteht kein offensichtlicher Zusammenhang. Zwar gehen die meisten Hirnforscher davon aus, dass sich im Prinzip auch die Inhalte zum Beispiel eines gedachten Bildes von außen erkennen lassen können. Selbst wenn es uns also gelingen würde, alle Prozesse im Gehirn genau zu verstehen und zu beschreiben, könnten wir die Art und Weise, in der wir etwa Dinge wahrnehmen, damit nicht vollständig erklären. Die Kluft zwischen der gemessenen Gehirnaktivität und dem Erlebnis des tatsächlichen Denkvorgangs bleibt auch für die Hirnforschung unüberbrückbar.

Neuronale Erkrankungen und Anwendungen für gesunde Menschen

Je genauer die Forscher die Zentren der Hirnaktivität kennen, desto vielfältiger können sie auf diese einwirken. Das gilt in erster Linie für neuronale Erkrankungen, bei denen bestimmte Hirnareale geschädigt sind. So gelang es beispielsweise den Wissenschaftlern der Ruhr-Universität Bochum, allein durch den Einsatz einer speziellen Magnetspule den Tastsinn zu verfeinern: Sie regten den für dieses motorische Segment verantwortlichen Teil des Gehirns durch ein Magnetfeld von außen an. Hirnforscher koppeln die bildgebenden Verfahren außerdem mit künstlicher Intelligenz. Mithilfe der beiden Technologien wollen sie in Zukunft voraussagen, wie Krankheiten wie Parkinson bei Patienten verlaufen. Aber auch für gesunde Menschen gibt es in Zukunft womöglich eine Reihe von Anwendungen aus der Hirnforschung, die das tägliche Leben vereinfachen oder verbessern könnten. Ob aber je komplexeres Wissen oder Fähigkeiten per Knopfdruck implementiert werden können, ist fraglich. Theoretisch spricht nichts dagegen, wenn wir den Code des Gehirns genauer verstehen.

Die Lernfähigkeit des Gehirns

Eine der wichtigsten Eigenschaften des Gehirns ist seine Lernfähigkeit. Bis vor wenigen Jahren galt unter Wissenschaftlern als ausgemacht: Das Gehirn eines Erwachsenen verändert sich nicht mehr. Heute weiß man jedoch, dass das Gehirn bis ins hohe Alter laufend umgebaut wird. Manche Neurobiologen vergleichen es sogar mit einem Muskel, der trainiert werden kann. Die Vorstellung, dass das Gehirn ein Leben lang lernfähig bleibt, ist aus wissenschaftlicher Sicht unbestritten. Anders hätte der Mensch die vielfältigen Herausforderungen, denen er im Laufe eines Lebens begegnet, auch gar nicht bewältigen können. So können wir bis ins hohe Alter eine Fremdsprache und Yoga lernen, uns Gesicht und Stimme eines neuen Arbeitskollegen merken oder den Weg zu einer neuen Pizzeria. Viele Wissenschaftler bezweifeln aber, dass Gehirnjogging-Übungen die generelle Leistungsfähigkeit des Gehirns steigern. Sie gehen davon aus, dass sich der Trainingseffekt nur auf die unmittelbar trainierte Aufgabe auswirkt.

Synaptische Plastizität

Lernen findet an den Synapsen statt - also den Orten, an denen die elektrischen Signale von einer Nervenzelle zur nächsten übertragen werden. Neurowissenschaftler haben herausgefunden, dass Synapsen die Effektivität der Übertragung variieren können. Man bezeichnet dieses Phänomen auch als synaptische Plastizität. So kann eine Synapse durch einen Vorgang namens Langzeitpotenzierung (LTP) verstärkt werden, indem sie mehr Botenstoff ausschüttet oder mehr Botenstoffrezeptoren bildet. Die Übertragung von Signalen kann aber nicht nur verstärkt oder abgeschwächt werden, sie kann auch überhaupt erst ermöglicht oder völlig gekappt werden. So wissen Neurowissenschaftler heute, dass Synapsen selbst im erwachsenen Gehirn noch komplett neu gebildet oder abgebaut werden können. An wenigen Stellen wie zum Beispiel im Riechsystem können sogar zeitlebens neue Nervenzellen gebildet werden. Es ist also nicht übertrieben, wenn man sagt: Unser Gehirn gleicht zeitlebens einer Baustelle.

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Stärkung und Schwächung, Auf- und Abbau - die Stärke, mit der Signale zwischen Nervenzellen übertragen werden, wird laufend angepasst. Etwas vereinfacht könnte man sich also vorstellen, dass die Signalübertragung verstärkt wird, wenn das Gehirn etwas speichert - und abgeschwächt wird, wenn es vergisst. Ohne die Plastizität würde dem Gehirn folglich etwas Fundamentales fehlen: seine Lernfähigkeit.

Training des Gehirns

Mit dem Lernen verhält es sich wie mit dem Sport: Je mehr eine bestimmte Fähigkeit gefordert wird, desto effektiver wird sie erledigt. Wer beispielsweise Taxi fährt, muss sich gut orientieren und Routen merken können. Durch die tägliche Arbeit wird so das Ortsgedächtnis immer besser. Das hinterlässt auch Spuren im Gehirn, zum Beispiel im Gehirn Londoner Taxifahrer: Forscher haben herausgefunden, dass in ihrem Gehirn der Hippocampus - ein für das Ortsgedächtnis zentrale Region im Gehirn - über die Jahre größer wird. Offenbar braucht ein derart trainiertes Orientierungsvermögen auch mehr Raum!

Seine Plastizität hilft dem Gehirn zudem, Schäden zumindest teilweise zu reparieren. Sterben beispielsweise bei einem Schlaganfall Nervenzellen ab, können benachbarte Hirnregionen die Aufgaben des betroffenen Gebiets zum Teil übernehmen. Am Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften haben Forscher herausgefunden, dass das Gehirn so die Schäden nach einem Schlaganfall zum Teil kompensieren kann.

Die Verschaltung des Gehirns

Ein weiteres wichtiges Forschungsfeld ist die Verschaltung innerhalb des Gehirns. Das menschliche Gehirn lässt sich nach verschiedenen Kriterien untergliedern. Entwicklungsgeschichtlich beispielsweise besteht es wie das aller Wirbeltiere aus dem End-, Zwischen-, Mittel-, Hinter- und Markhirn, auch als Tel-, Di-, Mes-, Met- und Myelencephalon bezeichnet. Besonders auffällig ist die zum Endhirn gehörende sogenannte Großhirnrinde, der sogenannte Kortex. Sie ist im Laufe der Evolution so stark gewachsen, dass sie fast das gesamte Gehirn umgibt. Die Großhirnrinde ist Sitz vieler höherer geistiger Fähigkeiten. Einzelne Bereiche haben dabei unterschiedliche Aufgaben. So sind manche Areale darauf spezialisiert, Sprache zu verstehen, Gesichter zu erkennen oder Erinnerungen abzuspeichern. In der Regel ist aber keine Region allein für eine bestimmte Fähigkeit verantwortlich, sondern nur im Zusammenspiel mit anderen.

Welche Gehirngebiete miteinander verbunden sind, untersuchen Wissenschaftler mithilfe der sogenannten Magnetresonanztomografie (MRT). Mit dieser Technik können sie die zu Fasersträngen gebündelten Fortsätze von Nervenzellen sichtbar machen, die die Areale der Großhirnrinde miteinander verbinden. Auf diese Weise haben Sprachforscher beispielsweise eine für das Sprachvermögen zentrale Gehirnregion entdeckt: den sogenannten Fasciculus Articuatus. Ohne dieses Nervenfaserbündel können Kleinkinder keine komplexen Sätze bilden und verstehen. Dies gelingt erst, wenn diese Verbindung genug entwickelt ist. Bei Menschenaffen hingegen sind diese Nervenfasern zeitlebens schwach ausgebildet. Folglich schaffen die Tiere es trotz jahrelangen Trainings nicht, selbst einfachste Sätze zu bilden - und das, obwohl andere erforderliche Hirnareale sowie anatomische Voraussetzungen zum Sprechen durchaus vorhanden sind.

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Mit einer Variante dieser Technik, der sogenannten funktionellen Magnetresonanztomografie, können Wissenschaftler zwischen aktiven und nicht aktiven Gehirnregionen unterscheiden. Damit haben sie viel über den Aufbau und die Funktionsweise des Gehirns gelernt. So haben Max-Planck-Forscher aus Leipzig herausgefunden, warum bei Menschen, die stottern, ein Ungleichgewicht zwischen der Hirnaktivität von linker und rechter Großhirnhälfte auftritt: Innerhalb des überaktiven rechten Netzwerkes haben sie eine Faserbahn entdeckt, die bei den Betroffenen deutlich stärker ausgebildet ist, als bei Menschen ohne Sprechprobleme.

Einen exakten Schaltplan des Gehirns lässt sich jedoch mit der MRT-Technik nicht erstellen, dafür ist die Genauigkeit der Methode nicht hoch genug. Schließlich sitzen bis zu 10.000 Synapsen auf einer Nervenzelle, 100 Billionen sind es insgesamt. Dies zeigt, wie dicht das Kommunikationsnetz im Gehirn ist. In diesem Netz können einerseits benachbarte Nervenzellen miteinander verknüpft sein, andererseits auch Zellen, die weit voneinander entfernt sind. Die Wissenschaftler entwickeln deshalb neue Methoden, mit denen sie das Konnektom entschlüsseln können. Als Modellfälle dienen ihnen dafür Mäuse: Zuletzt haben sie die Verschaltung von Bereichen der Netzhaut des Auges sowie der Großhirnrinde aufgeklärt und herausgefunden, dass Nervenzellen im sogenannten entorhinalen Kortex der Großhirnrinde wie ein Transistor organisiert sind: Bevor eine Nervenzelle eine andere Zelle aktivieren kann, kontaktiert sie eine hemmende Zelle und wird so in ihrer eigenen Aktivität behindert. Anhand solcher Schaltpläne wollen Wissenschaftler lernen, wie das Gehirn funktioniert. An Max-Planck-Instituten arbeiten sie bereits heute daran, die Prinzipien der Informationsverarbeitung aufzuklären. Derzeit konzentrieren sie sich auf einfacher aufgebaute Gehirne, die weniger Nervenzellen und -fasern besitzen als das Gehirn des Menschen. Mäuse sind ein solcher Modellfall für Neurowissenschaftler. Sie besitzen als Säugetiere ein ähnlich aufgebautes und funktionierendes Gehirn wie der Mensch. Noch einfacher aufgebaut und leichter zu untersuchen ist das Gehirn von Zebrafischen und ihrer Larven. So besitzt das Gehirn einer Fischlarve nicht nur lediglich 100.000 Nervenzellen und damit eine Million Mal weniger als das des Menschen, es ist auch noch nahezu völlig transparent. Auch Wirbellose können ein Modell für Neurowissenschaftler sein. Ihre Nervenzellen sind zwar sehr klein, dadurch kann ihre Aktivität nicht so leicht gemessen werden. Dafür lassen sich wegen der vergleichsweise einfacheren Architektur die Prinzipien von Verschaltungen zur Wahrnehmung und Verarbeitung von Umweltreizen analysieren. So können Forscher anhand des Gehirns von Fruchtfliegen lernen, wie der Geruch von Nahrung die Fortpflanzung beeinflusst. Durch die Analyse des Sehsystems von Schmeißfliegen wollen sie herausfinden, wie die Insekten Bewegungen so unglaublich schnell wahrnehmen können. Selbst ein so einfach aufgebauter Organismus wie der Fadenwurm C.

Das alternde Gehirn

Das menschliche Gehirn altert weniger als gedacht und schichtweise - jedenfalls in dem für den Tastsinn zuständigen Bereich der Hirnrinde. Zu diesem Schluss kommen Forschende des DZNE, der Universität Magdeburg und des Hertie-Instituts für klinische Hirnforschung (HIH) an der Universität Tübingen anhand von Hirnscans von jungen und älteren Erwachsenen sowie Untersuchungen an Mäusen. Ihre Befunde, veröffentlicht in der Fachzeitschrift Nature Neuroscience, liefern auch neue Erkenntnisse darüber, wie sich die Fähigkeit zur Verarbeitung von Sinneseindrücken mit dem Altern verändert.

Schichtspezifische Veränderungen im Cortex

Die Hirnrinde eines Menschen ist nur wenige Millimeter dick und liegt in zahlreichen Falten. Dieses Gewebe, auch „Cortex“ genannt, wird mit den Jahren für gewöhnlich dünner. „Das ist eine typische Alterserscheinung, die unter anderem dem Verlust von Nervenzellen zugeschrieben wird. Manche Fähigkeiten lassen infolgedessen nach. Im Allgemeinen geht man jedenfalls davon aus, dass weniger Hirnvolumen verminderte Funktion bedeutet“, erläutert Prof. Esther Kühn, Neurowissenschaftlerin am HIH und am Deutschen Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen (DZNE). „Man weiß aber wenig darüber, wie genau der Cortex eigentlich altert. Das ist bemerkenswert, da viele Tätigkeiten unseres täglichen Lebens von einem funktionierenden Cortex abhängen. Deshalb haben wir uns die Situation mit hochauflösenden Hirnscans angeschaut.“

Esther Kühn konzentrierte sich dabei - im Team mit Kolleginnen und Kollegen aus Tübingen und Magdeburg - auf einen Ausschnitt der Hirnrinde, in dem Signale des Tastsinns verarbeitet werden. Dieser "primäre somatosensorische Cortex" liegt links und rechts der Kopfoberseite und erstreckt sich entlang eines etwa fingerbreiten Streifens in Richtung des jeweiligen Ohrs. „Dieses Hirnareal ist wichtig für die Wahrnehmung des eigenen Körpers und für die Wechselwirkung mit der Umgebung“, erläutert die Neurowissenschaftlerin. „Wenn ich etwa einen Schlüssel in die Hand nehme, eine Türklinke greife oder auch wenn ich laufe, dann brauche ich ständig haptisches Feedback, um meine Bewegungen zu kontrollieren. Die zugehörigen Reize laufen in diesem Areal zusammen und werden dort auch verarbeitet.“

Mittels Magnetresonanztomografie (MRT) konnten die Forschenden diesen Bereich der Hirnrinde mit bislang unerreichter Genauigkeit vermessen. Sie nutzen dafür einen besonders leistungsfähigen Scanner mit einer Magnetfeldstärke von sieben Tesla, so dass sie filigrane Hirnstrukturen etwa von der Größe eines Sandkorns abbilden konnten. Insgesamt rund 60 Frauen und Männer im Alter zwischen 21 und 80 Jahren wurden untersucht. „Bisher hatte man außer Acht gelassen, dass der primäre somatosensorische Cortex aus einem Stapel mehrerer, quasi hauchdünner Gewebeschichten besteht, von denen jede ihre eigene Architektur und Funktion hat. Wir haben nun festgestellt, dass diese Schichten unterschiedlich altern. Obwohl die Hirnrinde insgesamt dünner wird, bleiben manche ihrer Schichten stabil oder sind im Alter überraschenderweise sogar dicker. Mutmaßlich, weil sie besonders beansprucht werden und ihre Funktionalität dadurch erhalten bleibt. Wir sehen daher Hinweise für Neuroplastizität, also für Anpassungsfähigkeit, auch bei älteren Menschen.“

Der geschichtete Aufbau des primären somatosensorischen Cortex findet sich in ähnlicher Weise auch in anderen Arealen des menschlichen Gehirns wieder - und selbst bei anderen Lebewesen. „Evolutionär hat sich offenbar bewährt, sensorische Informationen in dieser Weise zu verarbeiten“, so Kühn. In der aktuellen Studie erwiesen sich neben der mittleren Schicht des Cortex auch die darüber liegenden Bereiche als auffällig resistent gegen den Alterungsprozess. Die einzelnen Schichten wurden anhand ihres Gehalts an Myelin unterschieden. Diese Substanz ist für die Übertragung von Nervensignalen von Bedeutung. „Die mittlere Schicht ist quasi die Eingangstür für haptische Reize, in den darüber liegenden Schichten finden weitere Verarbeitungsprozesse statt“, sagt Kühn. „Bei sensorischen Impulsen etwa von der Hand kümmern sich die oberen Schichten insbesondere um das Zusammenspiel benachbarter Finger. Das ist wichtig beim Greifen von Gegenständen. Mit unseren Probanden haben wir daher auch Tests zur taktilen Empfindlichkeit und motorischen Fähigkeit der Hand durchgeführt. Überdies haben wir sogenannte funktionelle MRT gemacht, um die Funktion der mittleren Schicht des Cortex, dort wo die Signale eintreffen, zu erfassen.“

Modulation und Kompensation

Nur die tiefer liegenden Schichten der Hirnrinde zeigten altersbedingten Abbau: Bei älteren Studienteilnehmenden waren sie dünner als bei jüngeren Menschen. In den unteren Schichten des Cortex findet sogenannte Modulation statt: Die Signale des Tastsinns werden hier je nach Kontext verstärkt oder abgeschwächt. „Das hat mit Konzentration und Aufmerksamkeit zu tun“, erläutert Kühn. „Trage ich beispielsweise einen Ring am Finger, dann spüre ich diesen irgendwann nicht mehr, auch wenn die taktilen Reize bestehen bleiben. Das passiert erst dann wieder, wenn ich den Ring wieder bewusst wahrnehme.“

Die Forschenden fanden allerdings Hinweise dafür, dass Mechanismen in den tiefen Hirnschichten sich dem altersbedingten Funktionsverlust zu einem gewissen Grad widersetzen. „Obwohl die tiefen Schichten der Hirnrinde mit zunehmendem Alter dünner wurden, nahm ihr Myelin-Gehalt überraschenderweise zu. Bei Vergleichsstudien an Mäusen haben wir diese Effekte ebenfalls beobachtet. Wir haben dann herausgefunden, dass der Anstieg des Myelins darauf zurückgeht, dass bestimmte Nervenzellen vermehrt vorkommen“, so Kühn. „Von diesen ist bekannt, dass sie sich positiv auf die Modulation von Nervenimpulsen auswirken. Sie schärfen sozusagen das Signal. Offenbar wirken Kompensationsmechanismen der zellulären Degeneration teilweise entgegen. In Hinblick auf Prävention wäre es interessant zu erforschen, ob sich diese Mechanismen gezielt fördern und erhalten lassen. Denn unsere Daten von den Mäusen deuten darauf hin, dass diese Kompensation in sehr hohem Alter wegbricht.“

Optimistischer Blick auf das Altern

„Insgesamt passen unsere Befunde zur allgemeinen Sichtweise, dass wir unserem Gehirn durch geeignete Stimulation etwas Gutes tun. Ich finde es eine optimistische Vorstellung, dass wir unseren Alterungsprozess ein Stück weit selbst in der Hand haben“, meint Kühn. „Aber jede und jeder muss natürlich für sich einen Weg finden, dieses Potenzial auch zu nutzen.“

Die Namensgebung des Gehirns

Wie Dinge zu ihrem Wort kamen, beschäftigt Menschen schon seit sehr langer Zeit. Und es gab verschiedene Erklärungsansätze: Im Zeitalter des Barock, also ungefähr im Zeitraum von 1600 bis 1770, glaubte man beispielsweise, Gott habe den Dingen ihren Namen gegeben. Oder man nahm an, dass es eine verborgene logische Erklärung für die Wahl des Namens geben müsse. Von diesen Vorstellungen kam man in der anschließenden Epoche der Aufklärung (circa 1720 bis 1800) ab. Es leuchtet wohl jedem ein, der schon einmal eine Fremdsprache gelernt hat: Vokabeln muss man pauken, man kann sie sich in der Regel nicht logisch herleiten. Seit der Aufklärung ist man sich daher darüber einig, dass es keine einfache Erklärung dafür gibt, warum ein Ding einen bestimmten Namen hat. Warum das Gehirn „Gehirn“ heißt, kann also niemand sagen. Aber Etymologen, also Wissenschaftler, die sich mit der Herkunft und der Geschichte von Wörtern beschäftigen, können beispielsweise erforschen, wie alt eine Bezeichnung ist, um so mehr über ihre Herkunft zu erfahren. Bei „Gehirn“ wissen wir, dass es sich um ein vergleichsweise junges Wort handelt. Es ist erst im 15. Jahrhundert entstanden - in einer Zeit, aus der viele Wortschöpfungen mit der Vorsilbe „Ge-​“ stammen, etwa „Gebeine“, „Gebäude“ oder „Gebilde“. Möglicherweise galt das zu dieser Zeit als besonders gute Sprache. Viel älter ist die kürzere Variante „Hirn“, die heute noch in anatomischen Bezeichnungen üblich ist, aber auch in Wörtern wie „Hirngespinst“ oder „hirnrissig“ vorkommt. Wir wissen sicher, dass dieses Wort ursprünglich aus der urindogermanischen, oder, wie man heute besser sagt, der urindoeuropäischen Sprache stammt. Dabei handelt es sich um die gemeinsame Vorstufe aller Sprachen, die heute von Island im Westen über den Iran bis Indien im Osten gesprochen werden. Die Urindoeuropäer lebten vermutlich vor 6000 bis 9000 Jahren im heutigen Anatolien, möglicherweise auch nördlich von Schwarzem und Kaspischem Meer. Durch Völkerwanderungen verbreitete sich diese Ursprache und wurde stark abgewandelt. Von Indien bis Island entstanden so rund 400 unterschiedliche Sprachen, die alle zur indogermanischen Wurzel gezählt werden. Demnach sind etwa „Gehirn“, die englische Bezeichnung „brain“ oder das schwedische „hjärna“ alle aus demselben Wort entstanden. Um mehr darüber zu erfahren, was das Wort ursprünglich bedeutete, kann man nun hingehen und „Hirn“ mit verwandten Wörtern vergleichen - in der deutschen, aber auch in den vielen anderen indoeuropäischen Sprachen. Dazu zählt etwa „Horn“, etwas, das am Kopf getragen wird. Nun ist es leicht vorstellbar, dass Menschen auch schon vor tausenden von Jahren erlegte Tiere geöffnet haben, um sie zu verwerten. Daher kann man annehmen: Horn bezeichnet etwas, das sich oben am Kopf befindet und Hirn steht für das, was im Kopf ist.

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