Das ideologische Gehirn: Definition, Forschung und Implikationen

In einer Zeit zunehmender Polarisierung und hitziger Debatten, in denen Fakten oft hinter Meinungen zurückstehen, gewinnt das Verständnis der Entstehung und Funktionsweise ideologischer Überzeugungen immer mehr an Bedeutung. Die politische Neurobiologie, ein neues Wissenschaftsfeld, das von Leor Zmigrod mitbegründet wurde, untersucht den Zusammenhang zwischen politischen Einstellungen und der Biologie unseres Gehirns. Ihr Buch "Das ideologische Gehirn - Wie politische Überzeugungen wirklich entstehen" bietet einen radikalen wissenschaftlichen Ansatz, um Ideologien und ihre Gefahren zu überdenken.

Die politische Neurobiologie: Ein neues Forschungsfeld

Leor Zmigrod gilt mit nur 29 Jahren als Pionierin der politischen Neurobiologie. Sie zeigt, dass Ideologien unser Gehirn verändern und dass eine bestimmte neurobiologische Veranlagung uns für bestimmte Glaubenssätze empfänglich macht. Zmigrod beweist den Konnex zwischen extremen politischen Positionen und unserem Gehirn und revolutioniert damit unsere Vorstellungen von Radikalisierung, Extremismus und demokratischer Meinungsbildung.

Die Verbindung von Geist und Gehirn

Zmigrod erteilt dem Dualismus, der eine Trennung von Geist und Körper, Bewusstsein und Gehirn vorsieht, eine Absage. Für sie sind Geist und Gehirn untrennbar miteinander verbunden. Sie betont, dass Ideologien nicht nur abstrakt und kollektiv sind, sondern auch somatisch und individuell.

Die Definition von Ideologie

Zmigrod setzt sich intensiv mit dem Begriff "Ideologie" auseinander und analysiert dessen Entwicklung sowie die verschiedenen Bedeutungen. Ursprünglich sollte die Ideologie als "Wissenschaft der Ideen" im Sinne der Aufklärung erforschen, wie Menschen zu ihren Überzeugungen gelangen. Im Laufe der Geschichte wurde die Definition von Ideologie immer weiter aufgebläht und der Begriff wird mittlerweile hauptsächlich zur Diffamierung des politischen Gegners eingesetzt. Zmigrod definiert Ideologie als eine absolutistische Schilderung der Welt, die mit Geboten einhergeht, wie wir denken, handeln und mit anderen umgehen sollen.

Psychologische und neurobiologische Grundlagen ideologischen Denkens

Zmigrod beschäftigt sich mit den Erkenntnissen aus der Psychologie, Neurowissenschaft, Evolutionsbiologie, Genetik und Epigenetik. Sie greift dabei auf eine Vielzahl von Studien und auf eigene Forschungsergebnisse zurück. Eine wichtige Grundlage ihrer Argumentation ist eine Vielzahl psychologischer Studien und Experimente, bei denen psychologische und kognitive Tests wie der Wisconsin Card Sorting Test, der Alternative Uses Test, der Identitätsfusions-Test, der Flexibilitätstest, der Trier Social Stress Test oder Wahrnehmungsentscheidungsaufgaben zum Einsatz kommen.

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Das Gehirn als vorhersagendes Organ

Zmigrod erläutert den aktuellen Stand der neurowissenschaftlichen Forschung und betont, dass das Gehirn ein vorhersagendes Organ ist. Es lernt von seiner Umwelt und versucht zu erkennen, was als Nächstes geschehen wird. Durch das Wahrnehmen von Billionen subtiler Verbindungen und Zusammenhänge erzeugt das Gehirn ein internes Modell der Welt. Ideologien bieten einfache Lösungen für unsere Fragen, Skripte, an die wir uns halten können, Gruppen, denen wir angehören können.

Psychologische Rigidität und ideologisches Denken

Eine wesentliche Erkenntnis der Experimente ist, dass es einen Zusammenhang zwischen dem Grad der psychologischen Rigidität der Probanden und dem Grad der Rigidität gibt, mit der sie Ideologien in der sozialen und politischen Welt folgen. Ideologische Narrative bieten genau das, was unser Gehirn tun will: Vorhersagen und Kommunikation. Für unser Gewissheit suchendes Gehirn klingt eine systematische Theorie von allem großartig. Für unser Gemeinschaft liebendes Gehirn klingt eine mit allen Menschen geteilte Theorie der Welt fantastisch.

Genetische, epigenetische und neurobiologische Faktoren

Neben psychologischen und kognitiven Aspekten untersucht Zmigrod auch genetische, epigenetische und neurobiologische Faktoren sowie die Wirkung von Stress und die Einflüsse des digitalen und des sozialen Umfelds im Zusammenhang mit dem "ideologischen Gehirn". Es wird sehr deutlich, wie viele Mechanismen zusammenwirken, beispielsweise welchen Einfluss Hormone haben. Die Ergebnisse und Zusammenhänge, die Leor Zmigrod aufzeigt, sind beeindruckend. Allerdings lassen sich keine einfachen kausalen Schlussfolgerungen ziehen. Es gibt kein Ideologie-Gen, kein Ideologie-Hormon und keinen bestimmten Ideologie-Bereich im Gehirn. Es sind eher bestimmte Voraussetzungen, die die Wahrscheinlichkeit einer ideologischen oder extremistischen Ausrichtung begünstigen.

Der Einfluss des Umfelds

Zmigrod betont, dass das Umfeld, also die Überzeugungen in der Familie und im Freundeskreis, eine wichtige Rolle spielt. Menschen mit viel Dopamin im präfrontalen Cortex, dem Entscheidungszentrum unseres Gehirns, konnten sich in Zmigrods Kartentest besser an die Regeln anpassen, waren also weniger ideologisch. Andere Studien haben gezeigt, dass Konservative eine größere Amygdala haben als politisch Liberale. Die Amygdala ist im Gehirn für die Verarbeitung von Angst und Bedrohung zuständig, also Emotionen, mit denen rechte Parteien oft arbeiten.

Kritik und Einwände

Zmigrods Ansatz ist nicht unumstritten. Einige Kritiker bemängeln, dass ihre Argumente unscharf wirken und dass sie eine direkte Linie von Befürwortern des Brexits zu Selbstmordattentätern zieht. Andere weisen darauf hin, dass die Kognitionswissenschaftlerin Ideologien als Ergebnis bestimmter kognitiver Voraussetzungen versteht. Wer ideologisch denkt, hat eine geringe kognitive Flexibilität, hohe Ordnungs- und Kontrollbedürfnisse und eine rigide Aufmerksamkeitsverarbeitung.

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Implikationen für die politische Bildung

Wenn Ideologie ein Denkstil ist, sollte politische Bildung dann nicht weniger als Wissensvermittlung, sondern mehr als Denkstiltraining gedacht werden? Wenn geringe kognitive Flexibilität, hohe Ordnungs- und Kontrollbedürfnisse und rigide Aufmerksamkeitsverarbeitung die Grundlage ideologischen Denkens sind, ist das Training genau dieser Fähigkeiten vielleicht die beste Prävention. Bildungspsycholog:innen fordern längst, dass kognitive Flexibilität ebenso geschult werden sollte wie Mathe oder Lesen. Schon im Grundschulalter lassen sich Übungen integrieren, die trainieren, die Perspektiv zu wechseln, Widersprüche auszuhalten und mit Mehrdeutigkeit umzugehen.

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