Das schwache Geschlecht? Fakten über das Gehirn und die Geschlechter

Die Frage, ob es ein „schwaches Geschlecht“ gibt und welche Rolle das Gehirn dabei spielt, ist komplex und vielschichtig. Die Debatte wird oft von Stereotypen und vorgefertigten Meinungen geprägt. Dieser Artikel beleuchtet verschiedene Aspekte dieser Thematik, von biologischen Unterschieden bis hin zu gesellschaftlichen Einflüssen, und versucht, ein differenziertes Bild zu zeichnen.

Männliche Vorbilder in der frühen Kindheit

Michel ist sechs Jahre alt und freut sich über die Anwesenheit von Felix, dem neuen Praktikanten in seiner Kindergartengruppe. Gemeinsam mit seinem Freund Holger genießt er die Zeit mit dem männlichen Spielgefährten. Diese Szene verdeutlicht ein Problem, das in der Gesellschaft immer wieder diskutiert wird: Der Mangel an männlichen Vorbildern in den ersten Lebensjahren von Jungen. In Kindergärten und -krippen sind Männer oft Mangelware. Es stellt sich die Frage, ob dieser Mangel Auswirkungen auf die Entwicklung von Jungen hat.

Jungen als Bildungsverlierer?

Statistiken zeigen, dass Jungen häufig schlechtere Schulabschlüsse erzielen, schlechtere Noten schreiben und die Schule häufiger abbrechen als Mädchen. So verließen im Schuljahr 2018 laut Zahlen des statistischen Bundesamtes 8,9 % der Jungen die Schule ohne Hauptschulabschluss, verglichen mit nur 6 % der Mädchen. Auch erreichten weniger Jungen die Fachhochschulreife oder Hochschulreife (42,1 % gegenüber 48,3 % bei Mädchen).

Diese Zahlen werfen die Frage auf, ob Jungen tatsächlich die Bildungsverlierer sind. Wenn ja, welche Konsequenzen hat dies für ihre persönliche Entwicklung, die Gesellschaft und das Bildungssystem?

Allerdings gibt es auch gegenteilige Positionen. Der Wissenschaftler Thomas Viola Rieske von der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) argumentiert, dass Jungen nicht durch das Bildungssystem diskriminiert werden, sondern dass mögliche Ungerechtigkeiten durch gesellschaftliche Rollenbilder und die damit verbundenen Erwartungen entstehen.

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Rollenbilder und Identitätsfindung

Häufig sind in unserer Gesellschaft noch alte Denkweisen gefestigt, die von Generation zu Generation weitergegeben werden. So wird noch immer von uns typisch männliches oder typisch weibliches Verhalten erwartet.

Es ist wichtig, dass die Rechte von Frau und Mann vollständig gleichberechtigt sind und sich diese Gleichberechtigung im Umgang mit Frauen widerspiegelt, aber auch in allen anderen Bereichen der Gesellschaft. Trotzdem ist es eine Möglichkeit des „Mannseins“ und ist somit eine Verhaltensantwort aus dem direkten Umfeld eines Jungen. Darüber hinaus bin ich der Auffassung, dass gerade das Vorleben des Vaters eine entscheidende Rolle spielt, um eine eigene Identifikation des Mannwerdens heraus zu bilden.

Jungen lernen von „männlichen Vorbildern“ auf dem Weg ihrer Persönlichkeitsentwicklung und zur Bildung ihres Geschlechts. Sie benötigen frühe Bindungserfahrungen und Väter, die sie annehmen, wie sie sind. Väter die emotional anwesend sind und ihre Gefühle gegenüber den Jungs zeigen können. Männer fehlen in den Schulen, im gesamten Kindergartenbereich und häufig sogar in den Familien.

Initiativen zur Förderung von Jungen

Um dem Mangel an männlichen Vorbildern entgegenzuwirken, startete die damalige Bundesfamilienministerin Christina Schröder das Projektmodell "MEHR Männer in Kitas" des Bundesministeriums für Familien, Senioren, Frauen und Jugend. Ziel war es, den Anteil männlicher Fachkräfte in Kindertageseinrichtungen deutlich zu steigern.

Die Zahlen zeigen einen leichten Anstieg des Anteils männlicher Fachkräfte: von 2,4 % im Jahr 2008 auf 5,3 % im Jahr 2018. Aber warum gibt es noch immer so wenig männliche Fachkräfte im Elementarbereich? Oder auch in der Grundschule? Ist es auf der einen Seite die zu geringe gesellschaftliche Anerkennung? Oder ist es das im Bundesdurchschnitt zu niedrige Gehalt? Sind es die Arbeitsbedingungen, die Männer abschrecken, diesen Beruf ausüben zu wollen? Oder spiegelt die Unterpräsenz von Vätern in der Erziehung den Missstand auch in den Bildungsinstitutionen wieder?

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Die Rolle des Gehirns und des Testosterons

Die Gehirnforschung, wie zum Beispiel die von Gerald Hüther, liefert eigene Antworten auf die Frage nach Unterschieden zwischen Jungen und Mädchen. Hüther beschreibt, dass Jungen bereits mit einem etwas anders organisierten und strukturierten Gehirn zur Welt kommen und dass Testosteron Einfluss auf das Gehirn, die Gehirnentwicklung und den Körper insgesamt hat.

Demzufolge haben Jungen schon, wenn Sie auf die Welt kommen, ein anderes Gehirn und bereits in jungen Jahren einen Testosteronspiegel, der Jungen von Mädchen unterscheidet. So soll das Testosteron zum Beispiel den Wettbewerbsgeist fördern oder den Bewegungsdrang der Jungen anregen.

Hüther argumentiert, dass unser Bildungssystem nicht auf die Bedürfnisse von Jungen zugeschnitten ist, da es nicht auf ihren Bewegungsdrang eingeht und stundenlanges Stillsitzen und Zuhören erwartet.

Jungen auf der Suche nach Orientierung

Nach meiner Beurteilung sind Jungen keine Bildungsverlierer, sondern ein Geschlecht das auf der Suche nach Halt und Orientierung ist. Um dieser Suche nach zu kommen brauchen wir mehr Männer in Kindergärten und Schulen. Zudem brauchen wir pädagogische Konzepte, mit denen wir beide Geschlechter optimal fördern können. Vielleicht könnte man eine Quotenregelung einführen, um Männer einen optimalen Einstieg in Grundschulen und Kindertagesstätten zu ermöglichen. Erst dann können alte Denkmuster aufgebrochen werden und das Bild des „Mannseins“ nachhaltig in der Gesellschaft und auch zunehmend in der Familie verändern.

Geschlechtervielfalt: Mehr als nur Mann und Frau

Die Frage nach dem Geschlecht ist komplexer als oft angenommen. Evolutionsbiologisch gibt es zwei Geschlechter: männlich und weiblich. Die Zuordnung ist abhängig von den Gonaden (Eierstöcke und Hoden) und Gameten (Eizellen und Spermien).

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Die Medizin unterscheidet genetische, gonadale und genitale Geschlechter. Wenn XX, Eierstöcke und Vulva, verbunden mit weiblichem Hormonstatus: Frau. Wenn XY, Hoden und Penis, verbunden mit männlichem Hormonstatus: Mann. Wenn XY und Vulva oder XX und männliche äußere Merkmale oder eine andere Kombination aus Genen, Gonade und äußeren Geschlechtsmerkmalen: Intergeschlecht.

Seit 2019 gibt es in Deutschland neben männlich und weiblich auch divers als Geschlechtseintrag. Außerdem kann der Geschlechtseintrag offen bleiben. Auf der Ebene der Psyche, Identität, Empfindungen gibt es eine unendliche Vielfalt von Identifikationsmöglichkeiten, denn jeder Mensch ist einzigartig.

Gibt es ein männliches oder weibliches Gehirn?

Die Frage, ob es ein männliches oder weibliches Gehirn gibt, ist umstritten. Zwar gibt es messbare Unterschiede in Größe, weißer und grauer Masse und der Dicke des Verbindungsbalkens, doch lassen sich daraus keine Rückschlüsse auf Geschlechtlichkeit ziehen. Nach aktuellem Wissensstand der Gehirnforschung gibt es kein männliches oder weibliches Gehirn. Der deutlichste Unterschied ist die Größe, wie bei Lunge, Herz oder Nieren. Weil Männer im Durchschnitt größer sind als Frauen, sind es auch ihre Organe.

Die Neuro-Wissenschaftlerin Lise Eliot spricht von einem Zombie-Konzept und von Neuro-Sexismus. Babys haben bei Geburt einen geschlechtslosen, individuellen Gencocktail und einen geschlechtlichen Körper und Phänotyp. Ihr Gehirn ist noch unreif und entwickelt sich angepasst an die Umwelt, also durch kulturelle Einflüsse.

Unterschiede zwischen Männern und Frauen: Überbewertet oder ignoriert?

Es gibt Unterschiede zwischen Männern und Frauen, aber wir haben uns angewöhnt, die falschen Unterschiede als wichtig zu erachten und die wichtigen Unterschiede zu ignorieren.

Ein wichtiger Unterschied ist die unterschiedliche Schmerzwahrnehmung. Frauen leiden häufiger und stärker unter Schmerzen als Männer. Durch Bild gebende Verfahren wissen wir heute, dass das männliche und weibliche Gehirn bei gleichen Schmerzreizen unterschiedlich reagieren. Die Geschlechter erleben Schmerzen unterschiedlich, und sie gehen auch sehr unterschiedlich damit um.

Das schwache Geschlecht? Gesundheitliche Aspekte

Männer haben in Deutschland eine um ca. 5 Jahre niedrigere Lebenserwartung als Frauen. Sie sind - gesundheitlich gesehen - das schwache Geschlecht. Vergleicht man die altersspezifischen Sterberaten von Männern und Frauen, so haben Männer in jeder Altersgruppe eine höhere Sterberate als Frauen.

Die höhere Säuglingssterblichkeit deutet auf genetische Faktoren hin. Und sonst? Männer rauchen mehr, trinken mehr Alkohol, fahren „sportiver” Auto, bringen sich häufiger um, haben gefährlichere Jobs usw. - manches davon ließe sich auch vermeiden.

Wie wird ein Mann ein Mann?

Wie wird aus dem, was ein Mann werden könnte, schließlich das, wofür sich der Betreffende aufgrund seines Geschlechts hält? Die wichtigste Erkenntnis der Hirnforschung lautet: Das menschliche Gehirn ist weitaus formbarer, in seiner inneren Struktur und Organisation anpassungsfähiger, als bisher gedacht. Auch das von Männern. Die Nervenzellen und Netzwerke verknüpfen sich so, wie man sie benutzt. Das gilt vor allem für all das, was man mit besonderer Begeisterung in seinem Leben tut.

Männer sind von anderen Motiven geleitet und benutzen deshalb ihr Gehirn auf andere Weise - und damit bekommen sie zwangsläufig auch ein anderes Gehirn. Wenn es Männern gelänge, sich nicht an Wettbewerb und Konkurrenz auszurichten, sondern die in ihnen angelegten Potenziale zu entfalten, fände eine Transformation auf dem Weg zur Mannwerdung statt.

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