Dein Gehirn weiß mehr als du denkst: Psychologie und die Formbarkeit des Gehirns

Das menschliche Gehirn ist ein faszinierendes Organ, dessen Potentiale oft unterschätzt werden. Die moderne Psychologie und Hirnforschung zeigen, dass unser Gehirn weit mehr kann, als wir ahnen. Es ist nicht nur ein Speicher für Informationen, sondern auch ein hochdynamisches System, das sich ständig anpasst und verändert. Das Buch „Dein Gehirn weiß mehr, als du denkst“ von Niels Birbaumer und Jörg Zittlau beleuchtet diese erstaunliche Formbarkeit und zeigt, wie wir unser Gehirn aktiv beeinflussen können, um Krankheiten zu überwinden und unser volles Potential auszuschöpfen.

Die Plastizität des Gehirns: Eine lebenslange Fähigkeit

Einer der wichtigsten Aspekte, die in dem Buch hervorgehoben werden, ist die Plastizität des Gehirns. Diese Fähigkeit, sich ständig neu zu organisieren und anzupassen, ist nicht auf die Kindheit beschränkt, sondern bleibt uns ein Leben lang erhalten. Das Gehirn gleicht bei der Geburt einer Tabula rasa. Nur wenig ist festgelegt, das meiste wird geformt.

Beispiele für Hirnplastizität

  • Londoner Taxifahrer: Birbaumer illustriert die Plastizität des Gehirns am Beispiel der Londoner Taxifahrer, die für ihre Zulassung 25.000 Straßen und einige Hundert Sehenswürdigkeiten kennen müssen. In dieser Hinsicht hält er die einzigartige Plastizität der Gehirne von Taxifahrern durchaus mit der Plastizität solcher Geistesgrößen wie Einstein vergleichbar.
  • Jongliertraining: Eine Studie mit Männern und Frauen zwischen 50 und 67 Jahren zeigte, dass ein dreimonatiges Training im Jonglieren zu einer Vergrößerung der grauen Substanz in der Sehrinde führte. Eine Kontrollgruppe zeigte keinerlei Veränderung in diesem Bereich.

Diese Beispiele verdeutlichen, dass unser Gehirn durch gezieltes Training und neue Erfahrungen ständig lernt und sich anpasst.

Das Gehirn als erfolgsgeleitetes Organ

Das Gehirn ist in erster Linie darauf ausgerichtet, positive Effekte zu erzielen. Es prüft nämlich ausschließlich, ob unsere Handlungen Gewinn bringen (Anerkennung, Erfolg, Reichtum, Prestige, Liebe). Trifft das zu, dann werden Handlungen wiederholt, bleibt der Gewinn aus, werden sie bald unterlassen. Ethische Wertungen spielen dabei keine Rolle. So wurde im Laufe der Evolution das Überleben gefördert. Handlungen, die zu Belohnungen führen, werden verstärkt, während Handlungen, die keine positiven Konsequenzen haben, vermieden werden. Diese Erkenntnis ist entscheidend, um zu verstehen, wie wir unser Verhalten ändern und neue Gewohnheiten entwickeln können.

Ethische Prinzipien spielen keine Rolle

Das Gehirn ist ethisch prinzipienlos. Es prüft nämlich ausschließlich, ob unsere Handlungen Gewinn bringen (Anerkennung, Erfolg, Reichtum, Prestige, Liebe). Trifft das zu, dann werden Handlungen wiederholt, bleibt der Gewinn aus, werden sie bald unterlassen. Ethische Wertungen spielen dabei keine Rolle. So wurde im Laufe der Evolution das Überleben gefördert.

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Neue Therapieansätze für psychische und neurologische Erkrankungen

Birbaumer betont, dass viele psychische und neurologische Erkrankungen durch Lernen und Training überwunden werden können, oft ohne risikoreiche Medikamente. Depressionen, Epilepsie, Schlaganfälle und ADS lassen sich kontrollieren, und zwar nur durch Lernen und ohne risikoreiche Medikamente. So lautet die bahnbrechende Erkenntnis des renommierten Hirnforschers Niels Birbaumer.

Schlaganfall

Nach einem Schlaganfall können Nachbarzellen der zerstörten Gehirnzellen deren Aufgaben übernehmen, allerdings nur, wenn man sie dazu zwingt. Ein gelähmter linker Arm bleibt schlaff, wenn der Betroffene nach einem Schlaganfall ausschließlich den rechten benutzt. Bindet man aber den funktionstüchtigen Arm ab, lernt der Patient in einem längeren Training, den gelähmten Arm wieder zu benutzen. Dazu müssen allerdings noch genügend Restsignale aus dem Gehirn in den Arm gelangen.

Birbaumer kritisiert unzureichende Fortschritte in der Therapie, da die pharmazeutische Behandlung mit Antidepressiva und hormonellen Nervenwachstumsfaktoren zum Teil konträre Nebenwirkungen gezeitigt habe. Sein Fazit: „Wer das Gehirn mit einem Medikament flutet, erreicht eher einen Rundumschlag mit diversen Kollateralschäden als einen gezielten Treffer gegen den eigentlichen Gegner“ Sinnvoller sei es, die enorme Plastizität des Gehirns zur Selbstheilung zu nutzen.

Epilepsie

Auch für Epileptiker zeigt Birbaumer einen Weg fort von Pharmakatherapien mit oft zerstörerischen Nebenwirkungen. Stattdessden sollte trainiert werden, die Aura vor dem epileptischen Anfall früh genug wahrzunehmen. Der Monitor zeigte ihnen den Erregungszustand ihres Gehirns. Ziel war es, Übererregungen des Gehirns zu kontrollieren. Birbaumer sieht die Anwendung des Neurofeedbacks als Erfolgsgeschichte und kritisiert, dass dieses erfolgreiche Verfahren nur allzu selten angewandt wird.

Irrationale Ängste und Depressionen

An Beispielen wird gezeigt, wie es möglich ist, diesen Störungen ohne Pillen beizukommen. Zwar schaffen Medikamente Erleichterung für den Augenblick, aber Flucht und Vermeidung beseitigen die Angst nicht auf Dauer. Das einzige was nachhaltig hilft, ist die Konfrontation mit den angstauslösenden Reizen ohne Möglichkeit der Flucht.

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Am Beispiel eines schwer traumatisierten Patienten zeigt Birbaumer den schwierigen Weg, lähmende Angst zu therapieren. Übliche psychotherapeutische Verfahren, Physiotherapie und Psychopharmaka waren wirkungslos geblieben. Als Ausweg bot sich eine Konfrontationstherapie ohne jede Ausweichmöglichkeit an. Der Kranke wurde mit seiner Einwilligung im Auto angeschnallt, und der Therapeut „fuhr wie eine gesengte Sau“. Das wiederholte sich dreißigmal: „Festschnallen, Fahren wie ein Hasardeur, Kot, Urin, Erbrochenes - und schließlich Ruhe“ Durch die ständige Konfrontation ohne Fluchtmöglichkeit lernte der Patient wieder das Reisen mit Auto, Schiff, Eisenbahn und Flugzeug.

Am Schluss des Kapitels demonstriert Birbaumer die Wirksamkeit kognitiver Therapie bei Depression und konstatiert: „Es gibt keinen Grund, eine Depression als irreparables Schicksal zu betrachten, an dem man nichts mehr ändern, das man allenfalls noch per Pharmakatherapie und Elektroschock dämpfen kann“

Psychopathen

Psychopathisches Verhalten entspringe nicht „einer abstrakt-amoralischen Geisteshaltung oder einem Charakterzug“, sondern beruhe auf einer Art Schweigen oder Unterfunktion verschiedener Gehirnregionen, die an Ängsten beteiligt sind, nämlich Amygdala, Gyrus cinguli, Insula und Präfontralem Kortex Das psychopathische Gehirn kenne folglich weder Angst noch Sorge, sodass Strafe oder Strafandrohung wirkungslos bleiben.

Gegen therapeutische Resignation setzt Birbaumer die „ermutigende Nachricht, dass gerade die Angstfunktionskreise im Gehirn extrem plastisch sind“ Auch wenn sie bei Psychopathen funktionsschwach oder sogar unterentwickelt seien, ließen sie sich durchaus anregen, fördern und aufbauen (S.167). Das gelingt mithilfe des Neurofeedbacks (s.o), das erreicht, die funktionsschwachen, unterentwickelten Bereiche im Gehirn zu reanimieren (S. 172), so dass Angst erlebbar wird.

Parkinson und Alzheimer

Kurz gefasst geht es um das Training kognitiver Funktionen. Das natürliche Altern kann nicht aufgehalten werden, aber das Gehirn ist ein Großmeister der Kompensation Daher gilt es, gezielt zu trainieren und zu stimulieren. Aktives Musizieren und kognitives Training sind erfolgreiche Strategien im Kampf gegen degenerative Hirnerkrankungen.

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ADS

Birbaumer attestiert der Pharmaindustrie ein Interesse, ADS als eine Störung zu propagieren, der man am besten mit Medikamenten beikommen kann. So sei in den letzten zwanzig Jahren die verschriebene Menge von Methylphenidat, explosionsartig auf das 184fache gestiegen In Deutschland schlucken etwa 200.000 Schulkinder Ritalin (S. 205). Dazu hält der Autor die Frage für erlaubt, ob in letzter Zeit tatsächlich die Zahl der ADS-Kinder so dramatisch zugenommen hat oder lediglich die der ADS-Diganosen und Ritalinverordnungen. Es stehe selbstredend außer Frage, dass es Kinder mit ADS gibt. Was zweifelhaft sei, dass sie mit einer amphetaminartigen Droge behandelt werden müssen, die z.B. im Sport auf der Dopingliste steht. Ritalin ist mit Speed und Kokain verwandt, kann zu Abhängigkeit führen und beeinträchtigt Wachstum und Bewegungsfähigkeit der Kinder.

Birbaumer argumentiert, dass die Plastizität des Gehirns erlaubt, ADS auch ohne pharmazeutische Hilfe in den Griff zu bekommen; dies sei schon der Nebenwirkungen und des Suchtrisikos wegen dringend angezeigt Zu therapeutischem Nihilismus bestehe kein Anlass. Mit einem Selbstkontrolltraining mittels Neurofeedback (s.o.) lernten Kinder in 13 Stunden ihr Gehirn selbst zu steuern. Die Ergebnisse seien vergleichbar mit denen von Ritalin: Konzentrations- und Leistungssteigerung, angepasstes Sozialverhalten, gleiche Beruhigungswirkung. Entscheidender Unterschied: es gibt keine Nebenwirkungen. Dazu komme noch, dass für Ritalin, anders als bei Neurofeedback, nur Belege für Kurzzeit-, nicht aber für Langzeiteffekte existierten.

Neurofeedback: Eine vielversprechende Methode

Eine besondere Rolle spielt in Birbaumers Ansatz das Neurofeedback. Dabei lernen Patienten, ihre Gehirnaktivität bewusst zu beeinflussen, um beispielsweise Übererregungen zu kontrollieren oder bestimmte Hirnareale zu aktivieren.

Die Bedeutung von Selbstwirksamkeit

Das Buch vermittelt eine wichtige Botschaft: Wir sind unserem Gehirn nicht hilflos ausgeliefert, sondern können es aktiv gestalten und verändern. Durch gezieltes Training, positive Erfahrungen und die Auseinandersetzung mit unseren Ängsten können wir unser volles Potential entfalten und ein erfülltes Leben führen.

Kritik und Einschränkungen

Es ist wichtig anzumerken, dass Birbaumers Ansatz nicht unumstritten ist. Einige Kritiker bemängeln, dass er die Möglichkeiten der Selbstheilung des Gehirns zu optimistisch darstellt und die Bedeutung von Medikamenten und traditionellen Therapieformen unterschätzt. Dennoch bietet sein Buch wertvolle Impulse für ein neues Verständnis unseres Gehirns und eröffnet vielversprechende Perspektiven für die Behandlung psychischer und neurologischer Erkrankungen.

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