Demenz und Diebstahlbeschuldigungen: Ein Leitfaden für den Umgang mit belastenden Vorwürfen

Wenn sich die Demenz bei einem geliebten Menschen manifestiert, kann dies eine Achterbahnfahrt der Gefühle und Herausforderungen sein. Eine besonders schmerzhafte Erfahrung ist es, wenn Betroffene beginnen, Diebstahl zu unterstellen, insbesondere gegenüber den engsten Bezugspersonen.

Sätze wie "Du hast mich bestohlen!" können tief verletzen, besonders wenn man sich aufopferungsvoll um den Betroffenen kümmert. In Beratungsgesprächen und Selbsthilfegruppen wird oft geraten, solche Beschuldigungen nicht persönlich zu nehmen, sondern als Symptom der Krankheit zu verstehen.

Dieser Artikel beleuchtet die verschiedenen Aspekte von Diebstahlbeschuldigungen im Zusammenhang mit Demenz und gibt praktische Ratschläge für den Umgang mit diesen schwierigen Situationen.

Beschuldigungen in den verschiedenen Phasen der Demenz

Die Häufigkeit und Intensität von Beschuldigungen können je nach Stadium der Demenz variieren:

Frühe Phase: In der frühen Phase der Demenz sind Beschuldigungen eher selten. Die kognitiven Symptome, wie Gedächtnisprobleme und Verwirrung, können bereits vorhanden sein, aber das Verhalten und die Alltagskompetenz sind oft noch relativ stabil. In dieser Phase stehen andere Symptome, wie leichte Vergesslichkeit und Veränderungen in der Persönlichkeit, im Vordergrund. Überwiegend ist sich der Mensch mit Demenz seiner zunehmenden Defizite bewusst. Fehler führt er auf sein eigenes Unvermögen zurück, was oft zu Rückzug und depressiver Verstimmung führt. Bei der Form der Lewy-Body-Demenz können bereits in dieser Phase Halluzinationen auftreten.

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Mittlere Phase: In dieser Phase verschlechtert sich die Leistung des Gedächtnisses gravierend. Die Betroffenen erleben sich selbst dennoch wieder als geistig gesund und bewerten die Realität völlig anders. Sobald sie Situationen nicht einordnen können, sind sie überzeugt, dass diese von anderen Menschen - also vielleicht von Ihnen - verursacht worden sind. Die Beschuldigungen nehmen zu, da die Betroffenen Schwierigkeiten haben, sich an die Ablageorte von Gegenständen zu erinnern und stattdessen Diebstahl vermuten.

Späte Phase: In der späten Phase sind Beschuldigungen immer noch vorhanden und können sogar häufiger auftreten. Die kognitiven Funktionen sind in dieser Phase stark beeinträchtigt, und die Wahrnehmung der Realität ist stark verzerrt.

Typische Szenarien und Beispiele für Diebstahlbeschuldigungen

Diebstahlbeschuldigungen können sich auf verschiedene Bereiche beziehen:

  1. Diebstahl von Geld oder persönlichen Gegenständen: An Demenz erkrankte Menschen können glauben, dass ihnen Geld oder persönliche Gegenstände gestohlen wurden, obwohl dies nicht der Fall ist.

  2. Verschwörungstheorien: Eine an Demenz erkrankte Person kann komplexe Verschwörungstheorien entwickeln und glauben, dass ihre Angehörigen oder Pflegekräfte in geheime Machenschaften verwickelt sind. Häufig ist der Glaube, die Angehörigen wollten sie ja nur „ins Heim stecken“.

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  3. Falsche Identität: Wenn Menschen mit Demenz ihre Familienmitglieder oder enge Freunde nicht erkennen, glauben sie vielleicht, dass sie von Fremden umgeben sind.

Ein fiktives Beispiel zur Verdeutlichung

Um die Situation besser zu verstehen, stellen wir uns folgendes Szenario vor:

Eine ältere Dame mit Demenz lebt allein in ihrer Wohnung. Sie hat ein sehr schlechtes Kurzzeitgedächtnis, aber ihre Alltagskompetenz funktioniert noch recht gut. Im Kalender sieht sie, dass diese Woche noch ein Arzttermin ansteht, für den sie ihre Chipkarte benötigt.

In ihrer Wohnung sucht sie nach der Krankenkarte. Um sich einen Überblick zu verschaffen, legt sie alle ihre "Schätze" (Bargeld, Personalausweis, Bankkarten, Schmuck) auf ihr Bett. In dem Moment klingelt es an der Wohnungstür. Vielleicht ist es die Postfrau mit einem Päckchen oder die Nachbarin, die ein kurzes Schwätzchen hält.

Anschließend geht die Dame ins Wohnzimmer und beschäftigt sich mit anderen Dingen. Erst wenn sie viel später wieder ins Schlafzimmer kommt, sieht sie ihre "Schätze" auf dem Bett liegen und kann sich absolut nicht mehr daran erinnern, dass sie selbst die Sachen herausgelegt hat. Da muss doch jemand in ihrer Wohnung gewesen sein!

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In ihrer Erinnerung ist sie immer noch die gewissenhafte Person, bei der es immer eine strenge Ordnung gab. All die Irrtümer und Missgeschicke, die die Demenz ihr beschert, erinnert sie in dieser Phase der Krankheit nicht mehr.

Warum Diebstahlbeschuldigungen so verletzend sind

Auch wenn man weiß, dass die Beschuldigungen krankheitsbedingt sind, können sie sehr verletzend sein. Dafür gibt es mehrere Gründe:

  1. Gemeinsame Vorgeschichte: Anders als eine externe Pflegekraft haben Sie eine lange gemeinsame Geschichte mit dem Betroffenen. Bestimmte Verhaltensweisen können "alte" Gefühle triggern und an frühere Erlebnisse erinnern, in denen Ihnen vielleicht nicht geglaubt wurde.

  2. Veränderung der Beziehung: Sie kennen den Betroffenen als klugen, rationalen Menschen. Jetzt sind Sie das Ziel von irrationalen und unbegründeten Beschuldigungen.

  3. Belastung der Beziehung: Die Beschuldigungen belasten die Beziehung zwischen Ihnen und dem Demenzkranken. Es ist ohnehin nicht leicht, in der Rolle der Tochter oder des Partners zu bleiben, wenn der Betroffene krankheitsbedingt zunehmend Unterstützung benötigt.

  4. Schuldgefühle: Wenn der Demenzerkrankte in der Vergangenheit für Sie gesorgt hat oder Sie ihm versprochen haben, immer gut für ihn zu sorgen, können Schuldgefühle Ihren Ärger verstärken.

  5. Verlust der Kontrolle: Am schlimmsten ist das Gefühl, die Kontrolle über die Situation zu verlieren. Egal, was Sie tun, es scheint nie genug oder richtig zu sein.

Strategien für den Umgang mit Diebstahlbeschuldigungen

Trotz der Herausforderungen gibt es Strategien, die Ihnen helfen können, mit Diebstahlbeschuldigungen umzugehen und die Situation zu entschärfen:

  1. Nehmen Sie die Gefühle ernst: Auch wenn die Beschuldigung unbegründet ist, nehmen Sie die Gefühle des Betroffenen ernst. Zeigen Sie Verständnis für die Angst und Verunsicherung, die hinter der Beschuldigung stehen. Sagen Sie etwas wie: "Ich verstehe, dass du dich aufregst, wenn dein Geldbeutel fehlt."

  2. Vermeiden Sie Diskussionen: Versuchen Sie nicht, den Betroffenen vom Gegenteil zu überzeugen oder zu argumentieren. Das führt in der Regel nur zu Frustration und Streit.

  3. Suchen Sie gemeinsam: Bieten Sie an, gemeinsam nach dem vermissten Gegenstand zu suchen. Das kann dem Betroffenen das Gefühl geben, dass Sie seine Sorgen ernst nehmen und ihm helfen wollen.

  4. Lenken Sie ab: Wenn die Situation eskaliert, versuchen Sie, den Betroffenen abzulenken. Sprechen Sie über ein anderes Thema, zeigen Sie alte Fotos oder hören Sie gemeinsam Musik.

  5. Schaffen Sie Sicherheit: Sorgen Sie für eine sichere und vertraute Umgebung. Platzieren Sie wichtige Gegenstände an festen Orten, an denen sie leicht gefunden werden können.

  6. Akzeptieren Sie die Realität des Betroffenen: Versuchen Sie, die Welt aus der Perspektive des Betroffenen zu sehen. Akzeptieren Sie, dass seine Wahrnehmung der Realität anders sein kann als Ihre.

  7. Sorgen Sie für sich selbst: Es ist wichtig, dass Sie sich nicht von den Beschuldigungen unterkriegen lassen. Nehmen Sie sich Zeit für sich selbst, pflegen Sie Ihre Hobbys und suchen Sie Unterstützung bei Freunden, Familie oder einer Selbsthilfegruppe.

Zusätzliche Tipps und Strategien

  1. Selbstfürsorge: Machen Sie sich bewusst, wie viele Aufgaben Sie gleichzeitig bewältigen. Identifizieren Sie Stressfaktoren und überlegen Sie, welche Aktivitäten Ihnen Freude bereiten und Energie geben. Nehmen Sie sich Zeit für diese Aktivitäten, auch wenn es nur kurze Momente sind.

  2. Gesprächstechniken: Lernen Sie Gesprächstechniken und Methoden, um mit herausforderndem Verhalten umzugehen. Es ist in Ordnung, Grenzen zu setzen, auch wenn Ihr Angehöriger "krank ist und es nicht mehr versteht". Eine Möglichkeit kann es sein, bei Beschuldigungen den Raum zu verlassen und so für sich selbst zu sorgen und dem Angehörigen zu signalisieren, dass er oder sie zu weit gegangen ist.

  3. Verbündung: Suchen Sie den Austausch mit anderen Menschen in einer ähnlichen Situation. Eine pflegende Ehefrau sollte sich am besten eine Person oder Gruppe suchen, mit der sie sich über das Thema Partner*innenpflege austauschen kann. Als pflegende Tochter oder Schwiegertochter finden Sie mehr Verständnis bei Frauen, die einen Angehörigen der älteren Generation versorgen.

  4. Verhaltensmuster verstehen: Oftmals zeigen Menschen mit Demenz ein Verhalten, welches in der Tat als „auffällig“, aber keinesfalls als „herausfordernd“ bezeichnet werden kann. Man muss die Gegebenheiten der erkrankten Person im Ganzen sehen, seine Umgebung, die Menschen, die mit ihm zusammen sind, seinen Tagesablauf, den Fortschritt seiner Erkrankung und viele Dinge mehr.

  5. Diebstahl-Szenario analysieren: Versetzen Sie sich in die Lage des Betroffenen. Wenn beispielsweise eine Geldbörse vermisst wird, überlegen Sie, wo der Betroffene sie normalerweise aufbewahrt und wo er sie möglicherweise versteckt haben könnte.

  6. Umgang mit Verdächtigungen: Wenn der Betroffene eine bestimmte Person des Diebstahls verdächtigt, versuchen Sie, die Situation zu entschärfen, indem Sie die Gefühle des Betroffenen anerkennen und ihm versichern, dass Sie die Sache ernst nehmen.

  7. Wahnvorstellungen und Halluzinationen: Behalten Sie im Hinterkopf, dass Wahnvorstellungen und Halluzinationen als Nebenwirkungen der Medikamenteneinnahme auftreten können. Auch eine nicht ausreichende Zufuhr von Flüssigkeit und eine starke Reizverarmung können die Ursache für Halluzinationen sein.

  8. Offene Kommunikation: Informieren Sie das soziale Umfeld des Betroffenen (Nachbarn, Freunde, Bekannte) über die Demenzerkrankung und das Problem mit den Diebstahlsbezichtigungen. Bitten Sie vorab um Entschuldigung für eventuelle Vorwürfe.

  9. Vorsorgemaßnahmen: Bemühen Sie sich um eine Vorsorgevollmacht, damit Sie später, wenn der Betroffene keine rechtsgültigen Entscheidungen mehr treffen kann, im Sinne des Betroffenen mitbestimmen können über so wichtige Dinge wie Pflege, medizinische Versorgung, Finanzen etc.

  10. Professionelle Hilfe: Ziehen Sie professionelle Hilfe in Betracht, wenn Sie mit der Situation überfordert sind. Ein Arzt, Psychologe oder Demenzberater kann Ihnen weitere Unterstützung und Beratung bieten.

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