Depressionen und Demenz stellen für ältere Menschen eine erhebliche gesundheitliche Herausforderung dar, wobei beide Erkrankungen häufig gemeinsam auftreten. Die Behandlung von Depressionen bei Demenzpatienten ist jedoch komplex und die Rolle von Antidepressiva wird in Fachkreisen kontrovers diskutiert. Dieser Artikel beleuchtet die aktuelle Studienlage, mögliche Risiken und alternative Behandlungsansätze.
Antidepressiva und kognitiver Abbau bei Demenz
Eine Studie, veröffentlicht in BMC Medicine (2025; DOI: 10.1186/s12916-025-03851-3), untersuchte den Zusammenhang zwischen der Einnahme von Antidepressiva, insbesondere selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmern (SSRI), und dem kognitiven Abbau bei älteren Menschen mit kognitiven Störungen oder Demenz. Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass die Einnahme von Antidepressiva mit einem schnelleren kognitiven Abbau assoziiert sein könnte, wobei auch die verordnete Dosis eine Rolle spielt.
Die Studie umfasste knapp 19.000 Menschen mit einem Durchschnittsalter von 78 Jahren, bei denen eine Demenz neu diagnostiziert wurde und denen bis zu sechs Monate vor der Diagnose Antidepressiva verschrieben worden waren. Während der Nachbeobachtungszeit von durchschnittlich 4,3 Jahren erhielten 23 Prozent der Patienten ein neues Rezept für ein Antidepressivum, überwiegend SSRI (65 Prozent der Verschreibungen). Höhere SSRI-Dosen waren mit einem höheren Risiko für eine schwere Demenz verbunden, definiert als eine stärkere Verschlechterung der MMST-Werte (Mini-Mental-Status-Test).
Es ist wichtig zu betonen, dass das Studiendesign keine Rückschlüsse auf Kausalität zulässt. Wie die Forschenden um Sara Garcia-Ptacek vom Karolinska-Institut selbst anmerken, sollten die Ergebnisse durch weitere Analysen geprüft werden.
Einschränkungen und Interpretationsschwierigkeiten
Die Interpretation der Studienergebnisse ist komplex. Peter Berlit, Generalsekretär der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN), wies darauf hin, dass die Symptome der Depression selbst zur Verschlechterung der Demenz beitragen können. Klaus Fließbach, Oberarzt am Uniklinikum Bonn, betonte, dass die Ergebnisse extrem schwer zu interpretieren seien, da die Mechanismen hinter bestimmten Symptomen bei Demenzpatienten anders sein könnten als bei Menschen ohne Demenz.
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Einige Experten argumentieren, dass die Verschreibung von Antidepressiva bei Demenzpatienten möglicherweise eine Folge der fortschreitenden Erkrankung ist. Störungen im Verhalten, wie Aggressionen und Verstimmungen bis zur Agitation, treten in der Demenz häufiger auf, je weiter die Krankheit fortschreitet. Dies kann dazu führen, dass Ärzte depressionsähnliche Symptome mit Antidepressiva behandeln, insbesondere mit SSRI, die als am wenigsten problematisch angesehen werden.
Potenziell ungeeignete Medikation im Alter
Die Problematik der potenziell ungeeigneten Medikation im Alter (potentially inappropriate medication) spielt eine wichtige Rolle. Bestimmte Antidepressiva können bei älteren Menschen ungünstige Nebenwirkungen haben, auf die sie empfindlicher reagieren als jüngere Patienten. Solche Medikamente, die im Alter vermieden werden sollten, werden beispielsweise in der Priscus-Liste dokumentiert.
Eine Forschergruppe verschiedener deutscher Universitäten analysierte die Daten einer prospektiven Kohortenstudie nicht dementer Patienten im mittleren Alter von 80 Jahren und fand heraus, dass Antidepressiva mit einem erhöhten Risiko für eine spätere Demenz einhergingen. Dieser Effekt wurde allein mit den nicht angebrachten antidepressiven Behandlungen gefunden, während Antidepressiva, die aufgrund der entsprechenden Depressionsdiagnostik sinnvoll waren, kein erhöhtes Risiko zeigten. Dies deutet darauf hin, dass die Wahl eines nicht altersgerechten Medikaments mehr Schaden anrichten kann.
Mögliche Mechanismen der Schädigung
Welche Mechanismen eine solche Schädigung bewirken können, ist noch nicht abschließend geklärt. Blutdruckerhöhende Nebenwirkungen oder anticholinerge Effekte könnten zu Schäden an kleinen Blutgefäßen im Gehirn führen und in der Folge zu entzündlichen Prozessen, die mit Demenzsymptomen enden können.
Anticholinergika sind Medikamente, die den Neurotransmitter Acetylcholin blockieren. Einige Antidepressiva gehören zu dieser Arzneimittelgruppe. Längst ist bekannt, dass diese Mittel bei älteren Menschen bereits nach kurzfristiger Einnahme die kognitiven Fähigkeiten beeinträchtigen können. Sie können zu Verwirrtheitszuständen, Schlaf- und Gedächtnisstörungen sowie zu Halluzinationen führen. Eine Studie der University of East Anglia (UK) hat gezeigt, dass Antidepressiva aus der Gruppe der Anticholinergika noch 20 Jahre, nachdem man sie längst abgesetzt hat, zur Entwicklung einer Demenz beitragen können.
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Antidepressiva und REM-Schlaf
Depressionen können mit Medikamenten, die den REM-Schlaf unterdrücken, wirksam behandelt werden. In diesen Schlafphasen werden Erinnerungen im Gedächtnis verfestigt. Wissenschaftler der Charité - Universitätsmedizin Berlin haben festgestellt, dass die Unterdrückung des REM-Schlafes gleichzeitig das Lernen beeinträchtigt und Gedächtnisstörungen hervorrufen kann. Eine Studie zeigte, dass Probanden, die vor dem Zubettgehen ein Antidepressivum (Amitriptylin) erhielten, am nächsten Abend visuelle Muster deutlich schlechter erkannten als diejenigen, die ein Placebo erhalten hatten.
Wirksamkeit von Antidepressiva bei Demenz umstritten
Die Effektivität der Antidepressiva in der Depressionsbehandlung von Demenzkranken ist umstritten. Eine Übersichtsarbeit konnte keinen Nachweis für einen klinischen Effekt von Antidepressiva finden. Ursachen könnten die Strukturveränderungen im Gehirn sein, die mit Demenz einhergehen. Einige Forschungsarbeiten deuten darauf hin, dass Antidepressiva die Symptome sogar noch verschlimmern könnten.
Leitlinien und Empfehlungen
Die S3-Leitlinie Demenzen (Stand 2023) spricht eine schwache Empfehlung für Mirtazapin und Sertralin bei Depression und Alzheimer-Demenz aus. Die aktuelle Version der Nationalen Versorgungsleitlinie (NVL) Depression listet die Demenz als Kontraindikation allein für die Antidepressiva der Wirkstoffgruppe TZA. Die NVL empfiehlt Hausärztinnen und -ärzten, bei Verdacht auf Depressionen regelhaft Symptome, Schweregrad und Verlaufsaspekte zu erfassen.
Alternative Behandlungsansätze
Angesichts der potenziellen Risiken und der unklaren Wirksamkeit von Antidepressiva bei Demenzpatienten ist es wichtig, alternative Behandlungsansätze in Betracht zu ziehen. Dazu gehören:
- Nicht-medikamentöse Therapien: Verhaltenstherapie, kognitive Stimulation, Musiktherapie, Kunsttherapie, Lichttherapie, soziale Aktivierung und Bewegungsprogramme.
- Anpassung der Umgebung: Schaffung einer sicheren und beruhigenden Umgebung, Reduzierung von Stressfaktoren, Förderung von Routine und Struktur.
- Behandlung von Begleiterkrankungen: Behandlung von Schmerzen, Schlafstörungen und anderen gesundheitlichen Problemen, die die Stimmung beeinflussen können.
- Einbeziehung von Angehörigen: Unterstützung und Schulung von Angehörigen, um ihnen den Umgang mit den Verhaltensänderungen und emotionalen Bedürfnissen des Patienten zu erleichtern.
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