Risiken beim Absetzen von Medikamenten bei Demenz

Die Behandlung von Demenz, insbesondere der Alzheimer-Krankheit, ist komplex und erfordert eine sorgfältige Abwägung der Vor- und Nachteile verschiedener Medikamente. Das Absetzen von Medikamenten bei Demenzpatienten birgt spezifische Risiken, die im Kontext der individuellen Patientensituation betrachtet werden müssen.

Einführung

Dieser Artikel beleuchtet die potenziellen Risiken, die mit dem Absetzen von Medikamenten bei Demenzpatienten verbunden sind. Dabei werden sowohl die Risiken des Absetzens von Antipsychotika als auch die allgemeineren Aspekte der Polypharmazie und der damit verbundenen Risiken betrachtet. Ziel ist es, ein umfassendes Verständnis für die Notwendigkeit einer individualisierten und sorgfältigen Therapieplanung bei Demenz zu vermitteln.

Antipsychotika bei Demenz: Nutzen und Risiken

Psychosen, Agitiertheit und Aggressivität sind häufige Begleiterscheinungen der Alzheimer-Krankheit. Diese Symptome können sowohl für die Patienten als auch für ihre Betreuer eine erhebliche Belastung darstellen. Sie führen zu einem erhöhten Leidensdruck bei den Patienten, einer stärkeren Belastung der Betreuer und einer erhöhten Wahrscheinlichkeit für die Einweisung in ein Pflegeheim oder Krankenhaus. Zudem können sie die Lebensqualität der Patienten erheblich mindern und zu einer Abnahme der kognitiven Fähigkeiten führen.

Zur Behandlung dieser psychotischen Symptome werden häufig Antipsychotika eingesetzt. Diese Medikamente sind jedoch mit erheblichen Nebenwirkungen verbunden, darunter Sedierung, extrapyramidale Symptome, Spätdyskinesien, Gewichtszunahme und metabolisches Syndrom. Aufgrund dieser Nebenwirkungen ist eine Dauereinnahme antipsychotisch wirkender Medikamente unerwünscht. Beispielsweise ist die Einnahme von Risperidon bei Patienten mit mäßiger bis schwerer Alzheimer-Demenz und anhaltender Aggression nur für eine Kurzzeitbehandlung von sechs Wochen indiziert.

ADAD-Studie: Rückfallrisiko nach Absetzen von Risperidon

Um das Risiko für einen Rückfall der Symptome nach Absetzen einer erfolgreichen, antipsychotisch wirkenden Medikation zu ermitteln, wurde die multizentrische ADAD-Studie (Antipsychotic Discontinuation in Alzheimer’s Disease) durchgeführt. In dieser Studie wurden 180 Patienten im Alter zwischen 50 und 95 Jahren untersucht, die entweder zu Hause oder in einer betreuten Wohneinrichtung oder einem Altenheim lebten. Alle Patienten erfüllten die Demenz-Kriterien des DSM-IV und die Kriterien für eine wahrscheinliche Alzheimer-Erkrankung des National Institute of Neurological and Communicative Disorders and Stroke - Alzheimer’s Disease and Related Disorders Association. Zudem wiesen sie auf den Subskalen für Wahnvorstellungen oder Halluzinationen und Agitation/Aggression des Neuropsychiatrischen Inventars (NPI) einen Wert von 4 oder mehr Punkten auf und hatten beim MMSE-Score (Mini-Mental State Examination) Werte zwischen 5 und 26 Punkten.

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Die Patienten wurden zunächst 16 Wochen lang offen mit einer täglichen Risperidon-Dosis zwischen 0,25 und 3 mg behandelt (Phase A). Von diesen sprachen 112 Patienten auf die antipsychotische Therapie an. Diese Patienten wurden dann randomisiert für die Phase B in drei Gruppen eingeteilt:

  • Gruppe 1: 1-mal täglich Risperidon für 32 Wochen (n=32)
  • Gruppe 2: 1-mal täglich Risperidon für 16 Wochen, danach Plazebo für 16 Wochen (n=38)
  • Gruppe 3: Plazebo für 32 Wochen (n=40)

Der primäre Endpunkt war die Zeit bis zum Rückfall der psychotischen Symptome. Ein Ansprechen in Phase A wurde definiert als eine Reduktion um ≥30% auf der NPI-Skala (Summe der Subkalen für Agitation/Aggression, Halluzinationen und Wahnvorstellungen) und ein Wert von 1 (extrem verbessert) oder 2 (sehr verbessert) Punkten auf der Clinical Global Impression of Change (CGI-C)-Skala bei allgemeiner Psychose oder Agitation. Ein Rückfall in Phase B wurde definiert als eine Zunahme um ≥30% auf der NPI-Skala oder eine Zunahme um 5 Punkte bis zum Ende der Phase A und ein Wert von 6 (viel schlechter) oder 7 (extrem schlechter) Punkte auf der CGI-C-Skala.

Die Ergebnisse der Studie zeigten, dass in den ersten 16 Wochen der Phase B die Rückfallrate in der Plazebo-Gruppe höher war als in den Risperidon-Gruppen (60% vs. 33%). Während der nächsten 16 Wochen war die Rückfallrate in Gruppe 2, die verzögert auf Plazebo umgestellt worden war, höher als in Gruppe 1, die weiterhin Risperidon einnahm (48% vs. 15%). Die Rate unerwünschter Arzneimittelwirkungen unterschied sich nicht signifikant zwischen den Gruppen.

Diese Ergebnisse deuten darauf hin, dass bei erfolgreich mit Risperidon behandelten Patienten mit Alzheimer-Demenz ein erhöhtes Rückfallrisiko nach Absetzen der Medikation besteht. Dieses Risiko muss gegen das Risiko schwerer unerwünschter Arzneimittelwirkungen bei längerfristiger Behandlung abgewogen werden.

Medikamententoxizität als Ursache demenzieller Syndrome

Chronische kognitive Beeinträchtigungen aufgrund von Medikamententoxizität sind ein bedeutendes Problem bei älteren Menschen. Ältere Menschen haben die größte Krankheitsbelastung, verbrauchen die meisten Medikamente und sind anfälliger für Nebenwirkungen. Der steigende Medikamentenkonsum im Laufe des Lebens kann zu einem Dilemma zwischen Multimorbidität und Vulnerabilität führen. Je älter ein Patient ist, desto mehr Medikamente nimmt er durchschnittlich ein und desto sensibler reagiert er auf diese Medikamente.

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Demenz als unerwünschte Arzneimittelwirkung

Diese Problematik erschwert es, demenzielle Zustände als eventuelle unerwünschte Arzneimittelwirkungen zu erkennen. Faktoren wie Überforderung oder Zeitmangel können dazu beitragen, dass Angehörige, Pflegekräfte und auch Ärzte den fließenden Übergang von der medikamentösen Erzeugung eines Delirs zur Demenz teilweise stillschweigend, meist aber unwissend hinnehmen. Die Unterscheidung zwischen dem vorübergehenden Delir und der chronischen Demenz ist in der klinischen Praxis oft schwierig. Einige Veröffentlichungen legen die Vermutung nahe, dass chronische Delirzustände bei älteren Menschen nicht selten als Demenz verkannt werden, obwohl sie vom täglichen Tablettenkonsum herrühren.

Beispiele für medikamenteninduzierte Demenz

Es gibt zahlreiche Beispiele für Medikamente, die demenzielle Symptome auslösen können. Der Neurologe Oliver Sacks beschrieb den Fall eines vermeintlichen Alzheimerpatienten, dessen Demenz ausschließlich eine Folge der Steroideinnahme war. In einer Falldatenbank für Ärzte wurde berichtet, dass das Antibiotikum Moxifloxacin bei einer 82-jährigen Patientin Verwirrtheit und Demenz auslöste, die auch nach dem Absetzen mindestens zwei Monate lang anhielten.

Eine Studie aus dem Jahr 1999 wies auf die problematische anticholinerge Wirkung vieler gebräuchlicher Medikamente hin und verwies implizit auf den schmalen Grat zwischen Delir und Demenz. Anticholinerge Medikamente stellen eine wichtige Ursache von akuten und chronischen Verwirrtheitszuständen dar.

Der Kreislauf der Stigmatisierung

Ist die Diagnose „Alzheimer“ bei Menschen jenseits des erwerbsfähigen Alters erst einmal gestellt, wird es häufig schwierig, aus diesem Kreislauf auszubrechen. Meistens haben weder Pflegekräfte noch Angehörige noch die Betroffenen selbst einen Überblick über Menge und Art der eingenommenen Medikamente. Auch Ärzte oder Pharmakologen können oft nicht sagen, welche Wechselwirkungen bei der Einnahme von mehreren Arzneimitteln im Einzelfall zu erwarten sind.

Einfluss der Pharmaindustrie

Die Verflechtungen zwischen der modernen Medizin und der Pharmaindustrie können ebenfalls eine Rolle spielen. Von Unternehmen beeinflusste Medikamentenstudien, Zulassungsverfahren oder Leitlinien gehören heutzutage zum Alltag. Daten und Ergebnisse werden oft zunächst für Pharmawerbezwecke und erst danach für die Forschung genutzt. Wissenschaftliche Neutralität ist eher die Ausnahme, wenn Aussichten auf ökonomische Rentabilität bestehen.

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Zunahme der Prävalenz von Morbus Alzheimer

Prognosen zufolge nimmt die Prävalenz des Morbus Alzheimer als häufigster Demenzform in Deutschland rapide zu. Sie gehört nicht nur unter Senioren zu den gefürchtetsten Syndromen, während ihre Einordnung und Ursachen so schwammig sind wie kaum einer anderen Krankheit.

Vulnerabilität älterer Menschen

Menschen ab dem 65. Lebensjahr werden aufgrund ihrer „unregelmäßigen“ Reaktionen auf Medikamente häufig von klinischen Studien ausgeschlossen. Dabei sind gerade sie diejenigen, die die Medikamente einnehmen. Ärzte, Pharmazeuten und Pflegekräfte wissen, dass Menschen in fortgeschrittenem Alter aufgrund von verändertem (Hirn-)Stoffwechsel und schwächeren Organleistungen anfälliger für Nebenwirkungen und Wechselwirkungen von Medikamenten sind als jüngere.

Paradoxe Arzneimittelwirkungen

Häufig treten bei älteren Menschen auch unter „normaler“ Dosierung paradoxe Arzneimittelwirkungen auf, wie zum Beispiel Verwirrung, Ängstlichkeit und Depression bei der Anwendung von Tranquilizern oder Aufregung und Unruhe bei der Einnahme von Schlafmitteln. Vor allem die gleichzeitige Verwendung mehrerer Mittel ist problematisch.

Polypharmazie und ihre Folgen

Mehr als die Hälfte der über 70-Jährigen nimmt regelmäßig fünf und mehr Medikamente ein. Nicht selten werden mehr Mittel eingenommen als es nachvollziehbare Diagnosen gibt, weil Ärzte Nebenwirkungen von Arzneimitteln als eigenes Problem einschätzen und wiederum medikamentös therapieren, oder weil Patienten zusätzlich Selbstmedikation betreiben. Studien deuten auf den unmittelbaren Zusammenhang von Demenz und Polypharmazie hin: Je mehr Medikamente eingenommen werden, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit einer Demenz(-Diagnose).

Delir und Demenz als verwandte Phänomene

In vielen Studien werden Demenz und Delir als verwandte und verwobene Phänomene kognitiver Beeinträchtigung behandelt. Einige medizinische Aufsätze weisen explizit darauf hin, dass demenzielles Verhalten häufig einem dahinter stehenden Delir geschuldet sein mag, welches durch Medikamente möglicherweise erst erzeugt oder vertieft und chronisch wird.

Medikamentöse Behandlung von Begleitsymptomen

Depression, Unruhezustände und Schlafstörungen werden immer wieder der Demenz zugeordnet. So wird oft nicht erkannt, in welchem Maß die medikamentöse Behandlung dieser Symptome indirekter Auslöser der Alzheimerkrankheit beziehungsweise eines chronischen Deliriums ist. In diesem Kontext entstehen häufig sogenannte „Verschreibungskaskaden“, also die Behandlung von Arzneinebenwirkungen als eigene Krankheit.

Lewy-Body-Demenz und Levodopa

Nicht wenige Fälle der Lewy-Body-Demenz, die zu Lebzeiten nur auf Verdacht vom Morbus Parkinson differenzierbar ist und auch als dessen „Sekundärkrankheit“ gilt, hängen eng mit den sich in Deutschland häufenden Verschreibungen des Wirkstoffes Levodopa zusammen. Dieser ist als Parkinsonmittel zugelassen und wird bei einem Teil der Anwender auch bei „normaler“ Dosierung mit möglichen Delirwirkungen assoziiert.

Lösungsansätze und Strategien zur Reduktion von Medikamenten

Positiv- und Negativlisten wie die in Deutschland publizierten FORTA oder PRISCUS scheinen keine echte Besserung zu versprechen. Zum einen, weil diese Listen der bedenklichen Medikamente in der Praxis häufig kaum eine Rolle spielen; zum anderen, weil sie innerhalb des wissenschaftlichen Demenzdiskurses die scheinbare Alternativlosigkeit medikamentöser Behandlungen verfestigen.

Überdenken des Medikamentenkonsums

Verbunden mit der grundsätzlichen Frage des immer bedeutender werdenden Umgangs mit dem Alter in unserer Gesellschaft, sollte der Medikamentenkonsum von jedem Einzelnen, ob Patient, Arzt oder Familienmitglied, grundsätzlich überdacht werden. Funktionelle Einschränkungen des Gehirns können nicht nur durch normale Alterungsprozesse oder Erkrankungen sondern auch durch verschiedene Arzneimittel hervorgerufen werden.

Fachärztliche Abklärung und alternative Medikamente

Mögliche Auffälligkeiten einer kognitiven Leistungsminderung sollen immer fachärztlich abgeklärt werden, um Klarheit über die Ursache der Beschwerden zu bekommen. Werden Verwirrtheit oder Gedächtnisstörungen durch Medikamente verursacht, bilden sie sich in der Regel wieder zurück, wenn die Arzneien abgesetzt werden.

Kritische Medikamente und freiverkäufliche Sedativa

Neben verschreibungspflichtigen Wirkstoffen sind auch verschiedene Arzneimittel kritisch, die ohne Rezept in Apotheken erhältlich sind. Insbesondere freiverkäufliche Sedativa mit den Wirkstoffen Diphenhydramin oder Doxylamin können kognitionseinschränkende Effekte haben.

Anzeichen einer Demenz und erste Ansprechpartner

Als Symptome, die bei einer dementiellen Erkrankung bemerkt werden können, gelten Erinnerungslücken, Wortfindungsstörungen sowie Orientierungslosigkeit. Bei ersten Anzeichen einer verminderten Gedächtnisleistung kann der Hausarzt der erste Ansprechpartner sein. Ergeben sich bei der Untersuchung Auffälligkeiten oder auch Unklarheiten, ist eine fachärztliche Untersuchung durch Neurologen wichtig.

DECIDE-Projekt: Reduktion sedierender Psychopharmaka

Um die Verschreibungshäufigkeit von dämpfenden Psychopharmaka bei dementiell erkrankten Bewohnerinnen und Bewohnern in Pflegeheimen und ambulant betreuten Wohngemeinschaften in Bayern nachhaltig zu reduzieren, wurde das DECIDE-Projekt ins Leben gerufen. Das Projekt richtete sich an alle, die mit Pflegeheimbewohnerinnen und -bewohner mit Demenz zu tun haben: Angehörige, Ärztinnen und Ärzte, Pflegepersonal, Amtsrichterinnen und -richter, Apothekerinnen und Apotheker. Die Aufklärung stand im Vordergrund.

Vorgehensweise im DECIDE-Projekt

Im Rahmen des Projekts wurden 50 zufällig ausgewählte Pflegeheime in Bayern und zehn Demenz-WGs besucht. Dort wurden die Medikationspläne angeschaut und für einzelne Fälle auf Basis der Pflegeberichte der letzten drei bis vier Monate Empfehlungen gegeben - zum Beispiel, ob und wie man eine Dosis reduzieren oder ein Medikament absetzen könnte. Außerdem wurde bei den Besuchen eine Fortbildung für das Pflegepersonal angeboten.

Strukturen vor Ort und persönliche Einstellungen

Personal- und Zeitmangel, ärztliche und pflegerische Ansichten, regionale Praktiken und persönliche Einstellungen spielen beim Thema Psychopharmaka in Pflegeheimen eine Rolle. Der Anteil der Bewohnerinnen und Bewohner mit Demenz, die sedierende Medikamente bekommen, schwankte in der Stichprobe stark - zwischen 30 und 70 Prozent, teils sogar innerhalb eines einzelnen Heims von Station zu Station.

Schulungsinhalte im DECIDE-Projekt

Neben der Aufklärung rund um Beruhigungsmittel ging es auch um den Umgang mit bestimmten Verhaltenssymptomen bei Menschen mit Demenz. Zunächst sollte die Ursache abgeklärt werden: Hat der Bewohner oder die Bewohnerin Schmerzen, kann er sich nicht anders ausdrücken, ist er unter- oder überfordert? Dann sollten die auslösenden Faktoren behandelt werden. Sollte das nicht helfen oder können die auslösenden Faktoren nicht identifiziert werden, sollten weitere nicht medikamentöse Maßnahmen verschrieben werden, wie Ergotherapie, Bewegungstherapie, kognitive Stimulationsverfahren, Entspannungsverfahren.

Absetzen oder Ausschleichen der Medikamente

Es wird empfohlen, bei Menschen mit Demenz regelmäßig zu prüfen, ob ein Absetzen möglich ist - vor allem, wenn die Betroffenen über einen längeren Zeitraum keine auffälligen Verhaltenssymptome mehr gezeigt haben. In solchen Fällen kann man die Dosis schrittweise, zum Beispiel in 25-Prozent-Schritten, reduzieren - idealerweise mit maximal ein bis zwei Reduktionsschritten pro Woche.

Rolle der Angehörigen

Angehörige spielen eine zentrale Rolle. Menschen mit fortgeschrittener Demenz können oft weder selbst entscheiden, ob sie ein Medikament nehmen möchten, noch äußern, ob sie unter Nebenwirkungen leiden. Angehörige sind daher wichtige Ansprechpartner im Austausch mit dem Pflegeheim und den behandelnden Ärztinnen und Ärzten.

Ergebnisse des DECIDE-Projekts

Das Projekt hat deutlich gemacht, dass ein großer Teil der Menschen mit Demenz in Pflegeeinrichtungen sedierende Psychopharmaka erhält - häufig dauerhaft und ohne regelmäßige Überprüfung der Indikation. In etwa 40 Prozent der Fälle wurde eine Reduktion oder ein Ausschleichen der fest angesetzten sedierenden Medikation empfohlen - zumeist, weil über längere Zeit keine Verhaltenssymptome dokumentiert waren, seltener aufgrund des Verdachts auf Nebenwirkungen.

Fazit des DECIDE-Projekts

Angesichts von Personalmangel und Zeitdruck könnte es hilfreich sein, wenn Pflegeeinrichtungen hier durch digitale Lösungen unterstützt würden - zum Beispiel durch eine monatliche automatische Erinnerung, zu prüfen, ob eine sedierende Medikation noch notwendig ist.

Antidementiva und Verhaltensauffälligkeiten

Bei der Alzheimer-Krankheit sind vier synthetische Antidementiva zugelassen: die Acetylcholinesterase-Inhibitoren Donepezil, Rivastigmin und Galantamin sowie der Glutamat-Antagonist Memantin. Laut Studien können sie Gedächtnis, Verhaltensstörungen und Stimmung verbessern und eine Heimunterbringung durchschnittlich um etwa zwei Jahre hinauszögern. Es sollte aber nicht automatisch eine Dauertherapie sein, und regelmäßige Auslassversuche sollten in Betracht gezogen werden.

Absetzversuche bei Antidementiva

Ein Absetzen der Antidementiva sollte erwogen werden, wenn Nebenwirkungen wie Erschöpfung, Gewichtsabnahme, Magen-Darm-Beschwerden oder Schwindel den Patienten stark beeinträchtigen. Auch bei Patienten im Stadium der schweren Demenz, die bettlägerig werden oder nicht mehr kommunizieren können, sollte ein Absetzversuch erwogen werden. Sind irreversible Verschlechterungen während der Absetzphase zu befürchten? Viele Demenzpatienten entwickeln belastende Verhaltensauffälligkeiten, bei denen Antipsychotika zeitlich begrenzt hilfreich sein können.

Antipsychotika bei Verhaltensauffälligkeiten

Bei starker Erregtheit mit Verwirrung und Unruhe können niederpotente Antipsychotika ohne ausgeprägte anticholinerge Effekte, zum Beispiel Melperon oder Pipamperon, eingesetzt werden. Bei Agitiertheit und Aggression schlägt die S3-Leitlinie »Demenzen« Risperidon als erste und Haloperidol als zweite Wahl vor; als drittes folgt Citalopram. Quetiapin ist nicht zugelassen bei Demenzpatienten, wird aber wegen beruhigender und angstlösender Effekte off Label gegeben. Apotheker sollten auf Nebenwirkungen und Interaktionen achten. Wichtig im Alltag: Die genannten Arzneistoffe können die Orthostase stören; daher sollten Patienten immer langsam aufstehen.

Multimedikation im Alter: Weniger ist mehr

Das Thema Arzneimittelversorgung älterer Menschen ist selbst für erfahrene Mediziner eine Herausforderung. Chronische und Mehrfacherkrankungen (Multimorbidität) tragen dazu bei, dass immer mehr Medikamente dauerhaft verschrieben werden - woraus sich teils gefährliche Wechsel- und Nebenwirkungen ergeben. Die Deutsche Gesellschaft für Geriatrie (DGG) setzt sich für Gegenstrategien ein: Weniger ist mehr! Altersmediziner müssen im Krankenhaus in der Regel Medikamente reduzieren oder absetzen, um eine Besserung des Wohlbefindes ihrer betagten Patienten zu erzielen.

Negative Folgen der Multimedikation

Multimedikation wird mit einer Reihe negativer Folgen in Verbindung gebracht: mit Arzneimittelinteraktionen, unerwünschten Nebenwirkungen und häufigeren Krankenhausaufenthalten aufgrund einer uneffizienten, weil unstrukturierten Therapie. Nur zu oft werden die Krankheiten, die ein Patient über die Jahre angesammelt hat, alle gleichermaßen „so ein bisschen“ behandelt - anstatt sich auf das Symptom, das die Lebensqualität des Patienten am meisten beeinträchtigt, zu konzentrieren.

Gebrechlichkeit und Medikamentenwirkung

Das Problem wird weiter akzentuiert durch den Prozess der Gebrechlichkeit, d.h. durch nachlassende Organreserven von Leber, Niere, Hirn und Muskulatur. In solchen Fällen kann sich die Medikamentenwirkung auch ins Gegenteil verkehren, so dass sie krankmachende Effekte ausübt.

Multimedikation nicht immer schlecht

In der Pharmakotherapie alter Menschen geht es nicht per se darum, weniger Medikamente zu verschreiben. Wenn ein alter Mensch viele Krankheiten hat und viele Tabletten einnimmt, aber unter diesen Tabletten eine gute Lebensqualität, eine gute Symptomkontrolle, keinen ungewollten Gewichtsverlust hat, wenn er mit der Medikamenteneinnahme zurecht kommt und nichts durcheinander bringt, dann ist an der Menge der Medikamente nichts auszusetzen. Es gibt durchaus auch Patienten, die unterversorgt sind, bei denen z.B. ein ACE-Hemmer bei der Therapie der Herzinsuffizienz fehlt und ergänzt werden sollte. Daher muss man sich genau ansehen, was ist zu viel und an welcher Stelle fehlt etwas.

Planung der Medikamentengabe

Negativlisten wie Beers- und Priscus-Liste führen Medikamente auf, die bei alten Menschen nebenwirkungsträchtig sind und deshalb zurückhaltend eingesetzt oder ganz vermieden werden sollten. Kommt es bei einem Patienten in Folge der Verordnung eines neuen Medikamentes zu einer Verschlechterung des Allgemeinzustands, wirkt er z. B. verwirrt, dann sollte der Arzt überprüfen, ob ein Medikament mit im Spiel ist, das diesen Verwirrtheitszustand verursachen könnte. Ob es ursächlich ist, lässt sich durch einen Auslassversuch feststellen.

Individuelle Situation der Patienten

Je höher das Alter, desto individueller ist der Gesundheits- und Funktionsstatus von Menschen. Deswegen ist es auch so schwierig, für gebrechliche alte Menschen Leitlinien aufzustellen.

Medikamentenstudien und Multimorbidität

In neueren Medikamentenstudien sind mittlerweile auch Menschen eingeschlossen, die über 65 Jahre alt sind. Aber Multimorbide sind in solchen Studien weiterhin oft unterrepräsentiert. Demenz oder Nierenfunktionseinschränkungen gelten auch heute häufig noch als Ausschlusskriterium.

Plastiktüten-Strategie

Um festzustellen, ob ein Patient zu viele Medikamente nimmt, kann die Plastiktüten-Strategie angewendet werden: Wir bitten die Patienten, einfach mal alle Medikamente und Präparate, die sie einnehmen, in eine Tüte zu füllen und mit in die Sprechstunde zu bringen. Dann schütten wir alles auf einen Tisch und sortieren es gemeinsam mit dem Patienten durch. So kann man feststellen, welche Medikamente aktuell genommen werden, welche abgelaufen sind, welche freiverkäuflichen Mittel zusätzlich jeden Tag geschluckt werden. So kann man ganz individuell analysieren, was der status quo ist. Darauf aufbauend kürzen oder erweitern wir dann bei Bedarf die Therapie.

Effekte des Absetzens der Medikation

Über die Effekte des Absetzens der Medikation finden sich bisher nur wenige Untersuchungen. Eine Untersuchung über Wirkungen einer Medikationsreduktion in den vier genannten Situationen (nach Stürzen, bei deliranten Zuständen, bei kognitivem Abbau und beim Absetzen einer nicht adäquaten Medikation am Lebensende) wurde kürzlich veröffentlicht.

Ergebnisse bei Sturz-Patienten

Es fanden sich 48 Studien und 210 RCTs, sowie 5 Reviews mit 2 speziellen spezifischen Artikeln, die die Effektivität des Absetzens von Medikationen bei älteren Sturzpatienten belegten. Dabei fand sich beim Sturzrisiko und bei der Fallhäufigkeit durch eine Überprüfung und entsprechende Modifikation der Medikation in verschiedenen Untersuchungen der Cochrane Library keine Wirksamkeit. Jedoch hatte eine stufenweise Reduktion von psychotroper Medikation, verglichen mit einer Placebomedikation die Rate der Stürze signifikant reduziert.

Ergebnisse bei Patienten mit deliranten Zuständen oder kognitivem Abbau

Das Risiko eines medikamenteninduzierten Delirs ist hoch, besonders bei Patienten mit Demenz. Polypharmazie, veränderte Pharmakokinetik und Pharmakodynamik bei Komorbidität im Alter wirken synergistisch mit Medikationen, die das Delir-Risiko erhöhen. Insgesamt wurden durch Medikamente bis zu 39 % der Delirien bei Älteren verursacht. Besonders gilt dies für Psychopharmaka, Antikonvulsiva, Antiparkinson-Medikamente, Opioid-Analgetika, gastroenteral wirkende Medikamente sowie kardiovaskulär wirkende Medikationen und Steroide.

In einer systematischen Übersicht fand sich eine verbesserte kognitive Leistung durch den Entzug psychotrop wirkender Medikamente. In einer anderen prospektiven Kohortenstudie mit einer systematischen Reduktion einer Polypharmazie bei teils sehr alten geriatrischen Patienten fand sich eine verbesserte Kognition bei 56 von 64 Patienten, nachdem alle nicht lebensnotwendigen Medikamente abgesetzt worden waren.

Ergebnisse bei Patienten am Lebensende

Bei alten Patienten mit begrenzter Lebenserwartung, die bisher ermöglicht wurde durch multiple Medikationen auch zur Verhinderung ungünstiger klinischer Ereignisse, kann auf viele Medikationen verzichtet werden - insbesondere auch, um iatrogene Schädigungen zu vermeiden. Hierzu gibt es keine klaren Leitlinien und nur sehr wenige Untersuchungen, weswegen es notwendig ist, Kriterien für einen Konsensus herzustellen, wie sinnvolle von nicht sinnvollen Medikationen am Lebensende zu trennen und wie letztere zu vermeiden sind.

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