Die Kraft der Musik bei Demenz: Vorteile, Anwendung und wissenschaftliche Erkenntnisse

Demenz stellt eine der größten Herausforderungen unserer alternden Gesellschaft dar. Betroffene verlieren nach und nach Teile ihrer Identität, und der Bezug zur Gegenwart schwindet. Doch inmitten dieser fortschreitenden Erkrankung bleibt oft eine Verbindung erstaunlich lange erhalten: die zur Musik. Musiktherapie und der Einsatz von Musik im Alltag können eine wertvolle Unterstützung für Menschen mit Demenz und ihre Angehörigen sein.

Nichtmedikamentöse Therapie bei Demenz: Musik im Fokus

Nichtmedikamentöse Therapieformen, wie die Musiktherapie, bieten gegenüber medikamentösen Ansätzen den Vorteil, dass keine medikamentösen Interaktionen und Nebenwirkungen zu befürchten sind. Obwohl die Umsetzung organisatorisch und finanziell aufwendiger sein kann, bieten mittlerweile viele spezialisierte Betreuungseinrichtungen solche Interventionen an. Dies hat auch das wissenschaftliche Interesse an den Wirkungsmechanismen von Musik bei Demenz wachsen lassen.

Die wissenschaftliche Evidenz zur therapeutischen Bedeutung von Musik bei Demenz ist zwar geringer als bei medikamentösen Therapieansätzen, dennoch ist ein deutlicher Anstieg der Forschungsaktivitäten zu verzeichnen. Gab es um das Jahr 2000 noch etwa 16 wissenschaftliche Beiträge pro Jahr zum Thema Musik und Demenz, so ist deren Anzahl bis 2021 auf 123 angestiegen. Allerdings stellt die Planung und Durchführung guter randomisierter, kontrollierter Interventionsstudien in diesem Bereich eine Herausforderung dar.

Studienlage und Forschungsergebnisse

Eine kürzlich veröffentlichte spanische Interventionsstudie [1] untersuchte die Auswirkungen einer aktiven musikalischen Gruppenintervention im Vergleich zu passivem Musikhören bei Pflegeheimbewohnern mit leichter bis mittelschwerer Alzheimer-Erkrankung. Die aktive Musikgruppenintervention umfasste Elemente wie Willkommenslieder, Rhythmik, Tanzen und ein Musikquiz. Die passive Musikhörgruppe hörte Musikaufzeichnungen, wobei Sänger und Titel der Musik bekannt gegeben wurden und die Möglichkeit bestand, Erinnerungen und Gefühle zur gehörten Musik auszudrücken. Die Wahl der Musikstücke wurde auf die vorher ermittelten Musikpräferenzen der Studienteilnehmer abgestimmt. Die Kontrollgruppe sah Naturvideos ohne Musik. Jede Intervention dauerte etwa 45 Minuten und fand zweimal wöchentlich über drei Monate statt.

Eine weitere systematische Übersicht und Metaanalyse [2] untersuchte die Effekte von aktivem Musikmachen bei Patienten mit leichter kognitiver Beeinträchtigung und Demenz. Die Analyse umfasste 21 randomisierte, kontrollierte Studien mit insgesamt 1472 Teilnehmern. Die Studien nutzten entweder die Reproduktion von Musik mit Singen bzw. Spielen eines Musikinstruments oder Musikimprovisation. Die Musikintervention zeigte über alle Studien einen kleinen, aber signifikanten positiven Effekt auf die Kognition der Studienteilnehmer.

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Jacobsen et al. [3] zeigten 2015, dass das Hirnareal des musikalischen Langzeitgedächtnisses im Verlauf einer Alzheimer-Erkrankung - verglichen mit dem restlichen Gehirn - nur eine minimale kortikale Atrophie und Disruption des Glukosemetabolismus aufweist. Dies erklärt die klinische Beobachtung, dass Patienten in fortgeschrittenen Demenzstadien beim Hören von bekannten Liedmelodien fehlerfrei ganze Liedstrophen mitsingen können.

Eine weitere Interventionsstudie [4] zeigte, dass Musik das verbale Gedächtnis von Patienten mit Alzheimer-Erkrankung stärken kann. Kognitiv gesunde Menschen und Menschen mit leichter Alzheimer-Demenz konnten sich an gesungene Texte besser erinnern als an gesprochene Texte. Dreimonatige musikalische Gruppeninterventionen bei Patienten mit früher Alzheimer-Erkrankung führten unmittelbar und auch sechs Monate nach der Intervention zu signifikanten kognitiven, emotionalen und sozialen Verbesserungen [5].

Wie Musik bei Demenz wirkt

Musik wird im Gehirn in Bereichen verarbeitet, die von der Demenz oft erst spät oder gar nicht betroffen sind. Ein altes Volkslied oder der Lieblingsschlager von früher kann daher Erinnerungen und Gefühle hervorrufen, die scheinbar verloren waren. Musiktherapeuten beschreiben Musik deshalb als Schlüssel zur Vergangenheit.

Das Langzeitgedächtnis und Musik

Das Langzeitgedächtnis besteht aus zwei unterschiedlichen Gedächtnissystemen: dem semantischen Gedächtnis, in dem Namen, Geburtstage und Allgemeinwissen gespeichert werden, und dem prozeduralen Gedächtnis, in dem lang eingeübte Handlungen wie Auto- oder Fahrradfahren, aber auch Melodien und Kinderreime, abgespeichert sind. Das prozedurale Gedächtnis bleibt bei Demenz länger erhalten, da die Gehirnareale, in denen sich vielfach aufgesagte Gedichte, altbekannte Lieder oder Tanzschritte befinden, weniger vom Abbau betroffen sind als Gehirnbereiche, in denen Fakten gespeichert werden.

Emotionale und soziale Auswirkungen

Musik kann die nonverbale Kommunikation erleichtern, da Rhythmus, Melodie und Takt direkt die Gefühlswelt ansprechen. Ein fröhliches Marschlied kann Aufmunterung bringen, ein beruhigendes Wiegenlied Ängste nehmen. Oft entwickeln Patienten im Takt der Musik spontane Bewegungen, die einen emotionalen Ausdruck ohne Worte ermöglichen.

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Gemeinsames Musizieren in der Gruppe fördert das Miteinander und beugt Vereinsamung vor. Die Patient*innen nehmen ihre Mitmenschen bewusster wahr, singen im Chor oder musizieren im kleinen Kreis zusammen.

Vorteile der Musiktherapie bei Demenz

Musiktherapie ist mehr als nur ein bisschen Singen im Aufenthaltsraum. Sie folgt einem gezielten Konzept, um das Wohlbefinden von Menschen mit Demenz zu steigern. Zu den Vorteilen gehören:

  • Stressreduktion: Musik senkt nachweislich den Pegel an Stresshormonen. Langsame, vertraute Melodien helfen unruhigen oder ängstlichen Patienten, sich zu entspannen.
  • Verhaltensstabilisierung: Musiktherapie hat sich als sanftes Mittel erwiesen, um Verhaltensstörungen wie Aggression oder ständige Unruhe abzuschwächen.
  • Erinnerungsaktivierung: Bekannte Lieder können verschüttete Erinnerungen an früher wachrufen.
  • Emotionsausdruck: Musik schafft Freude und Tränen zugleich und holt Emotionen an die Oberfläche. Depression und Apathie, unter denen viele Demenzpatienten leiden, lassen sich durch regelmäßige musikalische Angebote lindern.
  • Soziale Interaktion: Gemeinsames Musizieren in der Gruppe fördert das Miteinander und beugt Vereinsamung vor.
  • Reduktion des Medikamenteneinsatzes: Oft kann der Medikamenteneinsatz (etwa Beruhigungsmittel) reduziert werden, wenn stattdessen regelmäßige musische Aktivitäten stattfinden.

Praktische Anwendung von Musik im Alltag

Auch Angehörige oder Pflegekräfte können mit ein paar einfachen Mitteln den Alltag Demenzkranker musikalisch bereichern:

  • Musikliste erstellen: Stellen Sie eine Musikliste mit den Lieblingsliedern der Person zusammen - idealerweise Songs aus ihrer Jugend oder frühen Erwachsenenzeit (häufig 1950er- bis 1970er-Jahre, je nach Alter). Alte Schlager, Kirchenlieder oder Volksmusik, die positive Erinnerungen wecken, eignen sich besonders.
  • Musik in den Tagesablauf integrieren: Integrieren Sie Musik gezielt in den Tagesablauf. Zum Beispiel ein Guten-Morgen-Lied jeden Tag nach dem Aufstehen oder ruhige Entspannungsmusik vor dem Schlafengehen. Solche Rituale geben Struktur und Sicherheit.
  • Mitsingen: Scheuen Sie sich nicht, selbst mitzusingen - auch wenn kein Instrument verfügbar ist. Ein bekanntes Kinderlied zusammen zu trällern oder beim Kaffeetrinken die Melodie eines alten Hits zu summen, kann die Stimmung heben.
  • Rhythmusinstrumente nutzen: Rhythmusinstrumente wie Trommeln, Schellen oder Klanghölzer laden zum Mitmachen ein. Selbst Menschen, die kognitiv stark eingeschränkt sind, trommeln oft intuitiv zum Takt, wenn man ihnen eine Handtrommel gibt.
  • Bewegung zur Musik: Falls es der körperliche Zustand zulässt, animieren Sie zu Bewegung zur Musik. Das kann leichtes Wiegen im Sitzen, rhythmisches Klatschen oder sogar ein Tänzchen sein.
  • Professionelle Angebote nutzen: Fragen Sie im Pflegeheim nach, ob es Musiktherapeut*innen oder ehrenamtliche Musiker gibt, die regelmäßig kommen. Manche Krankenkassen oder Einrichtungen organisieren Musikgruppen.

Wichtige Aspekte bei der Anwendung

  • Musikgeschmack berücksichtigen: Passen Sie die Musik stets an den Geschmack und die Tagesform der demenzerkrankten Person an.
  • Reaktionen beobachten: Achten Sie auf die Reaktionen der Person. Strahlen die Augen? Wippt ein Fuß im Takt? Das sind gute Zeichen dafür, dass die Musik gerade die richtige Wirkung erzielt.
  • Geduld haben: Nicht jede Sitzung wird spektakuläre Veränderungen zeigen.

Herausforderungen und Risiken

Obwohl Musiktherapie viele Vorteile bietet, gibt es auch Herausforderungen und Risiken zu beachten:

  • Negative Emotionen: Musik kann die Gefühle eines Patienten verstärken, was zu einer Verschlechterung der Symptome führen kann.
  • Stress und Angst: Einige Patienten können durch Musik gestresst und ängstlich werden.
  • Überwältigung: Musik kann die Erinnerung eines Patienten überwältigen und zu einem emotionalen Ausbruch führen.
  • Kommunikationsschwierigkeiten: Wenn ein Patient zu sehr in der Musik verloren ist, kann es schwierig sein, mit ihm zu kommunizieren.

Daher ist es wichtig, dass Musiktherapeuten und andere Fachkräfte, die mit dieser Patientengruppe arbeiten, sich der Risiken bewusst sind, die mit dem Einsatz von Musik einhergehen können.

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Bewegung und körperliche Aktivität als Ergänzung

Neben der Musiktherapie spielt auch Bewegung eine wichtige Rolle bei der Betreuung von Menschen mit Demenz. Regelmäßige körperliche Aktivität kann helfen, den Krankheitsverlauf zu verlangsamen, depressive Symptome zu lindern und die Lebensqualität zu verbessern.

Vorteile von Bewegung

  • Verbesserte Durchblutung des Gehirns: Kraft- und Ausdauertraining verbessert die Durchblutung des Gehirns und kann helfen, kognitive Fähigkeiten länger zu erhalten.
  • Förderung von Balance und Konzentration: Sanfte Bewegungsformen wie Yoga oder Tai-Chi fördern Balance und Konzentration und geben innere Ruhe.
  • Erinnerungsaktivierung: Musik und Bewegung - etwa Tanzen oder im Takt klatschen - können Erinnerungen wecken und helfen, sich leichter zu bewegen.
  • Soziale Interaktion: Besonders in Gruppen kann Aktivität Lebensfreude schenken und das Gefühl stärken, dazuzugehören.

Geeignete Bewegungsformen

  • Ausdauersportarten: Gehen, Radfahren oder Schwimmen sind gut für Herz und Kreislauf.
  • Ganzkörpertrainings: Yoga oder Pilates fördern Beweglichkeit und Balance.
  • Tanzen oder Tai-Chi: Stärken die Koordination und das Gedächtnis.
  • Krafttraining: Beugt Muskelabbau und Stürzen vor.

Wichtig ist, dass die gewählte Aktivität Spaß macht und regelmäßig ausgeübt wird. Es müssen keine neuen Sportarten erlernt werden - knüpfen Sie an alte Gewohnheiten und Leidenschaften an.

Fazit

Musiktherapie ist ein wertvolles Instrument in der Demenzbetreuung. Sie kann das Leben von Betroffenen und ihren Familien reicher und lebenswerter machen. Die hier vorgestellten Beispiele und Tipps zeigen, dass es oft nur wenig braucht - ein vertrautes Lied, ein paar Takte Rhythmus - um eine große Wirkung zu erzielen. In einer Welt, die für Demenzkranke zunehmend verwirrend und fremd wird, bietet Musik Orientierung und Trost. Es sind die kleinen Momente: das Lächeln, wenn das Hochzeitslied erklingt; die Ruhe, die bei einem Wiegenlied einkehrt; das Leuchten in den Augen, wenn der Takt einer Polka den inneren Tänzer weckt. Musiktherapie lehrt uns, den Menschen hinter der Krankheit wieder sichtbar zu machen - mit all seinen Erinnerungen und Emotionen.

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