Demenz ist eine fortschreitende Erkrankung, die mit einem Verlust der kognitiven Fähigkeiten einhergeht. Eines der herausforderndsten Symptome ist die sogenannte Weglauftendenz, auch Hinlauftendenz genannt. Sie kann sowohl im häuslichen Umfeld als auch in Pflegeheimen auftreten und stellt eine große Belastung für Betroffene, Angehörige und Pflegepersonal dar. Es ist wichtig zu verstehen, dass das Weglaufen bei Menschen mit Demenz in der Regel keine böswillige Absicht ist, sondern vielmehr Ausdruck von Verwirrung, Angst oder dem Bedürfnis nach Sicherheit und Geborgenheit.
Ursachen der Weglauftendenz
Die Gründe für die Weglauftendenz bei Demenz sind vielfältig und oft individuell verschieden. Es ist wichtig, die möglichen Ursachen zu erkennen, um angemessene Maßnahmen ergreifen zu können. Einige der häufigsten Ursachen sind:
- Orientierungslosigkeit: Menschen mit Demenz haben oft Schwierigkeiten, sich in ihrer Umgebung zurechtzufinden. Sie können sich in vertrauten Umgebungen verirren oder vergessen, wo sie sich befinden. Dies kann dazu führen, dass sie ziellos umherwandern oder versuchen, einen vermeintlich bekannten Ort zu erreichen.
- Erinnerungen an die Vergangenheit: Demenzkranke leben oft im "Damals". Sie können sich an frühere Ereignisse oder Orte erinnern und versuchen, diese wieder aufzusuchen. So kann es vorkommen, dass sie plötzlich "nach Hause zu ihren Eltern" wollen oder "zur Arbeit müssen".
- Unruhe und Angst: Demenz kann zu innerer Unruhe, Angstzuständen und Verwirrung führen. Das Weglaufen kann ein Versuch sein, diesen negativen Gefühlen zu entkommen oder eine vertraute Umgebung zu finden, die Sicherheit vermittelt.
- Langeweile und Einsamkeit: Mangelnde Beschäftigung und soziale Isolation können ebenfalls zu Weglauftendenzen führen. Betroffene suchen dann nach Abwechslung oder Kontakt zu anderen Menschen.
- Unbefriedigte Bedürfnisse: Manchmal ist das Weglaufen ein Ausdruck von unbefriedigten Bedürfnissen wie Hunger, Durst, Harndrang oder Schmerzen.
- Medikamente: In einigen Fällen können auch Medikamente als Nebenwirkung oder entgegen der erwarteten beruhigenden Wirkung zum Gegenteil führen und Bewegungsdrang auslösen.
Risiken der Weglauftendenz
Die Weglauftendenz birgt erhebliche Risiken für die Betroffenen. Da sie oft desorientiert sind, können sie sich in fremder Umgebung verirren und Gefahrensituationen ausgesetzt sein. Zu den größten Risiken gehören:
- Verirren und nicht mehr nach Hause finden: Dies ist besonders gefährlich bei schlechtem Wetter oder in unübersichtlichem Gelände.
- Unfälle im Straßenverkehr: Menschen mit Demenz können die Gefahren des Straßenverkehrs nicht mehr richtig einschätzen und Unfälle verursachen oder selbst Opfer werden.
- Stürze und Verletzungen: Durch die Desorientierung und motorische Einschränkungen besteht ein erhöhtes Risiko für Stürze und Verletzungen.
- Unterkühlung und Erfrierungen: Besonders im Winter können unbemerkte Aufenthalte im Freien zu Unterkühlung und Erfrierungen führen.
- Austrocknung und Unterernährung: Wenn Betroffene längere Zeit unterwegs sind, können sie dehydrieren oder unterernährt sein.
Maßnahmen zur Prävention und zum Umgang mit der Weglauftendenz
Um die Risiken der Weglauftendenz zu minimieren, sind sowohl präventive Maßnahmen als auch ein angemessener Umgang mit dem Verhalten wichtig.
Präventive Maßnahmen
- Sichere Umgebung schaffen: Im Pflegeheim sollten Türen und Fenster gesichert sein, um ein unbemerktes Verlassen zu verhindern. Es ist sinnvoll, die Fenster und Türen möglichst unauffällig zu gestalten, damit die demenzkranke Person dort nicht hingelenkt wird. Auch Verdunkelung kann in diesen Bereichen helfen. Stolperfallen wie lose Teppiche oder Kabel sollten entfernt werden. Eine gute Beleuchtung ist wichtig, um die Orientierung zu erleichtern und Stürze zu vermeiden.
- Routine und Struktur: Eine tägliche Routine mit festen Zeiten für Mahlzeiten, Aktivitäten und Ruhephasen kann Angstzustände verringern und das Verlangen nach dem Weglaufen reduzieren.
- Beschäftigung und soziale Kontakte: Bieten Sie Beschäftigungsmöglichkeiten an, die die Aufmerksamkeit des Demenzkranken auf sich lenken und sie beschäftigen. Regelmäßige soziale Kontakte und Aktivitäten wie Singen, Tanzen oder Spielen können Langeweile und Einsamkeit entgegenwirken.
- Bedürfnisse erkennen und befriedigen: Achten Sie auf die individuellen Bedürfnisse des Demenzkranken und versuchen Sie, diese zu befriedigen. Dazu gehören ausreichend Flüssigkeit, regelmäßige Mahlzeiten, Schmerzbehandlung und Unterstützung bei der Blasen- und Darmentleerung.
- Orientierungshilfen: Helfen Sie dem Demenzkranken, sich in seiner Umgebung zu orientieren. Verwenden Sie große Kalender, Uhren mit deutlicher Anzeige und Fotos von vertrauten Personen und Orten. Beschriften Sie Türen und Räume gut sichtbar.
- Technische Hilfsmittel: Es gibt verschiedene technische Hilfsmittel, die bei der Prävention der Weglauftendenz helfen können. Dazu gehören:
- Weglaufschutzsysteme: Diese Systeme bestehen aus einem Sender, den der Demenzkranke trägt, und einem Empfänger, der einen Alarm auslöst, wenn der Sender einen bestimmten Bereich verlässt.
- GPS-Tracker: Mit einem GPS-Tracker kann der Standort des Demenzkranken jederzeit geortet werden. Es gibt spezielle GPS-Tracker, die als Armband oder Anhänger getragen werden können.
- Tür- und Fensterkontakte: Diese Kontakte lösen einen Alarm aus, wenn eine Tür oder ein Fenster geöffnet wird.
- Information der Umgebung: Informieren Sie Nachbarn, Geschäftsinhaber und andere Personen, dieKontakt mit dem Demenzkranken haben könnten, über seine Erkrankung und die Weglauftendenz. Bitten Sie sie, aufmerksam zu sein und Sie zu informieren, wenn sie den Betroffenen sehen.
- Kleidung: Achten Sie darauf, welche Kleidung der Patient trägt. Falls die Person länger vermisst wird, ist die Kleidung sehr wichtig für die Vermisstenmeldung. Für eine Vermisstenmeldung benötigen Sie auch aktuelle Bilder.
Umgang mit dem Weglaufen
Trotz aller präventiven Maßnahmen kann es vorkommen, dass ein Demenzkranker wegläuft. In diesem Fall ist es wichtig, schnell und überlegt zu handeln:
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- Ruhe bewahren: Auch wenn es schwerfällt, ist es wichtig, Ruhe zu bewahren und nicht in Panik zu geraten.
- Suche starten: Suchen Sie zunächst in der unmittelbaren Umgebung des Pflegeheims, z.B. im Garten, im Park oder in der Nachbarschaft. Fragen Sie Nachbarn und Passanten, ob sie den Demenzkranken gesehen haben.
- Polizei informieren: Wenn die Suche erfolglos bleibt, informieren Sie umgehend die Polizei. Geben Sie eine genaue Beschreibung des Demenzkranken, seiner Kleidung und möglicher Aufenthaltsorte.
- Bekannte Orte aufsuchen: Hilfsreich ist es, eine Liste zu führen, an welchen Orten der Mensch mit Demenz schon gefunden wurde, welche Orte ihm geläufig aus früheren Zeiten sind und die ihn geprägt haben. Er wird vielleicht wieder an diese Orte - vielleicht seine Lieblingsorte - zurückkehren.
- Unterhaltungen führen: Unterhaltungen mit dem verwirrten Menschen lassen oft Rückschlüsse zu, was ihn in der letzten Zeit bewegte, an wen oder was er dachte.
- SOS-Informationen: Der Erkrankte sollte ein SOS-Band / einen SOS-Anhänger / in die Kleidung eingenähte Adressetiketten oder andere Schilder mit seinem Namen und der Telefonnummer der Angehörigen bei sich haben.
- Verständnis zeigen: Wenn der Demenzkranke gefunden wurde, zeigen Sie Verständnis und Geduld. Schimpfen Sie nicht und machen Sie keine Vorwürfe. Versuchen Sie, herauszufinden, warum er weggelaufen ist, und bieten Sie ihm Trost und Sicherheit.
Wohnraumgestaltung für Menschen mit Demenz
Eine demenzgerechte Wohnraumgestaltung kann dazu beitragen, die Orientierung zu erleichtern und die Sicherheit zu erhöhen. Einige wichtige Aspekte sind:
- Übersichtlichkeit und Einfachheit: Vermeiden Sie zu viele Möbel, Dekorationen und Reize. Eine übersichtliche und einfache Einrichtung erleichtert die Orientierung.
- Kontraste: Verwenden Sie starke Kontraste bei Farben und Materialien, um Details hervorzuheben und die Wahrnehmung zu verbessern. Ein Tisch ist zum Beispiel besser erkennbar, wenn der Rand eine kontrastierende Farbe zur Tischfläche hat.
- Helle und freundliche Farben: Helle und freundliche Farben wirken beruhigend und einladend. Vermeiden Sie dunkle Töne, da sie negative Gefühle auslösen können.
- Gute Beleuchtung: Sorgen Sie für eine ausreichende und blendfreie Beleuchtung. Kaltweißes Licht ist für ältere Menschen besser zu sehen als warmweißes. Beim nächtlichen Toilettengang helfen LED-Nachtlichter mit Bewegungsmelder, sich in der Dunkelheit zu orientieren und Stürze zu vermeiden.
- Vertraute Gegenstände: Integrieren Sie vertraute Gegenstände wie Fotos, Möbel oder Erinnerungsstücke in die Einrichtung. Diese können positive Emotionen wecken und die Orientierung erleichtern.
- Vermeidung von Stolperfallen: Entfernen Sie Stolperfallen wie lose Teppiche, Kabel oder Türschwellen.
- Sichere Küche und Bad: Sichern Sie gefährliche Gegenstände wie Messer, Putzmittel oder Medikamente. Installieren Sie Haltegriffe im Bad und verwenden Sie rutschfeste Matten.
- Türen kennzeichnen: Für eine leichte Orientierung sollten Sie Türen mit Schildern kennzeichnen.
Die Rolle des Pflegepersonals
Das Pflegepersonal spielt eine entscheidende Rolle bei der Betreuung von Demenzkranken mit Weglauftendenz. Sie sollten:
- Die individuellen Bedürfnisse und Vorlieben der Bewohner kennen: Dies ermöglicht es, auf ihre Bedürfnisse einzugehen und ihnen ein Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit zu vermitteln.
- Aufmerksam und einfühlsam sein: Das Pflegepersonal sollte aufmerksam auf Anzeichen von Unruhe, Angst oder Verwirrung achten und einfühlsam darauf reagieren.
- Eine vertrauensvolle Beziehung aufbauen: Eine vertrauensvolle Beziehung kann dazu beitragen, dass sich die Bewohner sicher fühlen und sich dem Pflegepersonal anvertrauen.
- Regelmäßige Gespräche führen: Regelmäßige Gespräche mit den Bewohnern können helfen, ihre Bedürfnisse und Wünsche zu erkennen und ihnen das Gefühl zu geben, gehört zu werden.
- Aktivitäten anbieten: Das Pflegepersonal sollte Aktivitäten anbieten, die den Interessen und Fähigkeiten der Bewohner entsprechen und ihnen Freude bereiten.
- Zusammenarbeit mit Angehörigen: Die Zusammenarbeit mit den Angehörigen ist wichtig, um ein umfassendes Bild der Bewohner zu erhalten und die Betreuung optimal zu gestalten.
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