Der Zusammenhang zwischen Mundgesundheit und allgemeiner Gesundheit ist längst kein Geheimnis mehr. Wer jedoch glaubt, der Zahnarztbesuch schütze nur vor Erkrankungen der Zähne und des Zahnfleisches, erfasst nur einen Teil der Möglichkeiten. Der Zahnarzt kann deutlich mehr erkennen. Erkrankungen der Verdauungsorgane zeigen sich beispielsweise an weißen Belägen auf der Zunge. Erste Anzeichen von Osteoporose sind an der Abnahme der Knochensubstanz im Kieferknochen erkennbar. Auch Diabetes wird häufig zuerst beim Zahnarzt durch sich auffällig lockernde Zähne erkannt. In den vergangenen Jahren widmeten sich Forscher vermehrt der Frage nach Zusammenhängen zwischen Zahnfleischerkrankungen wie Parodontitis und systemischen Erkrankungen wie Leukämie, Diabetes, Schuppenflechte, Rheuma. Mit großem Engagement beschäftigten sich Wissenschaftler mit der Frage nach möglichen Zusammenhängen zwischen Alzheimer und Parodontitis. Der Grund für das gestiegene Interesse waren Erkenntnisse eines Forscherteams der Chung Shan Medical Universität in Taiwan. Die Forscher stellten bei älteren Menschen, die an Zahnfleischentzündungen litten, ein um 70 Prozent höheres Alzheimerrisiko fest.
Mehr als 24 Millionen Menschen sind weltweit an Alzheimer erkrankt. Morbus Alzheimer gilt als häufigste Ursache für Demenz. Die Zahl der Alzheimer-Patienten in Deutschland wird auf etwa 700.000 geschätzt. Bis 2050 wird ein Anstieg der Patientenzahl auf über zwei Millionen erwartet. Bisher ist die Alzheimer-Krankheit nicht heilbar und nicht alle Krankheitsmechanismen sind bislang restlos verstanden. So ist zum Beispiel unklar, warum sich im Gehirn von an Alzheimer erkrankten Menschen mehr Spuren von Parodontitis-Bakterien finden als bei kognitiv gesunden Menschen.
Parodontitis: Eine Volkskrankheit mit systemischen Auswirkungen
Die Parodontitis oder Parodontose gilt als Volkskrankheit. Laut Studien leiden rund 50 Prozent der über 35-Jährigen hierzulande unter Parodontitis, einer bakteriellen Entzündung am Zahnhalteapparat und neben Karies die zweite deutsche Volkskrankheit. Insbesondere die häufigste Variante, die chronische Parodontitis, stellt eine dauerhafte Entzündung im Körper dar, die sich systemisch auswirken kann. Durch bakteriellen Zahnbelag entwickelt sich eine Entzündung im Zahnhalteapparat, die unbehandelt zum Verlust der Zähne führt. Die Zahnfleischentzündung verläuft zunächst vom Patienten unbemerkt, da sie keine Schmerzen oder Beschwerden verursacht. Der Zahnarzt kann sie jedoch im Rahmen einer Vorsorgeuntersuchung frühzeitig erkennen. Erste Anzeichen sind Zahnfleischbluten und eine Erhöhung der Empfindlichkeit der Zahnhälse. Der Zahnarzt empfiehlt in diesen Fällen eine Parodontitisbehandlung. Dabei werden die Zahntaschen gründlich gereinigt und entzündetes Gewebe entfernt. Auch wenn die Häufigkeit der Erkrankung im Alter deutlich zunimmt, sind bereits 40-jährige von Parodontitis betroffen.
Parodontitis ist eine chronische, in entzündlichen Schüben verlaufende Erkrankung. Die Ursache sind Bakterien, die das Zahnfleisch durchdringen. Zunächst wird beim Eindringen der Bakterien eine starke Immunabwehr veranlasst. Das hochempfindliche Zahnfleisch beginnt in dieser Zeit bereits durch kleinste mechanische Reizungen zu bluten. Über die Blutbahn gelangen so Keime aus dem Mund in den Organismus, wodurch andere Erkrankungen begünstigt werden. Bekannt sind Fälle, in denen die Zahnfleischentzündung ein unklares Fieber hervorgerufen hat. Erst nachdem die Verbindung zur Infektion in der Mundhöhle erkannt und behandelt wurde, konnte das Fieber abklingen.
Der Zusammenhang zwischen Parodontitis und Alzheimer
Die Alzheimerkrankheit betrifft hauptsächlich ältere Personen. Unter den über 85-jährigen sind mehr als die Hälfte von Alzheimer-Demenz betroffen. Bislang sind die genauen Ursachen nicht geklärt. Bei jüngeren Patienten sind genetische Faktoren und Mutationen erkennbar, bei älteren Patienten stehen vor allem Schadstoffbelastungen sowie familiäre Häufungen im Mittelpunkt der Untersuchungen. Immer öfter werden Entzündungen als Ursache für die Alzheimererkrankung diskutiert. Die Demenzerkrankung Morbus Alzheimer entsteht durch einen Verlust von Gehirnsubstanz beziehungsweise einer Degeneration von Nervenzellen in speziellen Bereichen des Gehirns. In eben diesen Bereichen wurde bei Alzheimer-Patienten und Patientinnen vermehrt das Parodontitis-Bakterium Porphyromonas gingivalis nachgewiesen. Dieser Parodontitis-Keim liegt tief unter dem Zahnfleisch in Zahnfleischtaschen und dringt über den Blutkreislauf in die Gehirnsubstanz ein.
Lesen Sie auch: Fortgeschrittene Demenz: Ein umfassender Überblick
Das Durchdringen der Blut-Hirn-Schranke von Keimen kann zu schweren Beeinträchtigungen führen. Beispiele sind die Neuroborreliose, bei der Borrelien in das Gehirn vordringen oder die Neurosyphilis, bei der Syphiliskeime Veränderungen im Gehirn verursachen. Bei Untersuchungen von Gehirnen verstorbener Alzheimer-Patienten konnten Wissenschaftler in einer Vielzahl der behandelten Fälle einen Keim identifizieren, der mit dem Parodontitis-Keim eng verbunden ist. Ein Forscherteam der University of Illinois at Chicago gelang der Nachweis, dass parodontale Bakterien die Entstehung seniler Plaques in der Hirnsubstanz fördern. Die Plaques gelten als Ursache für Neuropathien, die in Verbindung mit der Alzheimererkrankung auftreten. Insbesondere der sogenannte „Markerkeim“ Porphyromonas gingivalis kann in über 50 Prozent der parodontalen Erkrankungen nachgewiesen werden. Er gilt als Leitkeim für schwere Formen der Parodontitiserkramkung und ist damit für den Verlust von Zähnen verantwortlich. Darüber hinaus wurde der Porphyromonas gingivalis im Gehirn von Alzheimer-Patienten eindeutig nachgewiesen, da er dort sogenannte „toxische Proteasen“ bildet, die die Neurodegeneration fördern.
Forschungsergebnisse und Studien
Experimente an Mäusen konnten die Annahme eines Zusammenhanges zwischen Parodontitis und Alzheimer unterstreichen. Mäuse, die mit einem Parodontitiskeim infiziert wurden, wiesen Veränderungen im Hippocampus auf. In seiner Studie untersuchte das Greifswalder Team die Korrelation von Parodontitis und Alzheimer und stellte einen Zusammenhang fest. Bei Betroffenen, die regelmäßig parodontal behandelt wurden, zeigten sich insgesamt weniger Verluste in Alzheimer-relevanten Arealen des Gehirns. Eine mögliche Erklärung: Durch die regelmäßige professionelle Zahnreinigung (PZR) wird unter anderem die Anzahl der entzündungsfördernden Zytokine reduziert, das Entzündungsgeschehen im Mundraum geht deutlich zurück und systemische Infektionen werden vermieden. Laut der Forschenden könne die Parodontitis-Behandlung Alzheimer vielleicht nicht verhindern, jedoch aber deutlich verzögern.
Wissenschaftler arbeiten intensiv daran, die Ursachen von Demenz und Alzheimer zu ergründen. Als mögliche Auslöser stehen auch Bakterien im Verdacht, die sich im Mund tummeln. 2019 wiesen Wissenschaftler im Gehirn von verstorbenen Alzheimer-Patienten Porphyromonas gingivalis nach - Bakterien, die für chronische Parodontitis verantwortlich sind. Diese aggressive Zahnfleischerkrankung führt oft zum Verlust von Zähnen. Im Gehirn angekommen sondern die Bakterien zudem proteinspaltende Enzyme ab. Die Folge: Es kommt vermehrt zu Entzündungen und Zellschädigungen, die für Alzheimer typisch sind. Bei Mäusen ließ sich dieser Effekt bereits künstlich herbeiführen und beobachten.
Der Fall Atuzaginstat
In Australien forscht man bereits an einem Impfstoff gegen die schädigenden Enzyme des Bakteriums Porphyromonas gingivalis. Erste Versuche an Mäusen waren bereits erfolgreich. Versuche an Menschen sollen bald folgen. Einem anderen Ansatz folgte die Entwicklung von Atuzaginstat (auch COR388 genannt), einem Gingipain-Blocker. Zu Beginn der klinischen Studien (Phase 1) wurde der Wirkstoff Atuzaginstat von gesunden Testpersonen sowie Menschen mit Alzheimer zunächst gut vertragen. In einer Phase-2/3-Studie an Menschen mit leichter bis moderater Alzheimer-Erkrankung verlangsamte die höhere Dosis (80 mg 2x täglich) den kognitiven Abbau um 57% in einer vordefinierten Untergruppe mit Parodontitis-Bakterium-Infektion. Allerdings kam es bei 15 Prozent der Testpersonen unter der hohen Dosis zu einem Anstieg der Leberwerte, was zum Abbruch der Studie durch die US-amerikanische Zulassungsbehörde FDA führte. Die Entwicklung von Atuzaginstat als Alzheimer-Medikament wurde 2022 eingestellt, da die Schädigung der Leber ein Sicherheitsrisiko darstellte.
Mundgesundheit als Teil der Prävention
Viele Menschen haben große Angst, an Alzheimer zu erkranken. Auch wenn bis heute noch nicht umfassend geklärt werden konnte, warum genau die Zahl der Alzheimererkrankungen bei Parodontitispatienten erhöht ist, lohnt sich die Vorsorge. Immer mehr Arbeitgeber erkennen die Parodontitisgefahr für die Gesunderhaltung der Mitarbeiter. Während die Zahngesundheit bisher im Betrieblichen Gesundheitsmanagement (BGM) wenig Beachtung fand, haben die aktuellen Studienergebnisse zu den möglichen Verbindungen zwischen Parodontitis und Alzheimer ein Umdenken bewirkt. Immer mehr engagierte Arbeitgeber organisieren im Rahmen des BGM Mundgesundheitstage, um ihre Mitarbeiter mit Vorträgen, Ausstellungen und Aktionen für die Gefahr parodontaler Erkrankungen zu sensibilisieren.
Lesen Sie auch: Wechselwirkungen zwischen Schmerzmitteln und Demenz
Praktische Tipps für die Mundhygiene
Demente Patienten bedürfen, wie jeder, einer adäquaten Mundpflege mit den bekannten Hilfsmitteln: Zahnbürste, Zahnpasta, Zahnseide oder Alternativen für die Zahnzwischenraumreinigung, Mundspülung, Zungenschaber. Bei der Reinigung in den Zahnzwischenräumen hängt die Wahl tendenziell noch stärker davon ab, womit der Patient am besten zurechtkommt bzw. bei welchem Produkt er die Hilfe eines Angehörigen oder Pflegers am besten annehmen kann. Außer Zahnseide empfehlen sich Interdentalbürsten oder „Zahnhölzchen aus Kunststoff“ (sog. Dental Picks). Einem Minimax-Prinzip folgen Zahnpasta- und Mundspülungs-Konzentrate - wenig einsetzen, viel bewirken. Auch hier kommt es vor allem auf die Akzeptanz durch die Patienten an. Soweit ein Patient noch über die nötige Fitness verfügt, sollte er seine häusliche Mundpflege selbst in die Hand nehmen. Wo das nicht mehr funktioniert (auch nicht unter Anleitung), übernehmen Angehörige und Pfleger. Geduld stellt dabei die entscheidende Voraussetzung dar. Darüber hinaus ist die Mundhygiene zu Hause durch professionelle Maßnahmen eines zahnärztlichen Prophylaxe-Teams zu unterstützen.
Die Rolle der biologischen Zahnheilkunde
Biologische Zahnheilkunde nutzt einen ganzheitlichen Ansatz zur Mundgesundheit und stellt die Verbindung zwischen Mundgesundheit und allgemeiner Gesundheit her. So deutet eine wachsende Zahl von Forschungsarbeiten des National Institute on Aging (NIA) auf einen Zusammenhang hin zwischen Zahnfleischerkrankungen und die Entwicklung der Alzheimer-Krankheit und anderer Formen von Demenz. Die International Academy of Biological Dentistry and Medicine (IABDM) ist ein Netzwerk von Zahnärzten, Ärzten und Gesundheitsexperten, die sich für die Förderung der biologischen Zahnheilkunde einsetzen.
Zahnverlust und Demenzrisiko
Die Zeitschrift Focus titelte: „Es gibt einen überraschenden Risikofaktor für Demenz“, und der Online-Nachrichtendienst des Fernsehsenders RTL meldete dazu: „Schlechte Zähne erhöhen das Demenz-Risiko“. Dazu zitierten beide eine Studie der Universität von Ostfinnland mit der folgenden Aussage: „Mit jedem verlorenen Zahn erhöht sich das Risiko, an Demenz zu erkranken, um 1,1 Prozent.“ Gemäß einer Studie aus Japan mit 1566 Teilnehmern wird es ab weniger als 20 Zähnen gefährlich. Dann steigt das Demenz-Risiko für über 60-Jährige um 60 bis 80 Prozent an. Diese „magische Zahl“ deckt sich interessanterweise mit klassischen Vorgaben für die Wiederherstellung der Kaufunktion.
Prothesen und kognitiver Verfall
Mit einer groß angelegten chinesischen Kohortenstudie mit über 400.000 Probanden, veröffentlicht im Journal of Alzheimer’s Disease, ist es jetzt „amtlich“: Schlechte Mundgesundheit steht mit einem höheren Demenz-Risiko in Verbindung. Darüber hinaus gibt es Zusammenhänge zwischen dem Tragen von Prothesen und Gehirnstrukturen. Bei der UK Biobank handelt es sich um eine große biomedizinische Datenbank mit Sitz in Adswood bei Stockport, Cheshire (England). Sie steht ausgewählten Forschern offen, die sich mit häufigen oder lebensbedrohlichen Krankheiten beschäftigen. Unter anderem kamen die Wissenschaftler zu dem Ergebnis, dass das Tragen von Prothesen mit einem erhöhten Demenz-Risiko assoziiert ist. Sie stellten zudem eine Verbindung zwischen Prothesen und einem schnelleren kognitiven Verfall fest - einschließlich längerer Reaktionszeiten und eines schlechteren Zahlengedächtnisses. Ein interessantes Detail: Zwar gilt das Tragen von Prothesen einerseits als Prädikator für kognitiven Verfall. Andererseits scheint es im Falle fehlender Zähne angeraten zu sein, diese durch eine geeignete Therapie zu ersetzen.
Lesen Sie auch: Ursachen und Behandlung von Zittern bei Demenz