Die Wechselwirkung zwischen Demenz und Trauma ist ein komplexes und oft übersehenes Gebiet, das sowohl für Betroffene als auch für ihre Angehörigen und Pflegekräfte erhebliche Auswirkungen hat. Traumata können im Leben eines Menschen tiefe Spuren hinterlassen und im Alter, insbesondere im Zusammenhang mit Demenz, wieder an die Oberfläche treten. Dieser Artikel beleuchtet den Zusammenhang zwischen Demenz und Trauma, die möglichen Auswirkungen auf ältere Menschen und gibt Hinweise zum Umgang mit traumatisierten Menschen mit Demenz.
Trauma im Alter: Eine unterschätzte Herausforderung
Traumatische Erfahrungen, wie Kriegserlebnisse, Flucht, Vernachlässigung, Missbrauch oder schwere Unfälle, können ein Leben lang unbewältigt bleiben. Bei älteren Menschen, bei denen die kognitiven Fähigkeiten nachlassen, können diese lange verdrängten Traumata wieder an die Oberfläche kommen. Dies kann zu einer Vielzahl von psychischen und psychosozialen Verhaltensauffälligkeiten führen, die oft fälschlicherweise als reine Demenzsymptome interpretiert werden.
Ein Beispiel hierfür ist ein älterer Bewohner eines Pflegeheims, der unter Demenz leidet und plötzlich unruhig wird, um sich schlägt und „Die Russen kommen, die Russen kommen!“ brüllt. In solchen Fällen können traumatische Erinnerungen durch äußere Reize, wie ein vorbeifahrender Lastwagen, ausgelöst werden und zu Panikattacken führen.
Altersbedingte Faktoren, die Trauma-Reaktivierung begünstigen
Im Alter können verschiedene Faktoren dazu beitragen, dass Traumata reaktiviert werden:
- Mehr Zeit für Erinnerungen: Mit dem Wegfall von beruflichen und familiären Verpflichtungen haben ältere Menschen mehr Zeit, sich mit Unbewältigtem auseinanderzusetzen.
- Druck, sich unerledigten Aufgaben zu stellen: Manche Menschen verspüren unbewusst einen Druck, sich noch einer unerledigten Aufgabe stellen zu müssen.
- Kränkende Erfahrungen: Das Abnehmen von Fähigkeiten, Attraktivität und Bedeutung kann für das eigene Selbstbild kränkend sein.
- Eingeschränkter Lebensraum: Der Lebensraum ist zunehmend eingeschränkt.
- Veränderte kognitive Prozesse: Kognitive Prozesse und Funktionen verändern sich, was zu einer Modifikation und Verzerrung der Trauma-bezogenen Erinnerungen führen kann.
- Selektive Erinnerung: Eine selektive Erinnerung wird als Erinnerungsstil bevorzugt, wobei die Lebensphase, in welcher das Trauma geschehen ist, mental „ausgespart“ wird.
- Unzusammenhängende Erinnerungen: Die Erinnerungen an das Trauma werden unzusammenhängender (nachlassendes Gedächtnis).
- Entkopplung von Symptomen und Trauma: Symptome können sich von Trauma-bezogenen Bildern entkoppeln, z.B. bei Albträumen sind Traumata nicht erkennbar.
- Verzerrte Wahrnehmung: Menschen mit Demenz nehmen Reize oft in verzerrter Weise wahr und erleben frühere traumatische Erlebnisse bei unterschiedlichen Reizen so, als wären sie aktuell und sehr bedrohlich.
Symptome und Hinweise auf ein Trauma im Alter
Es ist wichtig, die Symptome und Hinweise auf ein Trauma im Alter zu erkennen, um eine angemessene Behandlung und Unterstützung zu gewährleisten. Zu den möglichen Anzeichen gehören:
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- Psychische und psychosoziale Verhaltensauffälligkeiten: „Komische“ und unverständliche Verhaltensweisen, wie Aufheben, Anhäufen und Sammeln von Essen oder Gegenständen, übermäßiges Sparen im Alltag, fehlende Rücksichtnahme auf sich und den Körper, immer bereit zum Aufbruch zu sein, Schwierigkeit zu trauern, misstrauische Einstellung zur Umwelt.
- Auffällige Komorbidität: Depression, Angst, Somatisierung, Sucht, Dissoziation.
- Unklare therapieresistente Schmerzsyndrome: Anhaltende körperliche Schmerzzustände.
- Misstrauische und feindselige Verhaltensmuster: Bei Persönlichkeitsstörungen.
- Unerklärliche Ängste oder Schreckhaftigkeit: Vor bestimmten Geräuschen, Gegenständen, Situationen, Personen.
- Nicht nachvollziehbares Vermeiden: Von bestimmten Situationen, Räumen und Personen.
- Psychotische Inhalte: Wahnvorstellungen und Halluzinationen, die bei Menschen mit Demenz auftreten, können mögliche PTBS-Symptome sein und sollten hinsichtlich möglicher Bezüge zu den traumatisierenden Ereignissen überprüft werden.
Einige Beispiele für solche Wahnvorstellungen sind: „Wer weiß, wo die mich hin verschleppen“ oder „Die wollen mich an die Luft setzen“.
Die Rolle von Kriegserinnerungen
Gerade die schrecklichen Kriegsbilder und Reportagen lassen keinen unberührt. Auch in den Gesprächen ist dieser Krieg Thema. Noch ist die Pandemie allgegenwärtig mit vielfältigen Einschränkungen. Die zahlreichen psychischen und sozialen Beeinträchtigungen sind noch nicht überwunden. Da kommt die nächste Katastrophe. Ausgelöst durch den Ukraine-Krieg haben diese Begegnungen erheblich zugenommen. Im Pflegealltag erleben Mitarbeitende auch bei Pflegebedürftigen die Rückkehr von Erinnerungen sehr eindrucksvoll. Gerade bei den Menschen, die unter einer Demenz mit zunehmender Tendenz leiden, aber auch bei denjenigen, die Verluste zu verkraften hatten, verdichten sich nicht aufgearbeitete Erlebnisse oft zu sehr schmerzhaften Erinnerungen. Manche Pflegekräfte sind vor einiger Zeit selbst vor Kriegen geflüchtet.
Erste Schritte in der Akutphase
In der akuten Phase einer Trauma-Reaktivierung sind folgende stützende Maßnahmen hilfreich:
- Aufmerksame Beobachtung: Die betroffene Person anschauen, ihre Mimik, Gestik und ihr Verhalten aufmerksam beobachten und auf sich wirken lassen.
- Empathie: Die aktuelle Situation erfassen und die Angst, Panik und Verzweiflung des Betroffenen mit-fühlen.
- Ruhe bewahren: Nicht sofort durch Reden und Handeln unterbrechen und reagieren, sondern sich eigener Angst, Panik und Ohnmacht bewusstwerden; Abstand gewinnen, Ruhe bewahren (mehrmals durchatmen, 21/22 zählen, Augen kurzfristig schließen) und nicht mit beruhigenden oberflächlichen Floskeln (z.B. „Du bist ja nicht im Krieg“, „Das ist doch nicht so schlimm“, „Jetzt trink erst mal “) reagieren.
- Abgrenzung: Eigene Gefühle, zum Beispiel von Hilflosigkeit und Ohnmacht, fühlen und sich von dem Entsetzen abgrenzen und sich nicht anstecken lassen.
- Zuhören: Auf die Schilderung eingehen und beschreiben lassen (Gefühle, damalige Situation u.a.) oder durch einen akut angstreduzierenden Einfall (s. Beispiel) stoppen.
- Geborgenheit vermitteln: Geborgenheitsgefühle und Vertrauen vermitteln, soweit gestattet Hände streicheln, in den Arm nehmen, beruhigende Worte (langsam, freundlich und behutsam) finden, Blickkontakt halten und dies durch Mimik, Gestik und Verhalten verstärken.
- Unterstützung signalisieren: Verbal und nonverbal zeigen und empfinden lassen, dass die betroffene Person nicht allein ist, sondern Unterstützung hat und sie schützt.
- Hilfe suchen: Sich als Angehörige nicht scheuen, um Hilfe zu bitten. Als Pflegekraft Unterstützung holen.
Langfristige Strategien und Unterstützung
Nach der akuten Situation ist es wichtig, langfristige Strategien zu entwickeln, um Trauma-Reaktivierungen zu vermeiden und den Betroffenen bestmöglich zu unterstützen:
- Auslösende Faktoren reduzieren: Überlegen, wie man auslösende Faktoren (z.B. Fernsehsendungen, Zeitungen oder Gespräche mit Kriegsinhalten) verringern kann.
- Umgangsweisen festlegen: Welche Umgangsweisen man in Zukunft bei einer ähnlichen akuten Situation einsetzen könnte. Hilfreich ist, dies mit allen Mitarbeitenden oder Angehörigen zu besprechen und Fachleute einzubeziehen.
- Emotionen ausdrücken: Förderlich kann für Menschen mit Demenz sein, ihre Emotionen durch Malen oder Musik (z.B. bekannte Lieder singen) auszudrücken. Dieser schöpferische Akt kann auch tröstende Wirkung haben.
- Bewegung und Humor: Bewegung (vielleicht auch Tanzen), körperliches Ausagieren, kann das Spüren eigener Kräfte verstärken und zur Verringerung von innerer Unruhe und Spannung führen. Auch humorvolle Angebote können durchaus sinnvoll sein.
- Medikamente: Möglicherweise können Medikamente in unterschiedlicher Dosierung zur Verringerung von Angst, Panik und Schlafstörungen (Albtraum) hilfreich sein.
- Professionelle Hilfe: Rat kann man sich bei Trauma-Ambulanzen, die einen Schwerpunkt in der Gerontopsychiatrie haben, einholen oder als Angehörige eine Selbsthilfegruppe (Alzheimer-Angehörigengruppe) aufsuchen.
- Unterstützung für Angehörige: Angehörige durch fachpflegerische Hilfen zu unterstützen, manchmal auch mit dem Rat, eine Psychiaterin oder einen Psychotherapeuten aufzusuchen, fördert eine adäquate und angstreduzierte Umgangsweise mit den Betroffenen.
- Selbstfürsorge: Wichtig ist, auch an sich selbst zu denken, zum Beispiel Kontakte zu Freundinnen, Freunden und Bekannten weiter zu pflegen, Freizeitaktivitäten und bisherige eigene Aktivitäten nicht zu vernachlässigen und regionale Hilfen anzunehmen, um nicht zu vereinsamen und sich zu isolieren.
Trauma-Therapie im Alter
Ist bei einem akuten Ausbruch einer Reaktivierung eines Traumas die kognitive Störung noch nicht zu weit fortgeschritten, kann eine Trauma-Therapie erfolgsversprechend sein. Das Alter und/oder eine mäßig ausgeprägte kognitive Störung allein sind hierbei keine Kontraindikationen. Hilfreich sind auch die Arbeiten und Hinweise von „Alter und Trauma“ (www.alterundtrauma.de). Insbesondere kann auf die Zusammenstellung von „Traumafolgen im Alter: Fragen von Angehörigen“ hingewiesen werden. Auch der Leitfaden für Pflegende „Der Einfluss von Kriegserinnerungen auf die Praxis" gibt viele Hinweise zum Umgang mit retraumatisierten alten Menschen.
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Die Bedeutung eines erweiterten Pflegekonzepts
Für die Pflege bedarf es eines erweiterten Pflegekonzeptes, welches die psychohistorische Sichtweise in den Alltag integriert und damit vielfältige Formen des herausfordernden Verhaltens verstehbar macht und Möglichkeiten zu einer sensiblen und kreativen Pflege der Betroffenen und seiner Angehörigen aufzeigt. Erfahrungsgemäß verändert sich die Umgangsweise mit einem kranken und pflegebedürftigen Menschen, wenn man erfährt, was er im Krieg oder in der Nachkriegszeit erlebt hat. Das Verständnis für sein Tun und das Interesse, ihn zu stützen und seine Lebensqualität zu fördern, wird größer.
Trauma in der Kindheit und das Risiko für Demenz
Erwiesen ist, dass sich stressreiche und hochbelastende Kindheitserfahrungen mitunter negativ auf die Gesundheit im Erwachsenenalter auswirken. Betroffene erkranken häufiger und leiden etwa unter Depression, Angststörungen, Herzkreislauf- oder Stoffwechselerkrankungen. Ob solche Belastungen in der Kindheit auch das Entstehen neurodegenerativer Erkrankungen fördern können, darüber war bislang wenig bekannt.
Forschende der Charité - Universitätsmedizin Berlin konnten zeigen, dass schwerwiegende Kindheitserfahrungen zu messbaren Anzeichen für eine beschleunigte Hirnalterung führen und neurodegenerative Prozesse im Alter verstärken. Die Studie, in deren Zentrum Frauen stehen, ist im Fachmagazin Annals of Neurology erschienen.
Die Ergebnisse der Studie zeigten einen deutlichen Zusammenhang zwischen frühen psychosozialen oder sozio-emotionalen Stresserfahrungen und verstärkter Hirnalterung bei Frauen. Frühe belastende Lebenserfahrungen scheinen also tatsächlich das Risiko für die Entwicklung neurodegenerativer Erkrankungen zu erhöhen.
Resilienz als Schutzfaktor
Doch nicht jede oder jeder Betroffene wird nach kindlichem Trauma eine Demenz entwickeln. Viele Menschen besitzen ein hohes Maß an Resilienz, also Widerstandskraft, mit der sie schwere Lebenskrisen überstehen, ohne größeren Schaden zu nehmen. Wie Resilienz nach frühen belastenden Erfahrungen in der Kindheit gezielt gefördert werden kann, ist eine wichtige Frage für weiterführende Studien, so die Forschenden.
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Biographiearbeit und traumasensible Kommunikation
Das Thema Biographiearbeit ist mit der Pflege von Menschen mit Demenz untrennbar verknüpft. Jedoch gilt es, dabei bewußt und sensibel vorzugehen, gerade im Hinblick auf mögliche Traumata. Wichtig ist:
- Traumabewusstsein entwickeln
- Traumasensible Kommunikation
- Trigger vermeiden, Schutz bieten
- Ein Trauma vergeht nicht einfach mit der Zeit. Es ruht - und kann Jahrzehnte später, z.B. im Rahmen einer Demenz, wieder aufbrechen. Für Pflegefachleute heißt das: Reagieren, nicht nur behandeln.
Forschungsprojekte zum Thema Schädel-Hirn-Trauma und Alzheimer
Schädel-Hirn-Traumata gehören zu den Faktoren, die das Risiko für eine Alzheimer-Krankheit erhöhen. Nach einem Schädel-Hirn-Trauma findet man alzheimer-typische Ablagerungen des Proteins Tau und abgestorbene Nervenzellen (Neurodegeneration) im Gehirn. Es gibt Hinweise, dass Hirnentzündungen nach Schädel-Hirn-Trauma diese Prozesse beschleunigen. Dr. Dr. Sergio Gastro-Gómez von der Universitätsklinik Bonn konnte kürzlich zeigen, dass das Protein NLRP3-Inflammasom eine entscheidende Rolle bei diesen Hirnentzündungen spielt. Fehlt dieses Protein, reduzieren sich auch die schädlichen Tau-Ablagerungen. In diesem Projekt wird untersucht, in welcher Beziehung das NLRP3-Inflammasom zum Schädel-Hirn-Trauma steht und wie es sich auf die Alzheimer-Krankheit auswirkt.
Dr. Dr. Castro-Gómez untersucht mit seinem Team, ob ein Schädel-Hirn-Trauma den Beginn der neuropathologischen Veränderungen bei der Alzheimer-Krankheit auslösen und/oder beschleunigen könnte. Wenn man die molekularen Mechanismen besser versteht, die den entzündlichen Reaktionen nach einem Schädel-Hirn-Trauma zugrunde liegen, können sich neue therapeutische Strategien ergeben. Die Ergebnisse dieses Forschungsprojektes können die Grundlage für klinische Studien an Patienten*innen legen, die ein Schädel-Hirn-Trauma erlitten haben und ein Risiko für die Entwicklung von Alzheimer haben.
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