Die chronisch inflammatorische demyelinisierende Polyneuropathie (CIDP) ist eine seltene, autoimmunologisch bedingte Erkrankung des peripheren Nervensystems. Diese Übersichtsarbeit bietet einen umfassenden Überblick über die CIDP, einschließlich ihrer Ursachen, Symptome, Diagnose und Behandlungsmöglichkeiten.
Einführung
Das periphere Nervensystem (PNS) umfasst Nerven, die motorische, sensible und autonome Funktionen übernehmen. Die CIDP betrifft diese Nerven und führt zu einer Vielzahl von neurologischen Symptomen. Die Erkrankung tritt bei etwa 4 bis 8 von 100.000 Menschen auf und kann in jedem Alter beginnen, wobei sie gehäuft im 6. und 7. Lebensjahrzehnt auftritt und Männer häufiger betrifft.
Ursachen und Pathophysiologie
Die CIDP gilt als Autoimmunerkrankung, die eher im späteren Erwachsenenalter auftritt. Es wird angenommen, dass eine Kreuzreaktion (molekulare Mimikry) ursächlich für die Entstehung einer Autoimmunerkrankung ist. Auf dem Boden einer Infektion entsteht eine Immunantwort aufgrund von gemeinsamen, kreuzreagierenden Epitopen, die ihrerseits mit Komponenten des peripheren Nervensystems reagieren. Diese können zum Beispiel gegen die Hüllschicht, also das Myelin, gerichtet sein. Es kommt zu einer Schädigung des Myelins, also zu einer sogenannten Demyelinisierung. Höchstwahrscheinlich trägt aber auch eine Vorschädigung der Nerven, durch die bestimmte Epitope freigesetzt werden können, entscheidend dazu bei.
Klinische Präsentation
Die klassische Ausprägung der CIDP betrifft etwa 50 % aller Patienten. Diese Patienten klagen typischerweise über eine sich im Verlaufe von Wochen bis Monaten entwickelnde Schwäche der Beine sowie der Arme, die sowohl körperstammnah (proximal) als auch körperfern (distal) auftritt. Die Fußhebung und das Treppensteigen können erschwert sein. Es können Schwierigkeiten in der Feinmotorik der Hände aber auch bei Überkopfarbeiten auftreten. Darüber hinaus treten sensible Störungen in Form von Taubheitsgefühlen, Kribbelgefühlen oder auch in Form von Gangunsicherheit auf. Selten treten auch Brennschmerzen auf. Bei der klassischen CIDP stehen die motorischen Ausfälle im Vordergrund.
Neben der klassischen Ausprägung kann sich eine CIDP aber auch in „atypischen“ Varianten ausprägen. Im Gegensatz zu der am ehesten altersbedingten idiopathischen Polyneuropathie, die sehr langsam über Jahre fortschreitet, entwickelt sich die Symptomatik bei allen Erscheinungsformen (klassisch und atypische Varianten) jedoch in der Regel rascher, d.h. innerhalb von Wochen und Monaten. Der Verlauf kann sowohl kontinuierlich fortschreitend, aber auch schubförmig sein.
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Symptome im Detail
- Sensibilitätsstörungen: Hypästhesie (oder auch Pelzigkeitsgefühl ohne Taubheit), Parästhesien (Kribbeln, Ameisenlaufen, Brennen, Stechen), Pallhyp- oder Anästhsie, Graph- oder Anästhesie auf Fußrücken (im Verlauf auch der Fingerspitzen), Hyperalgesie (im Verlauf Hyp- oder Analgesie), Thermhyp- oder Anästhesie, gemindertes Spitz-Stumpf Empfinden, beeinträchtigtes Lageempfinden, reduzierte 2-Punkte-Diskrimination.
- Paresen: Meist symmetrische Paresen vorwiegend der kleinen Fußmuskeln, Hackenstand erschwert, auch proximale Muskulatur kann betroffen sein, Atropien der Muskulatur (M. extensor digitorum brevis häufig betroffen), gelegentlich Schwerpunktsneuropathien mit besonderer Affektion einzelner Nerven.
- Gangstörung und Gleichgewicht: Gangunsicherheit, Ataxie, Einbeinstand erschwert (z.B. Sensibilität.
- Weitere Symptome: Pelzigkeitsgefühl, Engegefühl (Manschetten), Gefühl auf Watte zu laufen, Überempfindlichkeit auf Reize (Temperatur, Berührung, Schmerz…), Schwindelgefühl beim Laufen, unsicheres Gangbild, Auftreten verstärkt in Ruhe o. auch nachts, Zunahme der Gangunsicherheit im Dunkeln, Muskelkrämpfe (Crampi) - häufig nachts in Ruhe, Errektionsstörungen, Blasenentleerungsstörungen, orthostatische Dysregulation.
Diagnose
Die Diagnose wird gestellt auf dem Boden der typischen klinischen Präsentation, dem Ausschluss aller anderen in Fragen kommenden Ursachen für eine demyelinisierende Polyneuropathie sowie Nachweis einer Demyelinisierung in der elektrophysiologischen Untersuchung.
Einschlusskriterien
- Typische CIDP und erloschener oder generell abgeschwächter Reflexstatus.
- Atypische CIDP (rein sensibel, MADSAM, DADS, rein motorisch, fokal) sowie abgeschwächte/erloschenen Reflexe in betroffenen Regionen.
Ausschlusskriterien
- Borrelieninfektion, Diphtherie, Drogen (Alkohol) oder Gifte.
- Vererbte Neuropathie (Hereditäre sensomotorische demyelinisierende Neuropathie).
- Im Vordergrund stehende Blasen- und Mastdarmstörungen.
- Diagnose anderweitiger Immunneuropathie.
- IgM monoklonale Gammopathie mit anti-MAG-Antikörpern.
- Andere Gründe für demyelinisierende Polyneuropathie.
Elektrophysiologische Kriterien
Die elektrophysiologische Diagnostik spielt eine zentrale Rolle bei der Diagnosestellung. Folgende Kriterien werden berücksichtigt:
- Um ≥ 50 % verlängerte distal-motorische Latenzen in mindestens zwei Nerven über obere Normgrenze (ULN, upper limit of normal).
- Motorische Leitgeschwindigkeit ≥ 30 % unter untere Normgrenze (LLN, lower limit of normal) in mindestens zwei Nerven.
- ≥ 20 % Verlängerung über ULN der F-Wellen-Latenzen in mindestens zwei Nerven (≥ 50 %, falls distales CMAP < 80 % LLN).
- Abwesenheit von F-Wellen in mindestens zwei Nerven, falls distales CMAP ≥ 20 % und zusätzlich ein demyelinisierender Parameter in einem weiteren Nerven.
- Partieller motorischer Leitungsblock: ≥ 50 % Amplitudenreduktion im CMAP proximal versus distal, falls distaler MAP ≥ 20 % LLN in zwei Nerven oder in einem Nerv und zusätzlich ein demyelinisierender Parameter in einem weiteren Nerven.
- Abnormale zeitliche Dispersion (> 30 % Anstieg der Dauer zwischen proximalem und distalem negativen Ausschlag des CMAP).
- Distale Dauer des CMAP (Muskelsummenpotenzial, negativer Ausschlag, compound muscle action potential) ≥ 9 ms in mindestens einem Nerv und zusätzlich ein demyelinisierender Parameter in einem weiteren Nerven.
Weitere diagnostische Maßnahmen
Unterstützend für die Diagnose ist die Untersuchung des Nervenwassers, die bei 70 - 90 % aller Patienten mit CIDP eine typische Eiweißerhöhung ohne sonstige entzündliche Veränderungen zeigt. Zudem zeigen ca. 50 % aller CIDP-Patienten in der MR-tomographischen Darstellung entzündliche Veränderungen im Nervenplexus bzw. den -wurzeln. Auch in der ultrasonographischen Darstellung können multiple Nervenschwellungen als typischer Hinweis dargestellt werden.
Zusätzlich zu den oben genannten Untersuchungen können folgende diagnostische Maßnahmen durchgeführt werden:
- Anamnese: Erhebung der Krankengeschichte, einschließlich der Art und des Verlaufs der Symptome.
- Neurologische Untersuchung: Differenzierte Sensibilitätsprüfung (inklusive Lageempfinden), Muskelfunktionsprüfung (insbesondere Paresen der Fuß- und Zehenextension, und -flexion, auch Prüfung proximaler Muskelgruppen, Aufstehen aus der Hocke), Inspektion (Muskelatrophien, Muskelumfangsmessung, Fußdeformitäten), Muskeleigenreflexe (Abschwächung?), Autonome Funktionsstörung (Hydrosis, Haut trocken?).
- Laboruntersuchungen: Eventuell Liquordiagnostik, Eventuell 24h Urin (bei V.a. Intoxikation, Porphyrie).
- Weitere Untersuchungen: Evtl. Muskel- und Nervenbiopsie, evozierte Potentiale (abhängig von Lokalisation der Symptomatik, Tibialis- oder Peronaues-SEP, Medianus- oder Ulnaris-SEP), Herzfrequenzvarianzanalyse, sympathischer Hautreflex, quantitativ sensorische Testung (QST) (insbesondere bei Verdacht auf Small-fibre Polyneuropathie).
Differentialdiagnose
Es ist wichtig, die CIDP von anderen Erkrankungen abzugrenzen, die ähnliche Symptome verursachen können. Dazu gehören:
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- Altersbedingte idiopathische Polyneuropathie
- Multifokale motorische Neuropathie (MMN)
- Vaskulitische Neuropathien
- Weitere immunvermittelte Polyneuropathien (z.B. Polyneuropathien aus dem rheumatischen Formenkreis oder chronisch-entzündlichen Darmerkrankungen, Polyneuropathien im Rahmen von monoklonalen Gammopathien unklarer Signifikanz (MGUS), Guillain-Barré-Syndrom)
- Metabolische Ursachen (Diabetes mellitus, Hepatopathie, Urämie, Hypothyreose, Hyperurikämie)
- Alkoholabusus
- Kollagenosen
- Vitamin B12 Mangel
- Paraneoplastische Ursachen
- Critical-illness-PNP
- Hereditäre Polyneuropathien (HMSN)
- Toxische Ursachen (Arsen, Blei, Thallium, Quecksilber)
- Medikamentös-toxische Ursachen (Chemotherapeutika, Cisplatin, Thalidomid, Vinblastin, Vincristin, Nitrofurantoin, Amiodaron, Penicillin…)
- Nutritiv-toxische Ursachen: Alkohol
- Infektiöse Ursachen (Borreliose, CMV, HIV, Hepatitis, FSME, Masern, Mononukleose, Mykoplasmen)
Therapie
Bei der gesicherten CIDP sind wirksame Therapien die immunmodulatorische Therapie mit intravenösen Immunglobulinen (IVIG), Glukokortikosteroiden (GS) und Plasmaaustauschverfahren, die in prospektiven und kontrollierten Studien Ansprechraten von ca. 50 - 75 % aufweisen konnten. Die Wahl der geeigneten Therapie hängt in erster Linie von der Gesamtsituation des Patienten ab. Bei Versagen dieser Therapien kommen auch immunsuppressive Medikamente wie Azathioprin, Methotrexat, Mycophenolat Mofetil, Ciclosporin A in Betracht. Unter Umständen kommen auch therapeutische Antikörper in Frage.
Therapieansätze im Überblick
- Intravenöse Immunglobuline (IVIG): IVIG sind ein wichtiger Bestandteil der Erstlinientherapie der CIDP.
- Glukokortikosteroide (GS): GS sind eine weitere Option für die Erstlinientherapie, insbesondere bei Patienten, bei denen IVIG nicht wirksam sind oder nicht vertragen werden.
- Plasmaaustauschverfahren: Diese Verfahren können eingesetzt werden, um Antikörper und andere Immunfaktoren aus dem Blut zu entfernen.
- Immunsuppressiva: Bei Versagen der Erstlinientherapie können Immunsuppressiva wie Azathioprin, Methotrexat, Mycophenolat Mofetil und Ciclosporin A eingesetzt werden.
- Therapeutische Antikörper: In bestimmten Fällen können therapeutische Antikörper wie Rituximab in Betracht gezogen werden.
CIDP in Assoziation mit anderen Erkrankungen
Neben der klassischen Form kann die CIDP auch in Zusammenhang mit anderen, meist entzündlichen Erkrankungen auftreten. Hierzu zählen neben Infektionen auch chronisch entzündliche Darmerkrankungen, entzündlich rheumatische Erkrankungen, Sarkoidose sowie metabolische Erkrankungen, wie z.B. Diabetes mellitus. Auch eine Assoziation mit malignen Erkrankungen wurde vereinzelt beobachtet. Eine Assoziation mit einer monoklonalen Gammopathie unbestimmter Signifikanz (MGUS) liegt häufiger vor.
Spezielle CIDP-Formen und verwandte Erkrankungen
- Multifokale motorische Neuropathie (MMN): Eine erworbene Erkrankung mit langsamer Progredienz, die asymmetrisch ohne sensible Störungen auftritt. Die Prävalenz liegt bei 1 - 2/100 000, Männer sind häufiger betroffen als Frauen. Die Erkrankung tritt meist zwischen dem 30. - 50. Lebensjahr auf. Zur Diagnosesicherung tragen spezifische elektrophysiologische Befunde und häufig der Nachweis von Gangliosid-GM1-Antikörpern.
- Vaskulitische Neuropathien: Erkrankungen des peripheren Nervensystems (PNS), bei denen es durch entzündliche Veränderungen der Blutgefäße zu einer Nervenschädigung kommt. Man unterscheidet isolierte Vaskulitiden des PNS (nichtsystemische vaskulitische Neuropathien, NSVN) und Neuropathien bei systemischen Vaskulitiden oder Kollagenosen. Vaskulitische Neuropathien können auch infektiös, parainfektiös oder paraneoplastisch auftreten. Eine eindeutige Diagnose gelingt letztlich nur durch eine Nervenbiopsie.
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