DGN-Leitlinie Myasthenie Therapie: Ein umfassender Überblick

Die Myasthenia gravis ist eine Autoimmunerkrankung, die durch eine belastungsabhängige Muskelschwäche gekennzeichnet ist. Die Deutsche Gesellschaft für Neurologie (DGN) hat eine Leitlinie zur Diagnostik und Therapie myasthener Syndrome herausgegeben, um eine optimale Versorgung der Patienten zu gewährleisten. Dieser Artikel fasst die wichtigsten Empfehlungen der Leitlinie zusammen und bietet einen umfassenden Überblick über die aktuellen Therapiestandards.

Grundlagen der Myasthenia Gravis

Myasthenia gravis (MG) bedeutet schwere Muskelschwäche. Ursache der autoimmunen Myasthenia gravis ist ein Verlust von funktionsfähigen nikotinischen Acetylcholin-Rezeptoren an der motorischen Endplatte durch verschiedene Autoantikörper. Die Erkrankung ist durch eine asymmetrische, schmerzlose und belastungsabhängige Schwäche der Skelettmuskulatur gekennzeichnet, die sich typischerweise in Ruhe bessert. Wiederholte Bewegungen führen zu einer raschen muskulären Ermüdbarkeit. Die Schwäche kann im Prinzip alle willkürlich aktivierbaren Muskeln des Körpers betreffen.

Es gibt verschiedene Verlaufsformen der Myasthenie. Man unterscheidet die okuläre von der generalisierten Myasthenie Verlaufsform. Die okuläre Verlaufsform beschränkt sich auf die äußeren Augenmuskeln einschließlich der Lidheber und kann zu Doppelbildern und herabhängenden Augenlidern (Ptosis) führen. Häufig sind diese Beschwerden Initialsymptome, nur bei ca. 20 % der Betroffenen bleiben die Beschwerden auf die Augenmuskeln beschränkt. Innerhalb der ersten zwei Jahre entwickelt sich bei vielen Patienten und Patientinnen eine generalisierte Verlaufsform, die nicht nur die Muskulatur der Extremitäten schwächen kann, sondern auch zu sogenannten bulbären Beschwerden führen kann.

Die Diagnose basiert auf dem anamnestisch und im Untersuchungsbefund erhobenem Bild einer objektivierbaren belastungsabhängigen Muskelschwäche. Die Diagnose wird gesichert durch positive Befunde in der Autoantikörperdiagnostik, Elektrophysiologie und/oder pharmakologischen Testung. Differentialdiagnostisch sind autoimmune myasthene Syndrome von kongenitalen myasthenen Syndromen abzugrenzen, die genetisch bedingt sind.

Therapieziele und Beurteilung des Erkrankungsverlaufs

Ziel der Therapie ist die bestmögliche Krankheitskontrolle unter Wiederherstellung der Lebensqualität der Patientinnen und Patienten. Die Beurteilung des Erkrankungsverlaufs gewinnt zunehmend an Bedeutung für die Therapie. Dabei orientiert sich die Beurteilung neben der Myasthenia Gravis Foundation of America (MGFA)-Klassifikation an der (aktuellen) Erkrankungsschwere, die eine milde/moderate versus eine (hoch-)aktive Erkrankung unterscheidet.

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Akuttherapie der Myasthenen Krise

Entsprechend der 2023 aktualisierten Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Neurologie sollte im Fall einer drohenden und manifesten myasthenen Krise die rasche Aufnahme und Behandlung auf einer Überwachungs- oder Intensivstation mit Erfahrung im Bereich neuromuskuläre Erkrankungen erfolgen. Als myasthene Krise wird eine lebensbedrohliche Exazerbation der MG definiert, die zur Notwendigkeit einer invasiven oder nicht-invasiven Beatmung führt, oft als Folge einer zunehmenden Schwäche der respiratorischen Muskulatur, aber auch durch bulbäre Schwäche bzw. gefährdeten Atemweg. Die myasthene Krise tritt bei Patienten mit MG in bis zu 15-20% auf, üblicherweise in den ersten 2-3 Jahren der Erkrankung. In bis zu 20% der Fälle ist die Krise gleichzeitig die Erstmanifestation der MG. Eine Letalität von 5-10% wurde berichtet.

Ein akuter Beginn ist eher selten, sodass typischerweise ein Behandlungszeitfenster entsteht, in dem man einer manifesten Krise vorbeugen kann. Zu den Warnzeichen gehören progrediente Schluckstörung und eine Abnahme der Vitalkapazität < 1500 ml bei Männern bzw. < 1000 ml bei Frauen.

Notfallmaßnahmen und Intensivmedizinische Betreuung

Die initiale Behandlung umfasst:

  • Mindestens 2 periphere Verweilkatheter (PVK), Prüfung der Indikation zur Anlage eines zentralen Venenkatheters (ZVK).
  • Nicht-invasive Beatmung (NIV) als erste Maßnahme.
  • Notfall-Labor inkl. Elektrolyte.
  • Überprüfung der Vormedikation auf potenziell Myasthenie-verschlechternde Medikamente (Bsp. Antibiotika, Checkpoint-Inhibitoren).
  • Sedierungsmanagement: Bevorzugt Sedativa mit kurzer Halbwertszeit, z.B. Propofol. Vorsicht mit Opiaten / Opioiden.
  • Delirprophylaxe: Herstellung eines Tag-Nacht-Rhythmus (ggf. mit Gabe von Melatonin), physiotherapeutische Maßnahmen, Mobilisierung, regelmäßiger Besuch von Angehörigen, Zurverfügungstellen einer Uhr und Tageszeitungen.
  • ggf. Rachen freihalten, ggf. Anlage pVK-Zugang und Blutentnahme für Notfalllabor (Elektrolyte, v.a. Kalium).
  • initial 1 - 3 mg Pyridostigmin oder 0,5 mg Neostigmin i.v.; 0,25 - 0,5 mg Atropin s. c.
  • Ursachensuche, z.B. Infektionen.
  • Intubation und invasive Beatmung, falls NIV nicht möglich.

Immuntherapie bei Myasthener Exazerbation

In der Behandlung myasthener Exazerbation sind nach den aktuellen DGN-Leitlinien Aphereseverfahren (Plasmapherese (engl. Plasma exchange; PE), Immunadsorption (IA)) und intravenöse Immunglobuline (IVIG) gleich zu sehen. IVIG wird in einer Dosierung von 0,4g/kg Körpergewicht (KG) an fünf aufeinanderfolgenden Tagen verabreicht.

Indikationen für diese Therapien sind:

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  • Myasthene Krise (MGFA V)
  • Schwerste Exazerbation / beginnende myasthene Krise (MGFA IVb)
  • Präoperativ zur Symptomverbesserung/-stabilisierung

Langzeittherapie der Myasthenia Gravis

Patienten mit einer generalisierten Verlaufsform sind zumeist auf eine langjährige Immunsuppression angewiesen.

Symptomatische Therapie mit Cholinesterasehemmern

Seit den 1930er Jahren wird die symptomatische Therapie mit Pyridostigmin durchgeführt. Cholinerge Nebenwirkungen, wie z.B. Bradykardien, Muskelkrämpfe, Magen-/Darmkrämpfe, vermehrtes Schwitzen oder Blasen-/Mastdarmstörungen (Inkontinenz, Diarrhoe), können dosisabhängig auftreten und damit letztlich therapielimitierend sein, wobei es erhebliche interindividuelle Unterschiede bzgl. der maximal tolerierten Dosis gibt. Darüber hinaus können die Symptome einer massiven Überdosierung (cholinerge Krise) mit den Symptomen einer myasthenen Krise verwechselt werden, da beide die Muskelschwäche als führendes Symptom haben. In der Praxis entwickelt sich die cholinerge Krise durch steigenden Gebrauch von Pyridostigmin häufig auf dem Boden einer sich entwickelnden myasthenen Krise, man spricht dann von einer Mischkrise.

Immunsuppressive Therapie

Die Steroidtherapie ist häufig sehr wirksam, so dass sie nach wie vor die Therapie der ersten Wahl darstellt. Sie ist jedoch mit zahlreichen Nebenwirkungen verbunden, sodass im Falle einer weiterhin bestehenden Steroidpflichtigkeit oberhalb der Cushing-Schwelle von 7,5 mg Prednisolon pro Tag eine zusätzliche Immunsuppression in Erwägung gezogen werden sollte. Daher empfiehlt sich, sofern vor der myasthenen Krise noch keine NS-Immunsuppression etabliert wurde und ein akuter schwerwiegender Infekt behandelt bzw. ausgeschlossen wurde, frühzeitig eine Steroid-sparende Immunsuppression zu beginnen.

Thymektomie

Der MGTX-Trial hat belegt, dass die elektive Thymektomie bei AChR-Ak-positiven, generalisierten MG-Patienten, die jünger als 65 Jahre alt sind und deren Erkrankungsdauer kürzer als 5 Jahre ist, fester Bestandteil der immunmodulatorischen Therapie darstellen sollte. Ein Thymom ist ein in der Regel gutartiger Tumor der Thymusdrüse, der sich bei 15 % aller Myasthenie-Patienten findet. Daher muss bei allen Myasthenie-Patienten nach einem Thymom gesucht werden. Ein Thymom muss immer operativ entfernt werden.

Besondere Aspekte

Schwangerschaft und Familienplanung

Frauen mit Myasthenie haben häufig Befürchtungen, dass sie keine gesunden Kinder bekommen können oder eine Schwangerschaft die Myasthenie verschlechtert. Die Myasthenie-Ambulanz der Charité bietet eine interdisziplinäre Zusammenarbeit mit der Klinik für Geburtsmedizin und Neonatologie im Rahmen von Schwangerschaften und Entbindungen an.

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Fahrtüchtigkeit

Grundsätzlich müssen hierbei die Bestimmungen der Fahrerlaubnis-Verordnung beachtet werden, so dass häufig eine fachärztliche Begutachtung der Eignung zum Führen von Fahrzeugen vorgenommen werden muss. Wenn die Myasthenie weitgehend beschwerdefrei eingestellt ist, ist das Führen von Kraftfahrzeugen unter Berücksichtigung der Führerscheinklasse in der Regel möglich.

Myasthenie-Zentren

Aufgrund der Seltenheit der Erkrankung ist insbesondere bei komplizierten Verläufen eine Betreuung in einem spezialisierten Zentrum sinnvoll. Die Myasthenie-Ambulanz der Charité, ein von der Deutschen Myasthenie Gesellschaft (DMG) zertifiziertes interdisziplinäres Myastheniezentrum, bietet eine umfassende Diagnostik und Therapie myasthener Syndrome an.

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